Im Kino

Realitätsfiktionen

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Sebastian Markt
08.06.2016. Zwei Filme des Festivals "Unknown Pleasures #8": Frederic Wisemans "In Jackson Heights" ist keine bebilderte Sozialtheorie, sondern ein Nachdenken über Gesellschaft mit filmischen Mitteln. Patrick Wang gelingt mit seinem Indiedrama "The Grief of Others" ein großer Wurf.


Jackson Heights ist ein Viertel im New Yorker Stadtteil Queens. Ungefähr 130.000 Menschen leben dort. Mit seiner sich schon seit Generationen immer wieder überschreibenden Geschichte von Migration ist es, das werden wir im Film mehrfach zu hören bekommen, eines der kulturell diversesten der Vereinigten Staaten. "In Jackson Heights" wird der Film für 190 Minuten verweilen. Er streift durch die Straßen, blickt auf Häuserfassaden und Geschäftsauslagen, entziffert Straßenschilder, lauscht den Geräuschen, beschreibt Arbeitsvorgänge und die Räume in denen sie vollzogen werden, beobachtet das Geschehen auf Straßen und Plätzen, nimmt an Versammlungen teil und fängt Diskussionen ein, Debatten, Verhandlungen und Streit, hört dramatischen Erzählungen ebenso zu wie beiläufigen Alltagsplaudereien, wohnt religiösen Zeremonien bei, Demonstrationen, Feiern und Paraden und fängt, zumeist auf der Straße, in wiederkehrenden Kaskaden von Großaufnahmen eine Unzahl von - meist stummen - Porträts von Anwohner*innen und Besucher*innen ein. Ein großes Mosaik aus den Dingen, Orten, Gesichtern, Wörtern der Stadt; zu allererist, auf einer unmittelbaren Ebene ist der Film - der kaleidoskopisch anmutende Bilder- und Töne-Reigen, den er aufführt - als eine Eloge auf das großstädtische Leben lesbar.

Frederick Wisemans Kino, das mittlerweile an die vierzig dokumentarische Werke und einen Zeitraum von einem halben Jahrhundert umfasst, wird gerne als der epische Versuch interpretiert, Institutionen zu vermessen, in denen sich die (zumeist) US-amerikanische Gesellschaft offenbart. Neben Filmen über staatliche und gesellschaftliche Institutionen im engeren und einem weiteren Sinne, über Polizei und Militär, Schule, Krankenhaus und Wohlfahrtsamt, Bundesstaatsparlament und Universität, Opernhaus, Theater, Ballett und Museum, Boxclub, Modelagentur, Warenhaus und Pferderennbann finden sich darunter auch Filme, die sich zunächst gar nicht auf den Begriff einer Institution bringen zu lassen scheinen: Zwei Filme über den staatlichen Umgang mit häuslicher Gewalt etwa, oder die beiden "Kleinstadtsymphonien" (Volker Pantenburg) "Aspen" und "Belfast, Maine", die ganze Städte portraitieren.

Wiseman beschreibt den institutionellen Rahmen seiner Filme als Fokus und Beschränkung einer Beobachtung: "Meine Filme handeln von Institutionen. Ich definiere das als einen Ort, der seit einiger Zeit existiert und der feste geographische Grenzen hat. Die Institution dient dem selben Zweck wie die Linien und das Netz auf einem Tennisplatz, d.h. sie schafft Beschränkungen. Was auch immer innerhalb dieser Begrenzungen stadtfindet, ist Kandidat dafür, in den Film aufgenommen zu werden. Im Fall von 'In Jackson Heights' habe ich vor allem zwischen der 72sten und der 92sten Straße gedreht, sowie zwischen Roosevelt Avenue und Northern Boulevard."



Worauf sich Wisemans Blick in dieser Fokussierung und Rahmung vor allem richtet, sind Begegnungen, die innerhalb dieser Orte stattfinden, die Verhältnisse, in die Menschen dort zueinander gesetzt werden, und die Beziehungen, die sie stiften. Im Falle von "In Jackson Heights" bleiben Privaträume weitgehend ausgespart, und freundschaftliche Begegnungen wie Strickrunden oder eine Café-Plauderstunde im Community Center sind von Interesse, insofern sie an öffentlichen Orten stattfinden. Gleichzeitig entfaltet sich das Panorama, das Wiseman aufnimmt, vorwiegend im Off der staatlichen Apparate, sieht man von dem Stadtratsabgeordneten Daniel Drumm ab, der prominenteste aus einer kleinen Handvoll weniger wiederkehrender Protagonist*innen, in einem sich ansonsten immer weiter ausdehnenden Kreis von Bewohner*innen. Doch auch Drumm bzw. sein Team erscheint weniger als Exponent einer staatlichen Verwaltung, sondern als Aktivist, Anlaufstelle für Sorgen und Wünsche, Moderator mitunter konfligierender Anliegen, bisweilen auch als liebenswertes Maskottchen oder Wahrzeichen des Viertels. Von queeren Aktivist*innen, Community Organizern, Selbsthilfegruppen von Migrant*innen mit und ohne legalem Aufenthaltsstatus, Geburtstagsfeiern für lokale Bekanntheiten, bis zu einem christlichen Stadtverschönerungstrupp ist die häufigste Form der Begegnung eine, in der, oft im mikrogesellschaftlichen Rahmen, nichts weniger verhandelt wird, als wie wir Leben wollen.

"Realitätsfiktionen" ist der Begriff, auf den der Regisseur seine Arbeiten selbst gerne bringt. Darin steckt nicht nur eine Absage an einen vermeintlichen (hauptsächlich von Außen herangetragenen) naiv-indexikalischen Wahrheitsanspruches des direct cinema. Der Begriff lässt sich in Verbindung bringen mit Wisemans spezifischer Arbeitsmethode: Weitgehend ohne Vorrecherche verbringt er meist wenige Drehwochen am jeweiligen Ort, und dann ungefähr ein Jahr im Schneideraum, setzt die Einstellungen zu Szenen und die Szenen zu einer Erzählung zusammen. Damit kann man die Montage als Fiktion verstehen, insofern sie einzelne Momente zu Situationen, Orte zu Räumen zusammenfügt, zu erzählerischen wie sozialen, und beides zueinander in Bezug setzt.

Das beginnt hier, wie auch schon in "Belfast, Maine", bei der Erzählstruktur, die die Wochen der Drehzeit zu aufeinanderfolgenden - im Falle von "In Jackson Heights" drei - Tagen verdichtet, die so nicht stattgefunden haben, aber vom Rhythmus eines Ortes und seiner Zusammenhänge erzählen. Innerhalb dieser fiktiven, weil filmisch hergestellten Räume kann etwas erscheinen, das sich, weil es in Verhältnissen begründet ist, einer unmittelbaren Sichtbarkeit entzieht. Wisemans Räume sind damit stets politische, ihr Zusammenhang keine bebilderte Sozialtheorie, sondern ein Nachdenken über Sozialität mit filmischen Mitteln.

Zwischen Protesten gegen homophobe Gewalt, dem Versuch Kleingewerbebetreibende gegen drohende Delogierungen als Gentrifizierungsfolge zu verteidigen, indiviuelle wie kollektive Möglichkeiten im transamerikanischen Migrationsregime auszuloten, oder auch einem herzzereissend komischen Gespräch über Einsamkeit im Alter erzählt "In Jackson Heights" davon, was es bedeuten mag, einen eigenen Ort zu schaffen, ihn mit anderen zu gestalten und gegen permanete Bedrohungen zu verteidigen. Eine Präsenz, die so euphorisch wie prekär sein kann. Von dem Eindruck einer unumwunden Liebeserklärung an die Stadt als Ort einer demokratischen wie sinnlichen Erfahrung nimmt diese Reflexion nichts zurück. Sie vermehrt sie allerdings um ein Verständnis für ihre Voraussetzungen, ihre mühsamen Gemachtheit, Komplexität und Fragilität und einer präziseren Adresse.

Sebastian Markt

In Jackson Heights - USA 2015 - Regie: Frederic Wiseman - Laufzeit: 190 Minuten.

"In Jackson Heights" läuft am 12.06. im Kino Arsenal im Rahmen der Reihe "Unknown Pleasures #8".

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Nur langsam, Person für Person, stellt Patrick Wang die Patchwork-Familie vor, die im Mittelpunkt von "The Grief of Others" steht, und schon die Art, wie er seine Figuren ins Bild setzt, sagt einiges darüber aus, was für ein außergewöhnlicher, gleichzeitig zartfühlender und abgründiger Film ihm gelungen ist. Biscuit (Oona Laurence), das jüngste Kind der Familie, fällt gleich zu Beginn in den Hudson River; beziehungsweise bricht die Zehnjährige einfach nach unten aus dem Bild weg. Ihr Vater John (Trevor St. John) ist das erste Mal vor leinwandfüllend rotem Hintergrund zu sehen, es dauert einen Moment, bis man versteht, dass er dabei ist, eine Wand zu streichen. Biscuits ältere Halbschwester Jessica (Sonya Harum) wiederum taucht wie aus dem Nichts im Hausflur der Familie auf: Am Ende einer längeren, dramatischen Szene fragt das jüngere Mädchen "und wer ist das?", die Kamera schwenkt nach links, und da steht tatsächlich noch eine weitere Person, deren Anwesenheit vorher scheinbar niemand (und eben auch nicht die Kamera) wahrgenommen hat.

Jemand ist überzählig, jemand anderes fehlt. Bis man erfährt, wer und warum, dauert es noch eine ganze Weile. Erst einmal setzt sich das Puzzle weiter zusammen, ohne jemals ein ganzes oder gar rundes Bild zu ergeben. In den wenigen Szenen, in denen man die Familie, zu der noch die berufsbedingt zumeist abwesende Mutter Ricky (Wendy Moniz) und Biscuits rundlicher Bruder Paul (Jeremy Shinder) zählen, gemeinsam am Esstisch sieht, inszeniert Wang das sonderbar frontal: Alle blicken seine Kamera, niemand blickt die übrigen Anwesenden an. John insbesondere sitzt mit übereinander geschlagenen Füßen am Bildrand und mosert. Auch sonst bleiben die Körper stets distinkt, voneinander isoliert. Bei einer Konsultation der Mutter bei einer Ärztin werden die beiden Sprechenden von einer wiederum roten Wand im Hintergrund fast verschluckt. Und selbst ein intimes Gespräch zur Nacht löst Wang im Bild zweier Köpfe auf, die, verschattet einander abgewandt, auf Kopfkissen liegen.



"The Grief of Others" ist nur auf den allerersten Blick ein Indiedrama, wie man viele zu kennen meint: privatistisch, entschläunigt, mit Hang zur selbstquälerischen (Jessica) bis passiv-aggressiven (John) Introspektion, voller fahriger Gesten und nervöser Dialoge. Lässt man sich auf die Bilder ein, so ist sofort alles anders. Zwar werden viele Szenen, wie in vielen Filmen (eben doch nicht) dieser Art, von Großaufnahmen dominiert; allerdings sind das ausnehmend stabile, unaufgeregte Großaufnahmen, die sich niemandem aufdrängen, weder den Figuren, noch dem Publikum. Sie geben lediglich einen Rahmen vor; einen, der durchaus eng, manchmal regelrecht beengend erscheinen kann - vor allem, wenn man ihn und die recht saturierte Mittelklasse-Welt, die er bezeichnet, von außen betrachtet; der sich aber immer wieder und immer wieder auf etwas andere Weise nach Innen hin öffnet, dabei erstaunliche Weiten preisgibt, psychologische wie filmische. Vielleicht auch intermediale. "The Grief of Others" basiert auf einem Roman von Leah Hager Cohen, und die Vorlage liefert nicht einfach nur das Grundgerüst der Handlung (die sich an Jessicas Ankunft im Haushalt der neuen Familie ihres Vaters entzündet); sondern sie ragt auch in Form einer literarischen Sensibilität des Erzählens in den Film hinein.

Zum Beispiel, wenn über einer Aufnahme des schweigenden Paul ein Dialog liegt, der zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort stattgefunden hat. Anstatt ein "filmisches Erinnerungsbild" zu konstruieren, kopiert Wang einfach zwei Arten von Texten übereinander. Oder eine wiederkehrende Einstellung, die den Eingangsbereich des Hauses von schräg oben, treppabwärts, zeigt. Das eigentlich ziemlich geräumige, in seiner sparsam-geschmackvollen Naturholzeinrichtung auf zumindest einigen Wohlstand (sowie auf noch etwas üppigeres kulturelles Kapital) verweisende Anwesen wirkt plötzlich schrecklich klaustrophobisch, verwandelt sich in einen psychischen Raum; der in einer Szene eine zwar klassischer ausgespielte Rückblende triggert, die allerdings entgegen aller Regeln der Filmgrammatik über die Erzählgegenwart hereinbricht, vermittelt durch eine bloße Überblendung.

Es gibt einen Handlungsstrang, in dem sich der Film selbst zu figurieren, seinen poetischen Modus zu bezeichnen scheint. Ein Nachbar der Familie hat nach seinem Tod ein ganzes Regal voller Dioramen hinterlassen: aus Schuhkartons, Haushaltsrückständen und Buntstiften gefertigte Miniaturwelten, in denen kleine Pappfiguren verloren zwischen Wattemöbeln und Flickenteppichgardinen herumsitzen; ein wenig plump in der Darstellung, aber als Ausdruck tief gefühlter Einsamkeit durchaus "heartbreaking", wie dann auch eine Betrachterin meint. Es liegt nahe zu sagen: Wangs Film ist wie diese Dioramen, ein Stück tief erfühlte art naive. Aber das hieße die eigentliche Qualität von "The Grief of Others" verkennen. An dessen Bildern begeistert nicht der bloße Charme des Handgemachten, sondern - fast im Gegenteil - die Souveränität einer durch und durch eigensinnigen Formgebung. Freilich ist die Differenz auch eine der Rezeption: Für den Nachlass des verstorbenen Dioramen-Künstlers interessiert sich bereits das örtliche Museum. "The Grief of Others" dürfte es auf den einschlägigen Märkten des US-Indiekinos deutlich schwieriger haben. Was nichts daran ändert, dass Patrick Wang nichts weniger als ein großer Wurf gelungen ist.

Lukas Foerster

The Grief of Others - USA 2015 - Regie: Patrick Wang - Darsteller: Wendy Moniz, Trevor St. John, Rachel Dratch, Chris Conroy, Oona Laurence, Jeremy Shinder - Laufzeit: 103 Minuten.

"The Grief of Others" läuft am 11.06. und am 15.06. im berliner Kino Arsenal im Rahmen der Reihe "Unknown Pleasures #8".