Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.12.2003. In der SZ hält Joachim Kaiser eine strenge Weihnachtspredigt: Demnach weichen Oper und Schauspiel den Zumutungen der Kunst zunehmend aus - statt dessen herrscht das "penetrant Sexuelle". Die taz sinnt über das Verhältnis von Mensch und Tier nach. Die NZZ stellt anhand von Ausgrabungen fest: Es gab schon einmal ein friedliches Zusammenleben in Israel. Die FR empfiehlt katholische Weihnachtsgottesdienste - die Show ist einfach besser. Die FAZ hat drei Heilige: den Papst, Bundespräsident Rau und Harald Schmidt.

SZ, 24.12.2003

Gar nicht friedfertig, sondern mit "Spenglers Untergangs-Skepsis" blickt Joachim Kaiser auf "alarmierende Tendenzen" im Bereich der Schönen Künste. Er muss nämlich feststellen, "dass der verbindliche Form-und Seriositäts-Anspruch großer künstlerischer Klassik für Macher und Produzenten kaum mehr gilt": "Nicht nur unsere Schauspiel-und Opern-Regisseure weichen den Forderungen des Traditionell-Fernen, Ästhetisch-Strengen so gern aus, weil sie dergleichen nicht mehr als entscheidende Dimension empfinden. Statt dessen suchen sie Gegenwartsbezogenheit. Und, zumal im Schauspiel, die Energie des Skandalösen, des Penetrant-Sexuellen, Exhibitionistischen."

Weiteres: Holger Liebs sucht wort- und assoziationsreich nach den Wärmepolen außerhalb der familiären Banden. Auf dem Golden Horse Festival in Taipeh hat Gabriele Meierding erfahren, dass die Götter Taiwans Filmindustrie im Moment nicht recht gewogen sind. Volker Breidecker stellt das neue, Pionierarbeit leistende Museum der Okkupation in Tallinn vor. Gerhard Bläske weiß zu berichten, dass "Good Bye, Lenin!" in Paris so "eingeschlagen" hat wie kein deutscher Film mehr seit "Christiane F.". Jörg Häntzschel gratuliert Richard Artschwager, dem "Tischler der Täuschungen", zum Achtzigsten. Und wer sich zum Fest die Familie abgewöhnen will, dem empfiehlt die Redaktion hier einige Filmklassiker.

Besprochen werden Dai Sijies, von H.G. Pflaum als "sanft subversiver, behutsam poetischer, streckenweise auch entwaffnend komischer" beschworener Film "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin", die Ausstellung "World Watchers" in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin, die sich den Verschwörungstheorien in der Kunst verschrieben hat, Barry Koskys Inszenierung von Monteverdis "Poppea" am Wiener Schauspielhaus, das Action-Fest "Shanghai Knights" mit Jackie Chan und Owen Wilson und Bücher, darunter zwei neue Bände der Frieda-Grafe-Werkausgabe , Gilbert Keith Chestertons "laute, witzige, eindeutige" Schriften über Thomas von Aquin und Franz von Assisi und Gedichte von Christian Morgenstern als Hörbuch (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 24.12.2003

"Die Tiere rücken näher". Ein fünfseitiges Dossier widmet die taz zu den Feiertagen dem Verhältnis von Mensch und Tier. Dirk Knipphals und Ulrike Winkelmann halten fest: "Im Wochentakt warten die Naturwissenschaften mittlerweile mit Nachrichten aus dem Tierreich auf, deren Botschaften sich auch immer so verstehen lässt: So anders bist du nicht, Mensch! Erst waren es nur die Menschenaffen und Delfine, die auch als klug galten; mittlerweile müssen wir damit leben, dass auch Tintenfische und Krähen enorm lernfähig sind. Um die Intelligenz eines Ameisenstaates zu begreifen, zergrübeln die hellsten Köpfe der Menschen ganze Forscherleben. Und auch das feministische Gemüt kann sich nicht der Beobachtung verschließen, dass das menschliche Sexualverhalten nur eine Variation in einem etwa von Guppies, Bonoboäffchen oder Wirrkopf-Antilopen aufgestellten Möglichkeitsfeld darstellt."

Michael Rutschky betrachtet das friedvolle Miteinander der Kreaturen: "Einer Seekuh oder einem Schimpansen freundlich übers Fell zu streichen, danach verlangt eine ganz eigentümliche Sehnsucht, die Kinder richtig beuteln kann. Man erkennt den Paradiesmythos am Werk: Wenn Mensch und Tier einander friedlich, gar freundlich berühren können, dann ist alles, alles gut, dann herrscht der ewige Frieden. Auch ungleiche Haustiere stimulieren diese Paradiesvorstellung: Wer einen Hund und eine Katze in sehr jungem Alter erwirbt, wird sie sich in Spiele verwickeln sehen, denen der Mensch stundenlang entzückt zuschauen kann."

In weiteren Texten zum Thema untersucht Philipp Gessler, wie wir eigentlich darauf kommen, Ochs und Esel in den Stall zu stellen, obwohl die Evangelisten davon nichts berichten. Wolfgang Löhr räumt mit einigen Irttümern auf, zum Beispiel mit der legendären Intelligenz der Delfine. Cord Riechelmann bespricht aktuelle Bücher zum Thema. Und Anna Lehmann guckt Tierfilme.

Im Feuilleton erzählt Wladimir Kaminer (mehr hier) eine Weihnachtsgeschichte von seinem Vater als Geschäftmann, der einen Tannenbaumweihnachtstopf erfand. Besprochen werden Peyton Reeds Film "Down with love", der mit Hingabe einen typischen 60er-Jahre-Film nachstellt, wie Barbara Schweizerhof meint, eine Ausstellung mit Porträt von Patti Smith in München.

Und hier Bescherung bei TOM.

NZZ, 24.12.2003

Thomas Veser stellt uns im "Schauplatz Israel" die Stadt Akko vor. "Als jüngste Welterbestätte liefert Akkos Zentrum, in dem sich zwei übereinander angelegte Städte ausmachen lassen, ein gutes Beispiel für die ökonomische und kulturelle Symbiose zwischen Ost und West. Jahrhundertelang lebten in Akko, das die Kreuzritter den Arabern 1191 abgenommen hatten und Akkon oder Saint-Jean d'Acre nannten, Angehörige verschiedener Konfessionen weitgehend spannungsfrei zusammen. Zu Juden, Christen und Arabern gesellten sich im 19. Jahrhundert Anhänger der Bahai-Religionsgemeinschaft. Deren Bauwerke und acht Moscheen, vier Kirchen sowie eine Synagoge, die nun als Thoraschule dient, erinnern an diese friedliche Koexistenz, von der man heute im Nahen Osten nur träumen kann." Die Aufnahme in die Unesco-Welterbeliste wirft allerdings einige Probleme für die heutige Neustadt auf: unter jedem geplanten Parkplatz oder Jachthafen findet sich archäologisch Wertvolles.

Besprochen werden eine Ausstellung der Zeichnungen des Renaissancearchitekten Vincenzo Scamozzi im Museo Palladio von Vicenza, Peyton Reeds bonbonbunte Geschlechterkriegskomödie "Down with Love" mit Renee Zellweger und Ewan McGregor und Bücher, darunter der zweite Band des "Historischen Lexikons der Schweiz" (Band 1 siehe hier) und Uta Titz' Roman "Stella Runaway" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 24.12.2003

"Das Warten aufs Christkind ist Sache des Frontalhirns", behauptet der Hirnforscher Detlef Linke (mehr) in einem Interview über Plätzchen, Stress, schöne Lieder und den wahren Ort der Weihnachtsgefühle. "Ein Jogger genießt es, seine Opiate hervorzurufen. Beim Glücksspieler ist es Dopamin, bei Verliebten Oxytocin oder Testosteron, und Weihnachten geht es - unter anderem - um Serotonin. Wobei die soziale Realität eine wichtige Rolle spielt. In Norwegen, wo es ja um die Weihnachtszeit dunkel ist, werden Kinder am zweithäufigsten im September geboren, also in den Weihnachtstagen gezeugt."

Auf der Debattenseite beklagt Gerhard Beckmann das Fehlen eines großen Literaturpreises in Deutschland, der die Leute zum Lesen animiert wie etwa der Premio Strega in Italien, in Frankreich der Prix Goncourt, in Großbritannien der Man Booker Prize und in den Vereinigten Staaten die National Book Awards oder der Pulitzer. "Worin besteht das Geheimnis ihres Erfolges? Sie machen Bücher zu einem öffentlichen Ereignis und inszenieren um sie herum ein Fest, von dem ein beachtlicher Teil der Bevölkerung sich anstecken lässt und an dem viele teilhaben wollen und können - durch Lesen. Die Preisverleiher halten sich an die Maxime, dass man dem Volk geben muss, was das Volk will: panem et circenses, hier also: libros et circences. Dieser Aspekt tritt besonders eindrücklich bei den Engländern mit ihrer notorischen Wettleidenschaft zu Tage. Da werden auf den Man Booker Prize natürlich Wetten abgeschlossen. Die Nominierungen, der Auswahlprozess der Jury und die Preisverleihung werden zum wochenlangen, mit Spannung beobachteten Spektakel und Vergnügen. Andere Länder, andere Sitten. Der deutsche Kulturbetrieb versteht sich eher als heiliger Bezirk, der gegen die Vulgarismen des plebs die Schotten dicht machen zu müssen glaubt."



FR, 24.12.2003

Warum glauben die Bayern an das Christkind, die Berliner aber an den Weihnachtsmann? Ist Weihnachten das Fest der Schuldgefühle? Teilt sich da die Menschheit in zwei Klassen? In die Eltern und Kinderlosen? Das Feuilleton druckt eine Diskussion ab, in der sich die Redaktion mit eben all diesen Fragen beschäftigt hat. Auch über den Unterschied von katholischen und evangelischen Kirchen: "Am ersten Weihnachten, das wir in Frankfurt verbracht haben, sind wir zunächst in einen evangelischen Gottesdienst gegangen. Das war so grauenvoll, in unserem Stadtteil. Erstens ganz leer und zweitens hat dieser Pastor die Geburt von Christus in einen Hinterhof verlegt, weil er meinte, das erhöhe die Anschaulichkeit. Als wir uns an den Händen fassen sollten, sind wir geflohen. Dann sind wir in die St. Leonhardskirche, die älteste katholische Kirche in Frankfurt, gegangen. Es war dort rappelvoll und es war ein sehr feierliches Spektakel."

Besprochen werden eine Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen, die Christusdarstellungen aus 150 Jahren Fotografiegeschichte zeigt, Peyton Reeds Komödie im Stil von Rock Hudson und Doris Day "Down with Love" und eine Schau von Patti-Smith-Porträts im Haus der Kunst in München.

In der Beilage FR Plus ist zu lesen, warum Weihnachten so viel beliebter ist als Ostern, warum es im Prenzlauer Berg so viele Kinder gibt und wie sich das Kapital mal von der guten Seite zeigt.

FAZ, 24.12.2003

Die FAZ weist pünktlich zu Weihnachten eine Tendenz zum Besinnlichen auf.

Mark Siemons meditiert im Aufmacher noch einmal über die Interventionen des Papstes (der neben Harald Schmidt zu den bedeutendsten moralischen Autoritäten dieser Zeitung zählt) gegen den Irak-Krieg. Dirk Schümer schildert den offensichtlich schon voraufgezeichneten ZDF-Weihnachtsabend in der Soester Kirche Sankt Maria mit Bundespräsident Rau und Carolin Reiber. Dieter Bartetzko freut sich, dass die Kuppel der Dresdner Frauenkirche (Bild) wiederhergestellt ist. dp schildert im Kommentar die schwierige Lage der Menschen in Nordbrasilien, die ihre Hoffnungen allein aus Futebol, Telenovelas und Jesus Christus (in dieser Reihenfolge) beziehen. Andreas Rossmann betrachtet zwei nach der Wende wiedergefundene Reliquienkreuze, die jetzt, frisch restauriert, im Kölner Diözesanmuseum ausgestellt sind. Hans-Dieter Seidel gratuliert Hanna Schygulla zum Sechzigsten. Jürgen Kaube gratuliert dem Literaturwissenschaftler Rene Girard zum Achtzigsten. Wolfgang Schieder gratuliert dem Historiker Moshe Zimmermann zum Sechzigsten. Andreas Rossmann meldet, dass das Belgische Haus in Köln als deutsch-belgische Begegnungsstätte wieder eröffnet wird.

Auf der letzten Seite erzählt Thomas Speckmann die Geschichte eines U-Boot-Kommandanten, der 1945 50 Flüchtlinge rettete ("Ostpreußen steht in Flammen. Auf der Halbinsel Hela an der Danziger Bucht drängen sich Zehntausende Menschen auf der Flucht vor der anstürmenden Roten Armee. Panik, Entsetzen, Todesangst zeichnen die Gesichter." Und der Käptn nimmt ein paar davon an Bord.) Andreas Platthaus kommt auf neue, natürlich von den Engländern lancierte Forschungen zu sprechen, die Johanna von Orleans als Propagandatrick der französischen Könige dekuvrieren. Und Michael Gassmann porträtiert den Passauer Organisten Ludwig Ruckdeschel.

Auf der Medienseite meldet Stefan Niggemeier, dass Anke Engelke als Nachfolgerin Harald Schmidts ab Frühjahr die Late-Night-Show bei Sat 1 übernimmt ("Ihr Vertrag läuft über drei Jahre. Er soll mit insgesamt rund vierzig Millionen Euro dotiert sein.") Gisa Funck schildert die filmischen Höhepunkte des RTL-Weihnachtsprogramms - Titel wie "Sudden Death" und "Bulletproof" verheißen friedliche Stunden. Jürg Altwegg zitiert überdies den Schweizer Philosophen Hans Saner, der eine Brutalisierung der Fernsehberichterstattung kritisierte.

Besprochen werden Eine Frankfurter Konzert der Liedermacher Dirk Darmstaedter und Bernd Begemann, "Down with Love", das Remake eine Rock-Hudson-Doris-Day-Films mit Ian McGregor und Renee Zellweger, eine kleine, aber mit kostbaren Leihgaben bestückte Ausstellung, welche sich der häuslichen Sphäre bei Rubens und seiner Frau Isabella widmet, in der Alten Pinakothek.