9punkt - Die Debattenrundschau

Hauptsache, die eigene Weste bleibt sauber

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.05.2022. AP recherchiert zur russischen Bombardierung des Theaters von Mariupol im März und schätzt die  Zahl der Toten auf 600, weit mehr als bisher angenommen. Herta Müller, Karl Schlögel, Ralf Fücks und viele andere setzen dem Emma-Brief einen Aufruf zur Solidarität entgegen.  Der Tagesspiegel gräbt ein Helmut-Schmidt-Interview von 2014 aus: Wieder einmal stellt sich heraus, dass die Ukraine gar nicht existiert. Da hat Schmidt Verständnis für Putin. Für die Zeit reist Navid Kermani in die Ukraine. In der SZ schreibt Dan Diner über die komplexen russisch-ukrainisch-jüdischen Verhältnisse.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.05.2022 finden Sie hier

Europa

Die AP-Journalisten Lori Hinnant, Mstyslav Chernov und Vasilisa Stepanenk legen eine große, beeindruckend aufgemachte Recherche zur Zahl der Toten im Theater von Mariupol vor. Das Theater diente der Stadt bekanntlich als einer der wichtigsten Schutzräume und war am 16. März von den Russen offenbar gezielt bombardiert worden. Die ukrainischen Behörden gingen bisher von 300 Toten aus: "AP-Journalisten kamen durch die Rekonstruktion eines 3D-Modells des Gebäudegrundrisses, das wiederholt von direkten Zeugen, die vor Ort waren, überprüft wurde, zu einer weit höheren Zahl. Sie beschreiben detailliert, so sich die Menschen aufhielten. Alle Zeugen geben an, dass sich mindestens hundert Menschen in einer Feldküche direkt vor dem Gebäude befanden, von denen keiner überlebte. Sie sagen auch, dass die Räume und Flure im Inneren des Gebäudes überfüllt waren, mit etwa einer Person pro drei Quadratmetern freiem Raum. Viele Überlebende schätzen, dass sich zum Zeitpunkt des Luftangriffs etwa tausend Menschen innerhalb des Gebäudes befanden." Einige konnten nach der Bombardierung fliehen - die Journalisten schätzen die Zahl der Toten auf 600.

Eine Gruppe von Intellektuellen stellt dem Emma-Brief bei Change.org nun einen Aufruf zur Solidarität mit der Ukraine entgegen: "Die Sache der Ukraine ist auch unsere Sache!" Initiiert wurde der Aufruf von Ralf Fücks. Zu den Erstunterzeichnern gehören Herta Müller und Karl Schlögel. "Es gibt gute Gründe, eine direkte militärische Konfrontation mit Russland zu vermeiden. Das kann und darf aber nicht bedeuten, dass die Verteidigung der Unabhängigkeit und Freiheit der Ukraine nicht unsere Sache sei. Sie ist auch ein Prüfstein, wie ernst es uns mit dem deutschen 'Nie wieder' ist. Die deutsche Geschichte gebietet alle Anstrengungen, erneute Vertreibungs- und Vernichtungskriege zu verhindern."

Derweil schämt sich eine der Mit-Unterzeichnerinnen des Emma-Briefs, die Schriftstellerin Katja Lange-Müller heute in der SZ für ihre Unterschrift. Sie stehe zwar weiterhin dazu, dass sie Angst habe, aber vor allem die Passage, in der die Ukraine "quasi zur Kapitulation" aufgefordert werde, quält ihr Gewissen: "'Wir', die Absender, geben uns da als die moralisch Überlegenen, die Vernünftigen, die Friedliebenden, diejenigen, die sich, mehr noch als unser ja tatsächlich sehr besonnener Bundeskanzler, um uns alle sorgen. Soll der moralische Furor nur die Angst bemänteln, unsere so begründete wie vielleicht auch selbstsüchtige Angst? Und was wären denn dann die anderen, die zweite Hälfte der deutschen Bevölkerung? Keine Friedensfreunde? Oder gar Putin-Provokateure? Nein, weder 'wir' noch ich kann mir anmaßen, zu wissen, was uns schützt und hilft und verhindert, dass wir immer tiefer in diesen Krieg hineingeraten, denn da ich nicht mehr weiß als jeder andere Mensch, der die Nachrichten verfolgt, weiß ich auch nichts besser."

Plötzlich gibt es einen neuen Initiator des Emma-Briefs, Peter Weibel vom ZKM Karlsruhe. Er erklärt im Standard, dass er Alice Schwarzer erst auf die Idee zum Aufruf gebracht habe. In einem E-Mail-Interview mit Stephan Hilpold  kritisiert er vor allem auch die ukrainische Führung: "Als 1968 eine halbe Million Soldaten der Sowjetunion, Polens, Ungarns und Bulgariens in die Tschechoslowakei einmarschierte, rief Präsident Dubček dazu auf, auf gewaltsamen Widerstand zu verzichten, da dieser von vornherein aussichtslos sei. Er hat also nicht sein Volk geopfert. Die fünf Millionen oder mehr Menschen, welche die Ukraine verlassen, fliehen nicht allein vor dem Krieg, sondern sie fliehen auch aus der korrupten Ukraine."

Die Ukraine schuldet Putin schon um der zu vermeidenden ukrainischen Opfer willen die Kapitulation, findet auch der Strafrechtler Reinhard Merkel, ein weiterer Unterzeichner des Emma-Briefs im Gespräch mit Patrick Bahners und Andreas Kilb von der FAZ: "Die ukrainische Regierung ist in einer Verantwortung für diese Menschen und deshalb zuständig für deren Wohl und Weh. Selbstverständlich ist der Primärzuständige hier der schurkische Aggressor. Mitzuständig wird eine verantwortliche Regierung aber, wenn sie entscheidet: Der verheerende Vorgang der Aggression wird verlängert durch unseren Widerstand."

In der NZZ knöpft sich Thomas Ribi indes noch einmal den Habermas-Text vor, den er in seine Einzelteile zerlegt. Vor allem jene Passage, in der Habermas die Zeitenwende als "Eskapade einer jungen Generation" abtut, "die unbelastet von eigener Kriegserfahrung auf die Bedrohung in erster Linie emotional reagiere und damit empfänglich werde für das 'moralisierende Drängen der zum Sieg entschlossenen ukrainischen Führung'", ärgert ihn: "Das klingt nicht mehr gelassen, sondern gereizt. Aus der perfiden Formulierung spricht die Verärgerung eines Altlinken über eine ukrainische Regierung, der er vorwirft, einer jungen Generation politisch unzuverlässiger Deutscher den Kopf zu verdrehen und den während Jahrzehnten gültigen linksliberalen Konsens zu stören. Entscheidend ist anscheinend nicht die Zukunft der Ukraine, sondern dass sich die deutsche Innenpolitik in den gewohnten Bahnen bewegen kann. Hauptsache, die eigene Weste bleibt sauber."

Die SPD wird sich bedanken - und manche Unterzeichnerin des Emma-Briefs frohlocken: Malte Lehming hat im Tagesspiegel (hinter Paywall) ein Interview ausgegraben, das Helmut Schmidt der Zeit im Jahr 2014 nach der Annexion der Krim gab. Putins Vorgehen nannte er "verständlich": "Gleich zu Beginn sagt Schmidt, die Ukraine sei 'kein Nationalstaat', zwischen Historikern sei umstritten, 'ob es überhaupt eine ukrainische Nation gibt'. Die Annexion der Krim sei zwar ein Bruch des Völkerrechts, aber nur 'gegenüber einem Staat, der vorübergehend durch die Revolution auf dem Maidan in Kiew nicht existierte und nicht funktionstüchtig gewesen' sei. (…) Halte er die Sanktionen für sinnvoll? 'Ich halte diese Sanktionen für dummes Zeug.' - Sollten sich Deutschland und Europa von russischer Energie unabhängiger machen? 'Das kann dabei herauskommen. Klug ist es nicht.' - Was treibt Putin an? 'Es ist kein Größenwahn. Wenn Sie sich an die Stelle von Putin denken, dann würden Sie wahrscheinlich ähnlich in Sachen Krim reagieren, wie er reagiert hat.'"

"Wir prostituierten uns als Nation", sagte der Labour-Politiker Chris Bryant in einem BBC-Film über den Einfluss der Oligarchen in Großbritannien (hier der Link). In Deutschland ist noch nicht ansatzweise eine Aufarbeitung der eigenen Verantwortung für die Stärkung des Putinismus zu konstatieren, schon gar nicht von selbstkritischen Politikern. Wahrscheinlich ist die deutsch-russische Symbiose wirtschaftlich gesehen noch viel inniger als die Liebe der Briten zum Geld der Oligarchen. Bei der Aufarbeitung mögen auch ein paar eher grobe Klötze wie Matthew Karnitschnigs unterhaltsame Liste der "12 Germans who got played by Putin" in politico.eu helfen. Neben den üblichen Verdächtigen wie Angela Merkel, Gerhard Schröder und Frank-Walter Steinmeier nennt Karnitschnig Joe Kaeser, Wolfgang Reitzle, die Münchner Sicherheitskonferenz, den Ost-Ausschuss, Matthias Platzeck, Georg Restle, Friedrich Merz, Jürgen Habermas, Manuela Schwesig.

In Frankreich kommt nächste Woche der Film "Tranchées" (Schützengräben) des Dokumentarfilmers Loup Bureau in die Kinos, der über Jahre ukrainische Soldaten in Schützengräben im Donbass porträtierte. "Wenn du überleben willst, grabe", sagt einer der Soldaten. Hier der Trailer:



Robert Habeck erweist sich in der Krise als ein Politiker, der das Talent hat, klar zu sprechen. Im Gespräch mit Jana Hensel und Martin Machowecz von der Zeit begründet er, warum er sich nicht von Putins Drohungen, sondern vom Recht leiten lässt: "Wenn man nicht aufpasst, betreibt man das Geschäft von Putin - indem man die Grenzen dessen, was Recht und was Unrecht ist, verwischt. Wenn jemand ein Recht hat, muss das etwas bedeuten in unserer Welt. Angst ist der falsche Ratgeber. Bedachtsamkeit, Konzentration: Das ist wichtig."

Navid Kermani schickt der Zeit einen langen Bericht von seiner Reise in die Ukraine. Er besucht Butscha und spricht mit einigen Intellektuellen (und natürlich Priestern). Unter anderem trifft er den Philosophen Ihor Koslowski, den er nach der Nähe zwischen Russland und der Ukraine fragt: "Nähe sei relativ, antwortete Koslowski: Je näher man trete, desto mehr Unterschiede fielen einem auf... Jetzt sei eben die Zeit, sich des Eigenen bewusst zu werden, die Zeit der Unterscheidung und Abgrenzung. Immer mehr Menschen begönnen, im Alltag Ukrainisch zu sprechen statt Russisch, und selbst die Russisch-Orthodoxe Kirche in der Ukraine schließe den Moskauer Patriarchen nach über tausend Jahren nicht mehr ins Gebet ein... Wladimir Putin habe die Ukraine auslöschen wollen; stattdessen habe er, überspitzt gesagt, die Ukraine erst erschaffen. Kein anderes Ereignis habe so sehr zur Nationsbildung beigetragen wie dieser Krieg."

Die Türkei liegt in Nachbarschaft sowohl zu Syrien als auch zur Ukraine. Die offizielle Zahl der syrischen Flüchtlinge in der Türkei liegt bei vier Millionen, so FAZ-Kolumnist Bülent Mumay. Durch illegal Eingewanderte, auch aus Iran und Afghanistan, erhöht sie sich auf zehn Millionen bei 82 Millionen Bürgern. "Zu den Eingewanderten kommen nun Menschen aus Russland und der Ukraine hinzu. Der Bedarf an Wohnraum ist nicht mehr zu decken. Auf den Websites der Makler finden sich mittlerweile hauptsächlich Anzeigen auf Arabisch und Russisch. Daran lässt sich ablesen, wie es um die Nachfrage bestellt ist. Die Nachfrage stieg extrem, der Bestand an Wohnraum aber blieb stabil, sodass die Mieten durch die Decke gingen."

Außerdem: Auch Angela Merkel wird sich mit ihrer Rolle in der deutschen Russland-Politik noch auseinandersetzen müssen, sagt der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert im Gespräch mit Sabine am Orde und Stefan Reinecke von der taz: "Angela Merkel war weit über die Parteipräferenzen hinaus so etwas wie die Personalisierung eines Zeitgeistes, zu dem auch das Festhalten an Errungenschaften und die Vermeidung unnötiger Auseinandersetzungen gehörte." Ebenfalls in der taz fordert der Politologe und SPD-Politiker Ulrich Bausch einen Deal mit Putin. Seit Schweden offenbar kurz davor steht, der Nato beizutreten, tauchen in Moskau Plakate auf, die Schweden wie Astrid Lindgren, Ingmar Bergman oder Ikea-Gründer Ingvar Kamprad als Nazis oder Nazi-Ikonen diffamieren, meldet Kai Strittmatter in der SZ: "Die Plakate wurden gedruckt von der Organisation 'Unser Sieg', hinter der Beobachter Kreml-Propagandisten vermuten."
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Politik

Im Aufmacher des SZ-Feuilletons skizziert Susan Vahabzadeh, was das Kippen der Abtreibungsgesetze für Frauen in den USA bedeuten würde: "Eine Frist von 15 Wochen wie in Mississippi ist nicht das, was amerikanische Frauen fürchten, sondern Staatsgesetze, die Abbrüche nur noch bei Lebensgefahr für die Mutter zulassen. Nicht aber nach einer Vergewaltigung. In manchen Bundesstaaten sind sind solche Gesetze längst in der Schublade. Sie werden gelten, sobald Roe versus Wade außer Kraft gesetzt wurde. In mehr als der Hälfte der Staaten würden dem Sender NBC zufolge restriktive Gesetzgebungen in Kraft treten oder neu erlassen werden, und für die Frauen, die in den USA einen Abbruch vornehmen lassen - die meisten von ihnen haben bereits ein Kind und stecken in finanziellen Schwierigkeiten -, wäre eine Reise in einen Staat, in denen ihnen geholfen würde, undenkbar.
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Geschichte

In einem komplexen Text in der SZ erzählt der Historiker Dan Diner nicht nur die Gewaltgeschichte der Ukraine - vor allem aus jüdischer Sicht -, sondern er erläutert auch, wie unter Putin der Sieg der Sowjetunion über Hitler-Deutschland zunehmend als ausschließlich russisches Ereignis betrachtet wurde. Im Wesentlichen versucht Diner aufzuzeigen, wie der aktuelle Krieg die "emblematisch-negativen jüdischen Gedächtnisbilder über die Ukraine" verändert: "Für die Ukraine kommt dem gegenwärtigen Krieg die Bedeutung eines Gründungsereignisses zu. Es weist sich verengende Konturen eines Kulturkampfes auf - etwa durch die zunehmende Verweigerung, sich der russischen Sprache zu bedienen, deren universale, kosmopolitische Bedeutung zurücktritt. (…) Solche Tendenzen konfrontieren auch und gerade das jüdische Gedächtnis mit nicht unerheblichen Dilemmata. Zwar war eine in der Vergangenheit beständig gewesene kollektiv-jüdische Affinität zu Russland durch die kommunistische Erfahrung erheblich gemindert worden. Gleichzeitig entsprang dem sowjetischen Sieg über Hitler-Deutschland ein durchaus positiver Bezug, was wiederum dazu führte, dass beide Bilderwelten wie unverbunden nebeneinander zu stehen kamen. Eine solche Ambivalenz weist das jüdisch-ukrainische Verhältnis hingegen nicht auf. Es gilt als eindeutig historisch belastet."

Außerdem: "Die Osteuropa-Forschung hat die Ukraine viel zu lange vernachlässigt" schreibt Thomas Thiel in der FAZ, der auch eine "ungleiche Aufarbeitung der Totalitarismen" kritisiert.

Der Historikerstreit 2.0 ist nicht vorbei. Der Historiker Andreas Wirsching setzt sich in der Zeit mit drei Positionen auseinander, die den Holocaust aus unterschiedlichen Motiven nivellieren wollen, zum einen die Position des Globalhistorikers Wolfgang Reinhard, der auf seltsame Art konservative Positionen mit postkolonialer Rhetorik mischt (unser Resümee), dann eine Position, die à la Hedwig Richter eine "normale" deutsche Fortschrittsgeschichte erzählen will und schließlich die postkoloniale Position, die den Holocaust in eine lange Kette von Kolonialverbrechen einreiht: "Leicht kann die postkoloniale Globalperspektive dazu missbraucht werden, die deutschen Verbrechen unter der NS-Herrschaft in ein universalistisches Entlastungsnarrativ einzuordnen. In einer solchen Erzählung wird der Holocaust zu einer Gewalttat, die grundsätzlich jederzeit und überall hätte passieren können. Erneut würde man bei einer Entkoppelung von deutscher Geschichte und Holocaust landen."

Jeanne Terwen-de Loos - Dress of maps, 1945 - 1946. Gift of P.A. Terwen, Leiden and J.W. Terwen, Nieuwegein


Etwas enttäuscht ist FAZ-Kritiker Hubert Spiegel von der Ausstellung im Amsterdamer Rijksmuseum, die den indonesischen Unabhängigkeitskrieg gegen die Niederlande beleuchten will: "Historische und politische Zusammenhänge erschließen sich so oft nur in geringem Maße" und über 350 Jahre niederländischer Kolonialherrschaft erfährt man ebenso wenig wie über die Bedeutung der indonesische Revolution für andere Unabhängigkeitsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg. "Aber man wird in dieser Ausstellung auch entschädigt: Viele der etwa zweihundert ausgestellten Objekte sind zugänglich, beredsam, fesselnd. Zwischen martialischen Propagandaplakaten, Fotos des mit einer Indonesierin verheirateten Henri Cartier-Bresson und dokumentarischen Filmaufnahmen von Sukarnos Triumphzügen sticht ein Kleidungsstück auf einer Schneiderpuppe besonders heraus: Es ist ein seidener Hausmantel für eine Dame, zusammengefügt aus den Landkarten von Siam, China, Indien, Burma und 'French Indo China'. Es handelt sich tatsächlich um Landkarten, denn die englische Luftwaffe ließ solche 'escape maps' auf Seide oder Rayon drucken und gab sie ihren Piloten als Orientierungshilfe für den Fall eines Absturzes mit."
Archiv: Geschichte