Efeu - Die Kulturrundschau

Minimalistische Zukunftsavantgarde

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25.07.2023. Die SZ jubelt über Lael Naeles Album "Star Eaters Delight", das sie in fremde wunderbare Klangräume versetzt. Die NZZ staunt über Edmund Morris' authentische Porträts indigener Ureinwohner Kanadas und bewundert den intelligenten Umbau eines Basler Weinlagers durch Esch Sintzel Architekten. Der Tagesspiegel stellt erfreut fest, dass das Kino-Publikum Lust auf Neues hat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.07.2023 finden Sie hier

Kunst

Portrait of Chief Night Bird (Nepahpenais), Plains Anishinaabeg, Cowessess Reserve, Saskatchewan. Foto: Royal Ontario Museum.

NZZ-Kritikerin Anke Hagedorn staunt über die Porträts indigener Ureinwohner Kanadas, die der Maler Edmund Morris Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts anfertigte. 1906 begleitet dieser eine Expedition von Landesbeauftragten der Provinz Ontario, die mit den Indigenen über Gebietsabtritte an die Regierung verhandeln sollten:  "Der erste direkte Kontakt mit den Häuptlingen der Stämme der Cree und der Ojibwe war eine prägende Erfahrung für Morris - sowohl für sein künstlerisches Schaffen als auch für seine persönliche Einstellung zu den Ureinwohnern. Auch zuvor hatten Maler bereits Porträts von den Ureinwohnern in Kanada und den USA angefertigt. Viele dieser Bilder entstanden jedoch nach Fotografien oder bei Sitzungen im Studio. Andere Maler wie Paul Kane oder Frederick Arthur Verner hatten zwar die Ureinwohner in den Great Plains besucht, ihre Porträts waren jedoch ganz dem romantischen Ideal des 'noblen Wilden' verpflichtet und zeigten die Häuptlinge in heroischen Posen vor idealisierten Landschaften. Die Porträts hingegen, die Morris auf seiner Reise in die James Bay schuf, zeichnen ein erheblich realistischeres Abbild der Häuptlinge. Wie nah seine Bilder deren tatsächlichem Aussehen kamen, lässt sich anhand der Fotografien überprüfen, die Edmund Morris oder Duncan Scott vor Ort gemacht haben." Zu sehen sind einige der Porträts in einer Ausstellung über indigene Kulturen im Royal Ontario Museum (ROM).

Weitere Artikel: Madleen Harbach empfiehlt im Tagesspiegel eine neue Dokumentation über das Berliner Kunstkollektiv "Rocco und seine Brüder", das mit spektakulären und oft illegalen Aktionen auf Missstände in der Hauptstadt aufmerksam machen will. Die Doku ist hier zu sehen. 

Besprochen werden die Retrospektive "Spontan und Konstruktiv. (Ernst Weil 1919-1981)" im Frankfurter Museum Giersch (FR).

 

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Film

Grund zum Feiern: "Barbie" übertrifft alle Rekorde

Nicht nur einen, sondern gleich zwei Kassenschlager hat die letzte Woche mit "Barbie" (unsere Kritik) und "Oppenheimer" den Kinobetreibern beschert, worüber sich insbesondere auch die hiesigen Häuser freuen können, die im Sommer traditionell in die Röhre schauen. Die Feuilletons sortieren die Lage. Es war "das viertbeste Einspielergebnis eines Startwochenendes aller Zeiten" und der beste Kinostart eines von einer Frau inszenierten Films, informiert Andreas Busche im Tagesspiegel - dem "Barbenheimer"-Hype vorab sei Dank. "Was das nun für die Filmbranche bedeuten könnte? Zumindest die Erkenntnis, dass sich das Kinopublikum nach anderen Filmen sehnt als das ewige Sequel- und Remake-Einerlei. ... Damit ging auch das Konzept auf, dass die beiden Filme sich nicht etwa gegenseitig Konkurrenz machen, sondern sich mit ihren sehr unterschiedlichen Zielgruppen sogar ergänzen." Zwar spielte "Barbie" deutlich mehr ein als "Oppenheimer" - aber beide Filme übertrafen die Erwartungen sichtlich, schreibt David Steinitz in der SZ. Und: "65 Prozent der 'Barbie'-Zuschauer waren weiblich, und auch das ist in Hollywood, wo gern divers getan wird, aber trotzdem immer noch vor allem Männer Filme für Männer drehen, außergewöhnlich: Fast alle Blockbuster werden von jungen männlichen Zuschauern über die magische 100-Millionen-Dollar-Grenze am ersten Wochenende gehoben."

In der SZ gießt Johanna Adorján Wasser in den Wein: Das soll er also sein, der große feministische Film unserer Tage? Ausgerechnet "Barbie"? "Ist es Feminismus, eine langbeinige, stupsnasige Kunststoffpuppe auch mit Pilotenmütze zum Kauf anzubieten, oder ist das nur stinknormaler Kapitalismus? ... Obwohl er etwas anderes behauptet, handelt dieser Film von nichts anderem als: vom Begehren als Kraft, die den Kapitalismus antreibt. ... Erwachsene Menschen, ausgehungert nach Kinofilmen ohne Superhelden, wenigstens das, strömen ins Kino, und bescheren dem ohnehin hochgestimmten Spätkapitalismus einen weiteren Riesenlacher. Was hatte man uns traurigen Konsumenten noch mal versprochen, 'Barbie' sei ein satirischer Blick auf Konsumverhalten, Feminismus und toxische Maskulinität? Herzlichen Glückwunsch an die Marketingabteilung von Mattel."

In der Welt liefert Hannes Stein Hintergründe zum in den USA offenbar sehr erfolgreichen Film "Sound of Freedom", ein Herzensprojekt des fundamentalistisch-katholischen Schauspielers Jim Caviezel, der darin eine von QAnon-Verschwörungsfantasien geprägte Geschichte um Kinderhandel erzählt und dabei auch im rassistischen und antisemitischen Sumpf watet.
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Bühne

In der FAZ berichtet Kerstin Holm von der Aufführung des russischen Propaganda-Musicals "Gang ins Feuer". Verfasst vom Schriftsteller Alexander Prochanow, dem Gründer des nationalistischen Think Tanks Isborsk Klub, "verfolgt die Aufführung vor allem didaktische Ziele und will den Bühnennachwuchs aufs staatspatriotische Gleis lenken. Der militärische Konflikt wird märchenhaft nebulös als globaler Kampf zwischen dunklen und lichten Mächten beschworen - unter Ausblendung der russischen Kriegsschuld und russischer Kriegsverbrechen." Ebenfalls in der FAZ unterhält sich Achim Heidenreich mit dem Direktor der Meininger Museen Phillip Adlung über die glorreiche Vergangenheit der Meininger Theater-und Orchesterkultur und Adlungs Pläne für ein "bedeutendes theaterhistorisches Museum".

Besprochen wird Jay Scheibs Inszenierung von Wagners "Parsifal" bei den Bayreuther Festspielen (SZ).
Archiv: Bühne

Architektur

Aufnahme vom Umbau des einstigen Weinlagers in Basel durch Esch Sintzel Architekten. Foto: Philip Heckhausen, Paola Corsini.

Andreas Herzog begeistert sich in der NZZ für den Umbau eines einstigen Weinlagers in Basel durch Esch Sintzel Architekten. Bewusst entschied man sich gegen einen Neubau, sondern nutzte auf kluge Weise die vorhandenen Strukturen, so Herzog, um hier ein Wohngebäude zu schaffen:"Das Haus ist ein Manifest gegen den Abbruch und für den Bestand. Die starke Struktur ist eigenwillig, etwa wenn ein alter Träger mitten durch den Flur ragt. Doch die Irritationen sind kein Problem, sie sind eine Bereicherung. Die Umbaukultur reibt sich hier ganz bewusst am Bestand. Das erzeugt kreative Energie, die ein Neubau nicht freisetzen würde. Esch Sintzel schaffen den Spagat zwischen brachialer Struktur und gelassener Alltagsarchitektur, die sich nicht aufdrängt. Die Architekten wecken ganz unterschiedliche Assoziationen: Der grüne Metallraster der Fassade ruft den Eingriff der 1970er Jahre ins Gedächtnis, die gedeckte Dachterrasse erinnert an das Deck eines Schiffs."

Passend zum Thema beklagt Welt-Kritiker Dankwart Guratzsch die "Abriss-und Neubauwelle", der Theater-und Operngebäude in Deutschland zum Opfer fallen. Statt historische Bauten zu sanieren, wird für horrende Summen neu gebaut, so Guratzsch: "Ein durch nichts gerechtfertigter Baudünkel...eine ungebrochene Wegwerfmentalität hindern uns daran, die Denkfehler der architektonischen Moderne aufzuarbeiten und zu korrigieren."
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Literatur

Bei der Frage, warum einige einst gefeierte und vielgelesene Autoren nach einer Weile nahezu völlig in Vergessenheit geraten, ist auch weiterhin Levin L. Schückings bereits vor 100 Jahren erschienene Dissertation "Soziologie der literarischen Geschmacksbildung" aufschlussreich, findet Balz Spörri in der NZZ: Nicht etwa allgemeine Moden und der Zeitgeist bestimmten demnach über Wohl und Wehe im literarischen Gedächtnis, sondern inwiefern ein Autor an zentralen Diskursknotenpunkten langfristig Fürsprecher gewinnen kann, denen es gelingt, ausreichend und ausdauernd Gehör und Zustimmung zu finden.

Besprochen werden unter anderem Dana Rangas Gedichtband "Stop - Die Pausen des Sisyphos" (Tsp), Jennette McCurdys Autobiografie "I'm Glad My Mom Died" (taz), Emma Clines "Die Einladung" (SZ) und Victor Hugos von Alexander Pschera herausgegebene Textsammlung "Ozean. Dinge, die ich gesehen habe" (FAZ).
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Stichwörter: Cline, Emma

Musik

Alle Songs auf Lael Naeles Album "Star Eaters Delight" sind "absolut grandios", versichert SZ-Kritiker Joachim Hentschel, der sich beim Hören der acht Stücke "plötzlich in einem fremden, wunderbaren Klangraum wiederfindet, der voll von Schatten, erstaunlichen Lichteffekten, Erinnerungen und steilen Projektionen ist. ... Die elektronischen Beats und seltsam schwirrenden Klangteppiche könnten minimalistische Zukunftsavantgarde sein, ebenso gut Überbleibsel aus einem Post-Punk-Atelier der New Yorker Bowery. Neales sonnenklare und atemberaubende Stimme klingt oft, als würde sie aus einem Grammophon und irgendeiner alten, versunkenen Kulturzeit herausschallen. Im Song 'In Verona' scheint sie eine düstere, feministische Neuverkörperung von Velvet Underground anzuführen."



Katja Schwemmers plauscht für den Tagesspiegel mit Disco-Legende Nile Rodgers, der seit seinem Comeback vor zehn Jahren an der Seite von Daft Punk ein sehr angenehmes Leben führt, wie er erzählt. Aber auch früher war nicht alles schlecht, erinnert er sich: Die Disco-Ära der Siebziger etwa war in Wirklichkeit sogar "noch viel besser" als die Legenden besagen. "Es war eine Zeit in Amerika, die wir vermutlich nie wieder erleben werden, also ich ganz sicher nicht. Die vielen Menschen in den Clubs zu sehen, die nicht viel gemeinsam hatten, aber durch die Musik gleich wurden, weil sie sich darauf einigen konnten, dass sie cool ist - mehr war in dem Moment nicht wichtig. Die politische Einstellung, die Religion oder Herkunft spielten keine Rolle. Wenn die Zeile 'Good times, these are the good times' auf der Tanzfläche zu hören war, war alles gut."



Weitere Artikel: Gerrit Bartels kann im Tagesspiegel-Kommentar kaum glauben, dass Rammstein-Konzerte auch weiterhin ausverkauft sind. Wio Groeger staunt in der taz über die hohe Qualität der holografischen "Abbatare", mit denen sich ABBA in London feiern lassen. Country Music Television hat ein Musikvideo von Jason Aldean aus dem Programm genommen, weil man den Song als Aufruf zum Lynchmob interpretieren könnte, berichtet Andrian Kreye in der SZ. Julian Brimmers porträtiert für ZeitOnline den Rapper Billy Woods.



Besprochen werden ein neues Album von Blur (taz), ein Konzert von Bruce Liu (FR), der Auftakt des Open Airs in Nyon (NZZ) und Jens Balzers Buch "No Limit" über die Popkultur der Neunziger (SZ).
Archiv: Musik