Vorgeblättert

Leseprobe zu Martin Kohan: Sekundenlang. Teil 3

05.02.2007.
Ich erinnere mich an alles, aber nicht alles auf einmal.
Fast zwanzig Jahre sind seither vergangen, siebzehn, gar nicht so einfach, da noch ganz genau zu sein.
Arteche, der Redaktionsleiter, hatte die Idee. Er fand sie so gut, daß er sich von jedem seiner Untergebenen persönlich dafür beglückwünschen ließ: eine Sonderbeilage zum Jahrestag der Zeitungsgründung.
Fünfzig Jahre, eine runde Zahl. Weit über Trelew und Chubut hinaus konnte es keine Zeitung in ganz Patagonien an Alter mit uns aufnehmen. Volle fünfzig Jahre. Zurück zum Ursprung hieß das: September 1923. Und jeder
- je nach Ressort - eine Nachricht aus diesem Monat auswählen und wiedergeben, oder vielmehr: aufbereiten (wie Arteche sich selbst verbesserte).
"Ferne Zeiten" sollte die Beilage heißen. Bis zum Erscheinen war es noch ein Monat, aber die Beiträge mußten in gut zwei Wochen abgeliefert werden. Daneben war die tägliche Arbeit zu leisten, eine beträchtliche Anzahl von Artikeln, die sich allerdings zum Großteil auf bloße Nachrichtenwiedergabe beschränkten; trotzdem fragte keiner, ob es eine Gehaltszulage geben werde.
Weniger aus Interesse als weil es eilte, erschienen alle gleichzeitig bei mir im Archiv. Ich bemühte mich, jeden so gut es ging mit Material zu versorgen, aber so weit ich mich erinnere, wandten sich manche am darauffolgenden Tag erneut an mich. Ein Archiv hat für gewöhnlich weniger zu bieten als die Wirklichkeit.
Ledesma und Verani wußten noch am selben Nachmittag, worüber sie schreiben wollten. Verani war für Sport, Ledesma für Kultur zuständig. Ich sehe es noch wie heute vor mir. Beim Verlassen der Redaktion taten wir, was wir immer taten: einen Abstecher auf einen Plausch in der Bar des Touring-Hotel unternehmen. Draußen auf der Straße waren Schreie und Beifallklatschen zu hören, neben anderem, das teilweise in Berichtform in der Zeitung wiederauftauchen würde.
Verani hatte sich schon entschieden: Im September 1923 waren in den USA Firpo und Dempsey gegeneinander angetreten.
Der Kampf des Jahrhunderts! Von wegen Monat, von wegen Jahr: Kampf des Jahrhunderts, sonst noch Wünsche? Genau der richtige Moment, um eine Zeitung zu gründen.
Ledesma hatte sich ebenfalls entschieden: Im September 1923 waren die Wiener Philharmoniker unter Leitung von Richard Strauss in Buenos Aires gewesen. Sie waren zu einer Art Marathon angetreten, in dessen Verlauf sie so gut wie ihr gesamtes Repertoire vorgetragen hatten: Beethoven, Bruckner, Brahms; Wagner, Haydn, Schubert; Weber, Mozart, Mendelssohn. Und dazu eigene Kompositionen des Meisters: Don Juan, Don Quixote, Salome; Ein Heldenleben und Also sprach Zarathustra; die Sinfonia domestica und Eine Alpensinfonie. Ich erinnere mich noch an Ledesmas haltlose Begeisterung angesichts der Vorstellung, daß man imstande gewesen war, in nicht einmal einem Monat eine derartige Menge anspruchsvoller Musik einzuüben und vorzutragen. Das himmelhoch herausragende Ereignis für ihn war jedoch die südamerikanische Uraufführung der ersten Symphonie Gustav Mahlers in Buenos Aires, ihr widmete er seinen Beitrag für die geplante Sonderausgabe.
Das Konzert hatte am Abend des zweiundzwanzigsten September, einem Samstag, im Teatro Colon stattgefunden, und für Ledesma war es das wichtigste Ereignis nicht bloß dieses Monats, sondern des ganzen Jahres.
Verani hielt das für übertrieben und erkundigte sich bei mir, wie viele Personen damals ins Teatro Colon gepaßt hätten.
Ich sagte nichts dazu: Damals war ich noch keine zwanzig und gab mich lieber zurückhaltend, ich war es gewohnt, meine Zeit mit älteren Leuten zu verbringen, und hielt es für ratsam, zuzuhören, anstatt zu reden.

     "Das ist doch nicht Ihr Ernst!"
     "Und wieso nicht? Allerdings meine ich es ernst - Sie meinen ja auch immer alles ernst."
     "Schon. Aber bei dem Blödsinn, den Sie von sich geben, habe ich das Gefühl, insgeheim wollen Sie sich über mich lustig machen."
     "Sie können mir ruhig glauben, Ledesma. Warum sollte ich mich über Sie lustig machen? Ich hab gedacht, ich sage auch nur das, was Sie sagen."
     "Gedacht, gedacht. Da haben Sie eben danebengedacht! Ich habe von einem Böhmen gesprochen, nicht von einem Bohemien. Mahler stammt aus einer Gegend, die Böhmen heißt. Sehen Sie, in diesem Teil der Welt ändert sich ständig etwas, dauernd gibt es Kriege und Aufstände: das, was heute Deutschland ist, Ostdeutschland, Westdeutschland, das, was Österreich ist, oder die Tschechoslowakei, das war früher etwas ganz anderes, also das ist ziemlich kompliziert. Heute sagt man Polen, und jeder weiß, was gemeint ist, aber hundert Jahre lang gab es überhaupt kein Polen."
     "Das soll wohl ein Witz sein."
     "Das ist die Weltgeschichte, Verani, höchste Zeit, daß Sie das begreifen. Statt dessen kommen Sie und erzählen mir etwas von einem volkstümlichen Sänger."
     "Ich wollte niemandem zu nahe treten. Sie sehen doch, es war ein Mißverständnis."
     "Sie sehen doch, Sie sehen doch, allerdings sehe ich das, ist ja sonnenklar. Zuallererst: Er war kein Sänger."
     "Aber Sie haben doch gesagt, es sind Lieder mit Text."
     "Genau, das habe ich gesagt, aber das heißt noch lange nicht, daß er diese Lieder auch gesungen hat. Er hat sie komponiert."
     "Komponiert."
     "Komponiert, ja. Außerdem war er ein großer Dirigent."
     "Was Sie nicht sagen."
     "Tja. Sie sehen ja, mit dem, was Sie sich ganz offensichtlich dabei gedacht haben, hat das wirklich nicht das geringste zu tun: ein versoffener Bänkelsänger, der sich ein Akkordeon vor den Bauch schnallt."
     "Versoffen habe ich nicht gesagt."
     "Sehr witzig. Was haben Sie sich denn vorgestellt - einen Hansdampf, der auf den Tisch steigt und losschmettert, und die besoffenen Matrosen grölen dazu im Chor?"
     "Grölen habe ich nicht gesagt."
     "Wußten Sie, daß Mahler später die Leitung der Wiener Oper übernahm? Haben Sie das gewußt?"
     "Nein, habe ich nicht."
     "Gar nichts wissen Sie, aber daherreden, das können Sie."
     "Kann sein, daß ich Sie falsch verstanden habe." "Sie verstehen mich nicht, weil Sie mich nicht verstehen wollen. So ist das. Verstockt sind Sie. Und jetzt glauben Sie bestimmt, daß diese Musik eines ganz sicher nicht ist, nämlich volkstümlich. Dabei stimmt das gar nicht."
     "Sondern?"
     "Ach - eben nicht. Diese Musik hat viel aus volkstümlichen Traditionen übernommen, manche Melodien gehen unmittelbar auf Volkslieder zurück."
     "Na sehen Sie."
     "Aber glauben Sie bloß nicht, mit volkstümlich meine ich so etwas wie diesen Cafrune."
     "Natürlich nicht." "Ich sehe schon, Sie sind in Gedanken längst woanders. Vergessen Sie nicht: Wir reden von einem hochsensiblen Musiker, einem Vertreter der Avantgarde. Sie schmeißen alles in einen Topf und glauben, Mahler-Symphonie, Zamba oder Cueca ist doch ein und dasselbe."
     "Sie haben von Folklore geredet, nicht ich."
     "Das habe ich getan, damit Sie mich verstehen, Verani, aber Sie verstehen mich nicht."
     "Kann sein, daß ich Sie nicht verstehe, das will ich gar nicht bestreiten. Aber Sie müssen zugeben, daß Sie sich nicht gerade klar ausdrücken."

Verani widmete der Seite mit dem Bericht über den Boxkampf nur eine flüchtige Lektüre. Ich sah ihm dabei zu, und es fiel mir auf, deshalb erinnere ich mich daran. Er war kein Schnelleser. Beim Lesen murmelte er leise vor sich hin, es fiel ihm schwer; er fuhr mit dem Finger oder dem schwarzen Rand eines Fingernagels an den Zeilen entlang. Wer zusammen mit ihm einen Text zu lesen begonnen hätte, wäre zweifellos lange vor ihm fertig gewesen und hätte dann auf ihn warten müssen - oder sich nicht anmerken lassen dürfen, daß er fertig war, um ihn nicht vor den Kopf zu stoßen.
Für die Lektüre des Kampfberichtes benötigte er nur wenige Minuten. Ich weiß es noch, weil ich ihm zusah. Mehr als die grundlegenden Informationen können dabei nicht hängengeblieben sein: daß der Unsrige hätte siegen müssen und der andere gesiegt hatte. Das reichte ihm, oder es wurde ihm zu langweilig, oder er nahm sich vor, den Text anderntags einer gewissenhafteren Lektüre zu unterziehen. Ich sah, wie er umblätterte und die folgenden Seiten überflog.
Ein Stück weiter hinten erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Ich nahm ein leises Zittern um seine Mundpartie wahr, so als ob er betete: er las. Das machte mich neugierig, und ich versuchte herauszufinden, warum er sich gerade dort festgelesen hatte. Ich konnte kaum etwas erkennen: eine ziemlich kurze Meldung auf der Seite mit den Polizeiberichten. Aber diese Meldung las er richtig, ich würde sogar sagen, ganz, und wenn ich mich nicht täusche, machte er sich auch Notizen in sein Heft. In diesem Augenblick wußte ich nicht, worum es ging. Danach fragen wollte ich ihn nicht, oder ich raffte mich nicht dazu auf, weil ich davon ausging, daß ich es später, im Touring, ohnehin erfahren würde.
Aber dem war nicht so, wenigstens nicht an diesem Tag. An diesem Tag verlor Verani kein Wort darüber. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, daß er in den darauffolgenden Tagen gerade hierüber so viel reden würde, während er es jetzt sogleich wieder vergessen zu haben schien. Wiederum wollte ich ihn nicht danach fragen oder konnte mich nicht dazu aufraffen. Ledesma dagegen war noch stärker als sonst mit seinen Dingen beschäftigt. Er war nervös und ein wenig gereizt, seine Tochter Raquel war damals bei ihm und beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit.

Sobald er den Boden berührt, wird gezählt: von eins bis zehn. Laut und deutlich, damit der zu Boden Gegangene, mag er noch so groggy sein, mitbekommt, daß der Zählvorgang begonnen hat, an dessen Ende unweigerlich seine Niederlage verkündet werden wird. Damit ihn die in unmittelbarer Nähe, am Rand des Rings Postierten hören können. Und für die, die weiter weg sitzen, die Zuschauer in den hinteren und hintersten Reihen, heißt es, den Arm wie eine Schaukel auf- und abschwingen, ihn schlenkern und pendeln lassen, als könnte man dem zu Boden Gegangenen und womöglich bereits Besiegten durch lautes Vorzählen noch eine Lektion erteilen.
Besser ist es, sie gehen auf einen Schlag zu Boden, rücklings oder vornüber, am besten, sie prallen ordentlich auf, daß es nur so spritzt von Blut, Schweiß und Rotz. Besser so, in voller Länge, endgültig besiegt, denn dann läßt sich der Augenblick (letztlich geht es ja bloß um Sekundenbruchteile), in dem mit dem Zählen zu beginnen ist, leichter bestimmen.
Manchmal jedoch berühren sie den Boden nicht ganz so entschlossen, landen nicht lang hingestreckt, setzen sich vielmehr hin, stehlen sich zusammengekrümmt, mit eingezogenem Kopf davon, bis ihr Hinterteil auf dem Boden Halt findet, was natürlich auch als Sturz gilt, weswegen Mister Gallagher zwingend mit dem Zählen zu beginnen hat.

Oder sie neigen sich völlig benebelt zur Seite, gehen fast in Kauerstellung und stützen sich mit der Faust auf dem Boden ab, um nicht umzukippen: berühren den Boden mit dem Handschuh und können sich so aufrecht halten. Was das Anzählen betrifft, gilt ein solcher Sturz trotzdem als Sturz, denn als Sturz wird jede Bodenberührung mit etwas anderem als den Schuhsohlen, den Unterseiten der Füße, angesehen. Sie stützen sich mit der Faust ab, um nicht umzufallen, und fallen tatsächlich nicht um, aber Mister Gallagher hat das Ganze dennoch als Sturz zu betrachten und entsprechend zu handeln, ergo zu zählen.
Sobald er den Boden berührt, wird gezählt: Nach diesem Motto schickt Mister Gallagher, Mister John Slowest Gallagher, als er merkt, daß der Champion gleich zu Boden gehen wird, sich an zu zählen. Sie können viele Male zu Boden gehen und wieder aufstehen, der eine wie der andere; entscheidend ist, daß einer irgendwann nicht wieder aufsteht, oder wenigstens nicht so schnell wie erforderlich.
Der Laie wird sagen, es sei doch einfach, zu bestimmen, wann ein Mann, ob Boxer oder nicht, aufrecht dasteht und wann er zu Boden gegangen ist. Stimmt, so gesehen, so formuliert, ist es einfach; wenn es aber auf den Moment ankommt, in dem der Mann die erste Bodenberührung hat, den genauen Moment, in dem beide sich schließlich berühren, ist die geforderte Genauigkeit keineswegs so einfach zu erreichen.
Sie verlangt nie aussetzende, größte Aufmerksamkeit, ein Höchstmaß an Konzentration. Jetzt geht der Champion zum Beispiel gerade zu Boden. Genau so, und noch öfter, ist sein Gegner zuvor zu Boden gegangen. Sobald er den Boden berührt, muß mit dem Zählen begonnen werden. Sobald er den Boden berührt.


Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages
(copyright Suhrkamp Verlag)

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