Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.09.2002. In der FR geißelt Peter Sloterdijk die "Weltvolksfront der Demokratien". Die FAZ zeichnet vor der Buchmesse ein Stimmungsbild der Branche. Aus dem selben Anlass befasst sich die NZZ mit dem Literaturland Litauen. Die SZ malt das Bild eines alternden Europas als eines "sympathisch vor sich hinrottenden Auswanderungsgebiets". Die taz plädiert für ein starkes Bundeskulturministerium.

FR, 27.09.2002

Peter Sloterdijk legt einen Scheit nach: In einer langen Stellungnahme bekräftigt er nicht nur die Thesen seines umstrittenen Profil-Interviews (Sloterdijk bezeichnete die USA darin als "rogue state"), sondern setzt noch munter einen drauf. Er geißelt die "Hochkunjunktur des Strategizismus" und die "Weltvolksfront der Demokratien", er lobt das Nein Schröders zu einem Irak-Krieg und spricht von einem "semantischen Bürgerkrieg", in dem sich keiner traut, offen seine Meinung zu sagen. "Die eigentliche Meinung ist also etwas, das heute wesenhaft nur in einem kriechenden Modus ans Tageslicht gelangt, (...) weil das politisch Unbewusste oder Verhohlene zugleich das Unkorrekte, Giftige, Unzulässige ist, das, von taktlosen Direktausbrüchen abgesehen, nur im Modus des Aussickerns und Hervorkriechens aus seiner Verborgenheit treten kann."

Passend dazu warnt uns Marcia Pally in ihrem neuen Flatiron Letter vor Bushs allumfassendem Sicherheitsdenken, das sich nicht auf Massenvernichtungswaffen beschränkt. "Stattdessen wird Amerika nun jedem Land Einhalt gebieten, dass seine Überlegenheit in Frage stellt. Bertelsmann und Holtzbrinck, aufgepasst!"

Weitere Artikel: Ursula März fragt sich anlässlich des gerade in Berlin zu Ende gegangenen Internationalen Literaturfestivals, ob der neuartige Eventcharakter der Literatur gut tut. "Gäbe es heute eine Gruppe 47, sie ginge glatt unter im Dauerbetrieb der Literaturfeste hier und Literaturtreffen dort." Eckhard Henscheid preist Michael Schumacher, das Wahrwort des Monats ausgesprochen zu haben. Ulrich Holbein macht sich Gedanken zur Konjunktur der Hitlervergleiche, und Times mager verabschiedet die Kollegin Jutta Stössinger, "Impulsgeberin" der Transit-Seite der FR. Christof Bodenbach besichtigt eine Behindertenwerkstatt des Architektenteams Schneider + Schumacher in Mülheim an der Ruhr. Christian Schlüter war auf der "Internationalen Messe für Gegenwartskunst", dem Art Forum in Berlin.

Besprochen werden diverse Ausstellungen junger Künstler in Berlin, eine Schau mit Bildern skandinavischer Malerinnen des späten 19. Jahrhunderts, die glatte Inszenierung der Oper "Akhnaton" von Philip Glass in Strasbourg, und Wilhelm Furtwänglers zweite Symphonie, eingespielt vom Chicago Symphony Orchestra unter Daniel Barenboim.

FAZ, 27.09.2002

Einige interessante Hintergrundartikel können wir heute im Feuilleton der FAZ lesen.

Hannes Hintermeier zeichnet vor der Frankfurter Buchmesse ein Stimmungsbild der Branche. Der neue Chef der Messe, Volker Neumann, der von Bertelsmann kommt, wird keine leichte Aufgabe haben, meint er: "Neumann kennt die Branche wie wenige andere, aber was immer er ausbrütet, es wird ihm ein Spagat gelingen müssen: mehr Event, mehr Publikum, mehr Aufmerksamkeit für die Ware Buch bei gleichzeitigem Rückgang der Aussteller, knappen Kassen und unveränderter Kleinteiligkeit des Gewerbes. Erste Maßnahmen - die Fortführung der Länderschwerpunkte, die sein Vorgänger zum Auslaufmodell erklärt hatte - sind eingeleitet, mit Russland rollt nächstes Jahr ein gewaltiges Programm an." Sympathisch an Neumann ist auch, dass er sich über den skandalösen Wucher der Hoteltarife während der Messe zumindest beklagt.

Ulf von Rauchhaupt erzählt die Geschichte von Jan Hendrik Schön, eines deutschen Shooting Stars der Physik, der vor kurzem noch mit 32 Jahren für die Leitung eines Max-Planck-Instituts vorgesehen war und nun von seinem Arbeitgeber gefeuert wurde, weil seine Forschungsergebnisse leider Gottes durch die Bank gefälscht waren: "Dass der Betrug weder Schöns Kollegen in den zum angeschlagenen Lucent-Konzern gehörenden Bell Laboratories noch den Gutachtern der Fachzeitschriften aufgefallen war, macht den Fall Schön für die beteiligten Institutionen zum Desaster."

Weitere Artikel: Dietmar Polaczek setzt seine genaue Beobachtung des Berlusconi-Regimes fort und berichtet heute über ein zunächst unauffälliges Gesetz, das es Berlusconi erlaubt, missliebige hohe Beamte willkürlich auszutauschen -erstes Opfer ist Paola Carucci, die renommierte Leiterin des staatlichen Zentralarchivs. Ilona Lehnart spekuliert über das Amt des Kulturstaatsministeriums - Julian Nida-Rümelin scheint keinen besonders direkten Draht zum Kanzler zu haben, manche würden ihn gern beerben und die Kompetenzen des Amtes ausweiten. Florian Illies verabschiedet den Neuen Markt, den die Börse, nachdem die Kleinanleger ausgenommen sind, nun nicht mehr braucht. Susanne Klingenstein schreibt zum Tod von William Phillips, Gründungsredakteur der einst so renommierten Partisan Review. Eberhard Rathgeb berichtet von einer Hamburger Lesung Ian McEwans aus seinem vielgefeierten Roman "Abbitte". In der Leitglosse verweist Paul Ingendaay auf einen Essay Jonathan Franzens über William Gaddis im New Yorker (der leider nicht online gestellt ist).

Auf der letzten Seite studiert Michael Gassmann schon mal das neue Tarifsystem der Deutschen Bahn, dass nach seiner Einführung im nächsten Jahr für erheblichen Aufruhr sorgen dürfte. Zhou Derong schreibt ein kleines Porträt des Multimillionärs Yang Bin, der seinen Reichtum möglicherweise auch erwarb, indem er die Partei am Erfolg beteiligte. Und Wolfgang Sandner stellt Pamela Rosenberg, die Intendantin der Oper von San Francisco, vor. Auf der Medienseite erklärt uns Josef Oehrlein die Rolle des Fernsehens im brasilianischen Wahlkampf. Und Michael Hanfeld macht uns mit den Unwägbarkeiten der Intendantenwahl beim Hessischen Rundfunk bekannt.

Besprochen werden die große Anselm-Feuerbach-Ausstellung (Bild) in Speyer, der Film "Kleine Missgeschicke" von Annette K. Olesen, ein Konzert von Goran Bregovic (der für seine Filmmusiken für Emir Kusturica bekannt wurde) in Frankfurt und ein Auftritt Mikhail Barischnikows und seines Ensembles bei der Ruhrtriennale.

TAZ, 27.09.2002

Rob Garza vom kanadischen DJ-und Produzentenduo "The Thievery Corporation" (hier mehr) spricht von seiner Vergangenheit als Terrorismusbekämpfer, über jamaikanische Bässe und seine Zufluchtsorte. "Ich bevorzuge Kneipen in Brasilien oder in Mexiko. Dreckige Bars, in denen man sich besaufen kann und lachen kann, wo man in der heißen Nacht noch draußen sitzt. Das ist meine heile Welt."

Auf der Tagesthemen-Seite schreibt Klaus Helge-Donath aus dem georgischen Pankisital, wo sich angeblich nicht nur international gesuchte Al-Qaida-Kämpfer sammeln, sondern auch Drogen, Menschen und Waffen umgeschlagen werden. "Bisher wagt es niemand auszusprechen: Angst geht um im Tal, die Rebellen könnten zurückkehren und einen Ausbruchsversuch gegen die schwächere georgische Armee unternehmen."

Weitere Artikel im Feuilleton: Dirk Knipphals plädiert für ein Bundeskulturministerium, Oliver Ruf stellt die Europäische Kunstakademie in Trier vor, und Cristina Nord erfährt aus der neuen Ausgabe der Schweizer Zeitschrift Du, warum sich eigentlich alle Kritiker auf das spanische Regiephänomen Pedro Almodovar einigen können.

Besprechungen widmen sich drei Büchern zur Geschichte des Internets sowie dem neuen Album von Suede (mehr hier).

Und schließlich TOM.

NZZ, 27.09.2002

Aus Anlass der Frankfurter Buchmesse gibt Martin Pollack einen kleinen historischen Rückblick Litauen - den diesjährigen Themenschwerpunkt Litauen - und besonders auf das Jahrhunderte währende spannungsgeladene Verhältnis zum Nachbarn Polen. Wenn auch nach wie vor der Mythos der litauischen Hauptstadt Wilna erhalten ist - "eine Herkunft aus Wilna, wo sich die verschiedensten Kulturen, Religionen und Sprachen - Litauisch, Polnisch, Russisch, Jiddisch, Weissrussisch und Deutsch - begegneten oder auch zu verdrängen suchten, gilt in Polen noch heute als Auszeichnung, die alte Wilnaer mit Stolz tragen wie einen funkelnden Orden", haben sich doch die Spannungen erst nach dem Ende der Sowjetunion gelegt: "Seither hat sich das Klima etwas verbessert, nicht zuletzt dank den Bemühungen verantwortungsbewusster Intellektueller wie Tomas Venclova, der nicht müde wird, gegen die Hysterie der Erinnerung anzuschreiben, die von Nationalisten beider Seiten gern geschürt wird."

Marc Zitzmann ist angetan von der "überragenden Gesamtschau über das Leben und Werk" der Architekten und Brüder Perret, die in Le Havre gezeigt wird. Und in der Rubrik Film ist Alfred Zimmerlin begeistert von Georges Gachots Film "Martha Argerich - Conversation nocturne" über ein Nachtgespräch mit der Ausnahmepianistin: "Eine einmalige Chance, ein Glücksfall also, dass man so das erste - und vielleicht letzte - Interview mit Argerich sehen kann".

Berichtet wird außerdem, dass sich die Kinothek Asta Nielsen in Frankfurt der feministischen Filmhistorie widmet. Alexandra Stäheli hat die Dreharbeiten von Anna Luifs "Little Girl Blue" begleitet - ein Forschungsprojekt des digitalen Kinos. Laut einer Kritikerumfrage der Zeitschrift Opernwelt steht die Oper des Jahres in Stuttgart. In der Kategorie Regisseur des Jahres wurde das Regieteam Jossi Wieler und Sergio Morabito am häufigsten genannt wurde, wie es heißt.

Besprochen werden zudem die Ausstellung der Wandbildmalerei von Katharina Grosse und Franz Ackermann im Münchner Lenbachhaus, eine Aufführung von Verdis "Don Carlo" von Patrice Caurier und Moshe Leiser im Genfer Grand Theâtre, sowie der Film "Kleine Missgeschicke - Sm ulykker" von Annette Olesen.

Buchbesprechungen gibt es unter anderen zu politischen Büchern von August H. Leugers-Scherzberg, Samantha Power, Wolfgang Ismayr und Uwe Wesel (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).



SZ, 27.09.2002

Patrick Illinger erzählt vom tiefen Fall des deutschen Physikers Jan Hendrik Schön. Der Spezialist für Nanotechnik, vermeintliches Genie und Anwärter auf den Nobelpreis soll systematisch Forschungsergebnisse gefälscht haben. Die mit dem Fall beauftragte Untersuchungskommission fordert nun mehr Kontrollen, schreibt Illinger, um "die Verlässlichkeit wissenschaftlicher Ergebnisse auch in einer Forschungskultur zu erhalten, in der Geld, Ansehen, Börsenkurse und die Zahl von Publikationen mitunter mehr zählen als der wissenschaftliche Gehalt".

Im letzten Teil der Reihe zur Überalterung der Gesellschaft malt sich Gustav Seibt die wirtschaftlichen Folgen aus und fragt: "Wird Europa eine riesige Ex-DDR werden, die von einer mächtigeren westlichen Wirtschaft mühelos mitversorgt werden kann, ein bestenfalls sympathisch vor sich hinrottendes Auswanderungs- und Abwicklungsgebiet mit den Reizen der Stille, der Langsamkeit, der verlassenen Landstriche, der historischen Sentimentalität?"

Weitere Artikel: Bernd Graff verrät, dass Microsoft bei seiner Spiele-Konsole "X-Box" jetzt voll auf Gewalt setzt. Andreas Grabner weiß, warum der Buddhismus im Westen so angesagt ist: Weil die Religion Richard Geres "gerade in Zeiten von Wirtschaftskrisen, Massenarbeitslosigkeit und drohenden Kriegen zu taugen scheint, um durchs Leben zu kommen". Susan Vahabzadeh meldet, dass dem iranischen Regisseur Abbas Kiarostami (mehr hier und hier, hier ein Interview) die Einreise in die USA verweigert wurde. Fritz Göttler annonciert das Wahlkampf-Tagebuch Sylviane Agacinskis - der Frau von Lionel Jospin - und gratuliert noch gleich dem Filmemacher Arthur Penn (mehr hier) zum Achtzigsten. Werner Burkhardt berichtet von einem unverkrampften Musikfest in Hamburg, Holger Liebs schreibt von der Eröffnung des Art Forums in Berlin. Von den Berliner Festwochen meldet sich Klaus Dermutz, wo der "politischste Regisseur des arabischen Theaters", Fadhel Jaïbi, gleich mehrere Produktionen vorstellt. Nicole Immler war auf einer Tagung von Vertretern der "Postcolonial Studies" in Wien zugegen. Gustav Seibt verabschiedet schließlich das "Rechsthistorische Journal", "die beste, witzigste wissenschaftliche Zeitschrift in deutscher Sprache", und begrüsst - noch etwas skeptisch - den Nachfolger "Rechtsgeschichte".

Besprechungen widmen sich einer Ausstellung über das Kulturleben im Ghetto von Wilna im Jüdischen Museum Frankfurt, einer Schau des Gesamtwerks der Industrie-Architekten Schupp und Kremmer in Essen, einer Retrospektive des Werks von E. W. Nay in der Münchner Hypo-Kunsthalle, einem Auftritt des Rosamunde Quartetts ebenfalls in München, und natürlich Büchern, etwa Martin Pollacks Rekonstruktion des Halsmann Prozesses von 1928 oder Verena Bönings Anti-Raucher-Bildband "Kippen" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).