Efeu - Die Kulturrundschau

Virtuos ins Seelenlose

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20.01.2015. Ausgesprochen zwiespältig nimmt die Kritik Michael Thalheimers Berliner "Freischütz"-Inszenierung auf: Berliner Zeitung und taz loben Kühle und Präzision, Tagesspiegel und Welt erkennen auf "höllenschlundbedingtes Rampensingen".In der taz fordert die Regisseurin Franziska Stünkel eine Frauenquote in der Filmbranche. Die FR porträtiert den deutsch-iranischen Maler Nader Ahriman, der Hegel und Wittgenstein bildlich in den Griff zu bekommen sucht. Und die NZZ feiert József Holdosis Roman "Die gekrönten Schlangen" als Meisterwerk der Roma-Literatur.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.01.2015 finden Sie hier

Bühne


"Rampensingen ohne spürbaren Kontakt": Thalheimers "Freischütz". Bild: Katrin Ribbe/Staatsoper Berlin.

Uneins ist sich die Kritik über Michael Thalheimers Inszenierung von Carl Maria von Webers "Freischütz" an der Berliner Staatsoper. Dem notorischen Verknapper spricht Peter Uehling in der Berliner Zeitung ein Lob aus: "Präziser und kühler" als die Berliner Bieito-Inszenierung vor einigen Jahren falle dieser Abend aus. Glänzend sei dem Regisseur die Neu-Interpretation des Ännchens gelungen, das "stets als emanzipiertes Mädchen" galt. Hier nun "repräsentiert sie alles Vulgäre und Gedankenlose, unter dem schöne Seelen wie Agathe zu leiden haben - und denen gilt die Anteilnahme des Regisseurs. Anna Prohaska dreht ihre technische Souveränität virtuos ins Seelenlose, wenn sie als Ännchen den "leichten Sinn" propagiert."

Ulrich Amling dreht im Tagesspiegel unterdessen genervt mit den Augen. Nur wenig wollte ihm behagen: "Höllenschlundbedingtes Rampensingen ohne spürbaren Kontakt zwischen den Akteuren beherrscht den Abend. Max und Agathe barmen und ahnen vor sich hin, sie krümmt sich gar zur Taube auf die Max später anlegen wird - ein Arrangement, das nie zur Aufnahme in eine Klasse für Musiktheaterregie befähigt hätte. Dazu kommt Ungeschicktes: ein wackelnder Wald aus Menschen etwa, der wie verworfen später nie wieder eine Rolle spielt." Immerhin ist er voll des Lobs für die Prohaska. Auf "teutonische Geisterbahn" und "Rampengesinge" erkennt auch Manuel Brug in der Welt: "Wie viel handwerkliches Können wurde hier als Dauerverweigerung verschossen!" Groß, wenn auch bedrückend" findet Niklaus Hablützel in der taz diesen Abend. In der SZ bespricht Wolfgang Schreiber, in der FAZ Jan Brachmann die Inzenierung.

Bei der Baseler Aufführung von Marc-Antoine Charpentiers Oper "Médée" hatte Reinhard J. Brembeck (SZ) fast nur Augen für die große Magdalena Kožená, die hier seiner Ansicht nach "die Krönung ihrer Bühnenlaufbahn vorlegt": "Sie tobt nicht, sie geifert nicht, sie faucht nicht. Sondern geht kühl kalkulierend ans Werk. Die sichtbar entsetzten Zuschauer sind gebannt von einer Tragödin, die jeden ihrer Morde mit einer bezwingenden Logik ausführt. Wobei sie die Intensität von Spiel und Gesang beständig steigert."
 
Besprochen werden Anne Lenks Inszenierung von Elfriede Jelineks "Winterreise" am Thalia in Hamburg (Nachtkritik), ein leidender Werther in Stuttgart (Nachtkritik), Dea Lohers am Deutschen Theater Berlin uraufgeführtes "Gaunerstück" (SZ, mehr) und Frank Behnkes Inszenierung vonTennessee Williams" "Licht unter Tage" am Theater Münster (FAZ) und die Grazer Inszenierung von Erich Wolfgang Korngolds selten aufgeführter Oper "Die tote Stadt" (Standard).
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Film

Für die taz porträtiert Beate Barrein die Regisseurin Franziska Stünkel, die sich für eine Frauenquote in der Filmbranche stark macht. Sie sagt: "Eine paritätische Besetzung von Entscheidungsgremien vorab ist eine Ausgangsbasis. Sodass aus dem weiblichen und männlichen Blick heraus über Projekte entschieden werden kann."

In Paris werden erste Filmaufführungen verboten, erfahren wir von Jürg Altwegg in der FAZ, Abderrahmane Sissakos "Timbuktu" (unsere Kritik) etwa wurde von einem Privinzbürgermeister als "Verherrlichung des Terrorismus" aufgefasst, während die Behörden mutmaßen, dass Cheyenne Carrons auf Festivals hochdekorierter "L"Apôtre" (mehr dazu hier) von Muslimen als "Provokation" aufgefasst werden könnte.

Außerdem: Filme werden nur noch digital gedreht? Von wegen! Im Filmmaker Magazine stellt Vadim Rizov 39 Filme des letzten Jahres vor, die noch auf klassischem Filmmaterial gedreht wurden, darunter auch die effektlastigen Science-Fiction-Filme "Edge of Tomorrow" und "Interstellar" (unsere Kritik). Der Tagesspiegel meldet die letzten Zugänge zum nun mehr kompletten Berlinale-Wettbewerb. EpdFilm verlinkt Interessantes aus den Mediatheken. Andreas Kilb gratuliert in der FAZ dem Regisseur Gianni Amelio zum Siebzigsten.

Besprochen werden Michael Sturmingers Opernfilm "Casanova Variations" (Standard) und ein Buch mit Filmtexten von Wolfgang Kohlhaase (FAZ).
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Literatur

Als wild und poetisch und Meisterwerk der Roma-Literatur feiert Karl-Markus Gauß in der NZZ den wieder aufgelegten Roman "Die gekrönten Schlangen" des Ungarn József Holdosi: "Holdosi wusste, wovon er erzählte. 1951 im westungarischen Vép geboren, wuchs er in einer Familie von gefeierten Musikern auf, die gleichwohl der zwanghaften ethnischen Identifizierung entrinnen wollten. Holdosi nutzte die Chancen, die ihm das Erziehungssystem der Volksdemokratie bot, schloss das Gymnasium in Pecs, das Studium in Budapest ab und wurde in Szombathely Lehrer für Ungarisch und Geschichte. Er unterrichtete bereits einige Jahre, als er gewahr wurde, dass seine Kollegen hinter seinem Rücken über ihn nicht wie über einen der Ihren, sondern von dem "Zigeuner" sprachen."

In der Berliner Zeitung berichtet Martin Oehlen von Michel Houellebecqs gestriger Lesung in Köln. Ausführlich dazu auch Oliver Jungen in der FAZ. Michael Lentz (FAZ) gratuliert dem Dichter Eugen Gomringer zum Neunzigsten. Und Lutz Seiler geht fürs Logbuch Suhrkamp in die Druckerei.

Besprochen werden Deborah Levys Erzählungen "Black Vodka" (Tagesspiegel), Viktor Martinowitschs "Paranoia" (Tagesspiegel, mehr), Michael Schröters Comic "Mäcke Häring - Ein Fall mit falschen Fuffzigern" (Tagesspiegel), Émile Zolas "Meine Reise nach Rom" (SZ), Hélène de Beauvoirs Erinnerungen "Souvenirs - Ich habe immer getan, was ich wollte" (SZ), Mohamedou Ould Slahis Tagebuchaufzeichnungen aus Guantanamo (FAZ) und William Butler Yeats" "Eine Vision" (FAZ). Mehr in unserer aktuellen Bücherschau um 14 Uhr.
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Kunst

Für die FR trifft sich Ingeborg Ruthe mit dem in Berlin lebenden iranischen Maler Nader Ahriman, der eher einen metaphysischen Zugang zur Kunst: "Bilder, meint er, hätten eine Kraft, die sich nicht kontrollieren lasse. Und: Kunst müsse Nachdenken bewirken, Reflexion, Emotion, sinnliche Erfahrung, Aufklärung gegen jede Form des Fundamentalismus und der Gewalt. "Ich bin Künstler, kein Politologe oder Soziologe. Seit 15 Jahren beschäftige ich mich in meinen Bildern mit der Phänomenologie des Geistes. Von Platon über Hegel bis Kandinsky, von Mondrian zu Barnett Newman."" (Bild: Nader Ahriman: Die Hegelmaschine trifft die Westseele. Galerie Klosterfelde, Berlin.)

Brigitte Werneburg berichtet in der taz von einer in den kommenden Wochen fortgesetzten Vortragsreihe in der Stiftung Topographie des Terrors über Kunst in Nazi-Deutschland. Die Zeit bringt eine Strecke mit Fotografien von Judy Linn, die derzeit in Berlin ausgestellt wird.

Besprochen werden die Ausstellung "Gefangene Bilder - Wissenschaft und Propaganda im Ersten Weltkrieg" im Historischen Museum in Frankfurt (SZ) und die Berliner Schau über das russische Architekturlabor Wchutemas, dessen Entwürfe Dankwart Guratzsch in der Welt noch radikaler, wilder und spektakulärer findet als die des Bauhaus.
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Musik

Felix Zwinzscher schreibt in der Welt einen Nachruf auf den New Yorker Rapper A$AP Yams: "Die Buchstaben A.S.A.P tätowierte er sich bereits im Alter von 17 auf den Arm. Sie stehen für "Always Strive and Prosper", was so viel bedeutet wie "immer streben und gedeihen"." Thomas Stillbauer plaudert in der FR mit dem Cellisten Johannes Moser.

Besprochen werden neue Alben von Sleater-Kinney (FAZ), Disappears (Pitchfork), Das weiße Pferd (Spex), Feine Sahne Fischfilet (Spex) und Sonae (Spex) sowie ein New Yorker Gedenkkonzert zu Ehren von Charlie Haden (SZ).
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