Bücherbrief

Lebenserleichterungstechniken

03.09.2012. Sabrina Jensch führt uns durch Danzig. Richard Ford plant einen Doppelmord in Kanada. Michael Frayn folgt am Flughafen einer schönen Blondine. Alfred Brendel spielt auf dem Jammerklavier. Tim Wu betätigt den Master Switch. Dies und mehr in den besten Büchern des Monats September.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen, den Leseproben in Vorgeblättert, der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", den Büchern der Saison vom Frühjahr 2012 und unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Frühjahr 2012.

Literatur

Sabrina Janesch
Ambra
Roman
Aufbau Verlag 2012, 372 Seiten, 22,90 Euro



Fasziniert zeigen sich die Rezensenten von der deutsch-polnischen Autorin Sabrina Janesch, der sie zur Präsentation ihres zweiten Romans "Ambra" nach Danzig gefolgt sind. Freudig ließen sie sich von ihr durch die alte Vorstadt führen, durch Rechtstadt und Unterstadt, in denen auch ihre deutsch-polnische Familiengeschichte angesiedelt ist. In der FAZ betont Andreas Platthaus besonders, dass der Roman, bei aller Geschichtsträchtigkeit "ein Stadtporträt der Gegenwart" sei. In der FR lobt Birgit Walther den spannenden und dichten Roman, der allenfalls etwas zu viel will, und wundert sich, dass die 27-jährige Janesch schon "so unerhört fertig, so perfekt" sei. Im Deutschlandradio äußert sich Katrin Schumacher wohlwollend, gibt aber zu bedenken, dass Janesch etwas zu viel literarischen Bernstein ausstellt. Manches löst sich dann in "Duft und Rauch" auf.

Philipp Schönthaler
Nach oben ist das Leben offen
Erzählungen
Matthes und Seitz 2012, 201 Seiten, 17,90 Euro



Sehr vielversprechend finden die Kritikerinnen dieses Debüt des Konstanzer Literaturwissenschaftlers Philipp Schönthaler, der in seinem Erzählband von unseren allseits bewunderten "Leistungsstrebern" und ihren eisern antrainierten Lebenserleichterungstechniken berichtet. In der SZ attestiert ihm die begeisterte Sibylle Cramer analytische Schärfe, kritischen Verstand und ein großes Repertoire an literarischen Mitteln. In der FAZ findet Anja Hirsch die Erzählungen zwar etwas zu unbelebt, übererregt und verkopft, aber letztlich ist sie doch auch sehr beeindruckt von Schönthalers chirurgischem Blick auf unsere traurige "Multioptionsgesellschaft".

Richard Ford
Kanada
Roman
Carl Hanser Verlag 2012, 464 Seiten, 24,90 Euro



In helle Begeisterung versetzt Richard Ford die Kritiker, und zwar, sie sagen es selbst, mit seinem ganz schlichten amerikanischen Realismus. Man könnte sagen, dass Ford von einem Lehrer erzählt, der sich an die schrecklichen Ereignisse seiner Jugend erinnert: Da seine Eltern in einem Akt des Wahnsinn eine Bank überfallen, wird er über die Grenze nach Kanada geschmuggelt, um ihn vor dem Heim zu bewahren, doch gerät er dort ausgerechnet an einen Hotelbesitzer, der ihn in einen Doppelmord verwickelt. Dirk Knipphals formulierte es in der taz aber so: "'Kanada' ist Hammerroman darüber, was Menschen können: sich aller Lebensunbill zum Trotz ihre eigenen Geschichten erzählen." In der FAZ schätzt Verena Lueken, dass kein amerikanischer Schriftsteller derzeit so schöne Sätze schreibt wie Ford. Und in der SZ bescheinigte Gustav Seibt dem Roman etwas "so Herzeinschnürendes, dass man schon in der Mitte des Buches denkt: Roman, bitte hör auf!"

Michael Frayn
Willkommen auf Skios
Roman
Carl Hanser Verlag 2012, 288 Seiten, 17,90 Euro



Für beste Unterhaltung hat Michael Frayn mit seiner Farce "Willkommen auf Skios" hat bei der Kritik gesorgt, die das Buch als höchst amüsante Sommerlektüre empfiehlt. Denn auch wenn diese Geschichte auf der fiktiven griechischen Insel Skios spielt, hat sie nichts mit der Finanz- oder Schuldenkrise zu tun, es geht vielmehr um den akademischen Betrieb, den Michael Frayn aufs Korn nimmt, indem er einen urlaubenden Tunichtgut zum Hauptredner des respektablen Szientometrie-Kongress macht. In der FR gibt Christoph Schröder "Mordsspaß" zu Protokoll, Susanne Mayer berichtet in der Zeit von einem "irren, wilden Vergnügen" und in der FAZ würdigt Felicitas von Lovenberg Frayn einen der "feinsinnig-komischsten Schriftsteller Englands".

Gaito Gasdanow
Das Phantom des Alexander Wolf
Roman
Carl Hanser Verlag 2012, 192 Seiten, 17,90 Euro



Was für eine aufregende Wiederentdeckung! Die Kritiker können kaum glauben, dass Gaito Gasdanow ihnen bisher unbekannt war, aber auch in Russland wurde der Exilautor erst in den vergangenen Jahren veröffentlicht. 1903 in Petersburg geboren, ist Gasdanow nach der Niederlage der Weißen Armee 1923 nach Paris gegangen, nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er in München für Radio Liberty. In seinem Roman "Das Phantom des Alexander Wolf", der bereits 1948 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, erzählt Gasdanow von einem russischen Journalisten, der beherrscht wird von der schuldbewussten Erinnerung an einen Soldaten, den er im Bürgerkrieg getötet zu haben meinte und der sich nun als lebendig erweist - und als äußerst grauenvoller Mensch. Unisono feiern die Zeitungen den Exilautor nun als virtuosen Stilisten und großen Moralisten, die SZ reiht ihn gleich zwischen Camus und Nabokov ein. Und die FAZ versichert, noch nie "so elegant, so tief und so tröstlich" über die Macht der Erinnerung gelesen zu haben. Auch Rosemarie Tietzes Übersetzung wird einhellig gelobt.


Sachbuch

Alfred Brendel
A bis Z eines Pianisten
Ein Lesebuch für Klavierliebende
Carl Hanser Verlag 2012, 448 Seiten, 22,95 Euro



Was genau ist eigentlich ein "Jammerklavier"? Eine Orgel? Naja, zumindest ein Stichwort in Alfred Brendels ABC. Beide bisherige Rezensenten, die große Eleonore Büning in der FAZ und Martin Meyer in der NZZ, erwähnen dieses Stichwort, verraten aber nicht, was es damit auf sich hat und machen das Buch somit nur noch spannender. Büning kriegt es in ihrer Kritik hin, den Autor allen Ernstes für seine "Albernheit" zu loben. Aber das schließt keineswegs aus, dass sein Buch lehrreich ist, versichert Mayer. Besonders lobt es Mayer für seinen aufklärerischen Impetus, und das kann man in diesen Tagen ja ganz besonders gut gebrauchen.

Tim Wu
The Master Switch
Aufstieg und Niedergang der Medienimperien
MITP Verlag 2012, 430 Seiten, 24,95 Euro



Der Klappentext formuliert mit Tim Wu eine einfache und einleuchtende Wahrheit: "Alle unsere medialen Daten werden heute innerhalb eines einzigen Netzwerks fortbewegt. Dies birgt ungeahntes Potenzial für eine zentrale Kontrollausübung darüber, was wir zu hören und zu sehen bekommen." Das Internet ist zugleich - noch - ein offener Raum und das Instrument einer möglichen lückenlosen Überwachung, dies um so mehr, je mehr es in immer kleinere Geräte wandert, die permanent verraten, wo man ist und was man macht. Die Monopolisierungstendenzen und die Verschließung einst offener Räume sind aber nichts Neues, sondern Tendenzen aller Medien, schreibt Tim Wu, an der Columbia Law School lehrender Juraprofessor, in seinem Buch und fächert es auf anhand der Geschichte der Telefonie und anderer Medien. Und wenn ein Monopol - wie es heute für Apple oder Amazon in greifbare Nähe rückt - erstmal gewonnen ist, dann droht Innovationsunterdrückung, lernt Oliver Jungen in der FAZ aus Wus wichtigem Buch. Jungen findet das alles vorbildlich recherchiert und absolut lesenswert. Schon wegen der vielen unbekannten Einzelheiten und Anekdoten, aber auch aufgrund von Witz und Leichtigkeit bei gleichzeitiger historisierender Schwergewichtigkeit. In der NYT interessierte sich David Leonhardt besonders für Wus Überlegungen zum Einfluss von Regierungen auf monopolistische Tendenzen. Im Guardian zeigte sich John Naughton "fasziniert". Besprechungen gab es außerdem bei ars technica und BoingBoing. Tim Wu hat eine Website und er schreibt auch über ganz andere Themen, zum Beispiel seine Liebe zu alten Honda-Motorrädern.

Jens Mühling
Mein russisches Abenteuer
Auf der Suche nach der wahren russischen Seele
DuMont Verlag 2012, 300 Seiten, 19,99 Euro



Wenn einem deutschen Journalisten, der über Russland schreibt, von Kerstin Holm Lob ausgesprochen wird, dann muss an seinem Buch etwas dran sein, denn Holm ist die unermüdliche und langjährige Kulturkorrespondentin der FAZ in Moskau und bestens informiert über das Faszinierende und Deprimierende dieses Landes. Die "russische Seele", die Mühling in zuweilen skurrilen Figuren sucht, gibt es anscheinend wirklich: Holm bestätigt es jedenfalls. Dennoch, so versichert Tim Neshitov in der SZ, bemüht Mühling keine Klischees: Nach der Begegnung mit Jesus-Wiedergängern, tätowierten Chauvis und durchgeknallten Mathematikern stellt sich Neshitov nur noch die Frage, ob es auch gewöhnliche Russen gibt. Und Günther Wessel hat im Deutschlandradio von Mühling gelernt, "warum es diese Vielzahl von Sinnsuchenden gibt: In Russland gebe es keinen historischen Konsens mehr, die russische Geschichte und das russische Selbstverständnis seien durch die Umwälzungen des 20. Jahrhunderts radikal unterbrochen worden."

Gershom Gorenberg
Israel schafft sich ab
Campus Verlag 2012, 316 Seiten, 19,99 Euro



Es gibt kaum eine Thematik , die mehr verrückte Autoren anzieht als Israel. Links oder rechts, jüdisch oder nicht jüdisch ist hier nicht die Frage, sondern ob ein Autor fähig ist, israelische Politik zu kritisieren, ohne gleich das Existenzrecht des Landes in Frage zu stellen. Gershom Gorenbergs Titel "Israel schafft sich ab" verheißt da nichts Gutes, aber Micha Brumlik erblickt in in seinem Essay in der taz eines der wichtigsten Bücher über den Nahostkonflikt der letzten Jahre. Brumlik ist sich mit Gorenberg einig, dass die Besetzung des Westjordanlands aus Israel immer mehr eine "Ethnokratie" mache. Über Gorenberg kann man sich in vielen Medien ein Bild machen: Er hat ein eigenes Blog, wo er jüngst über den Parteikonvent der Republikaner in den USA schrieb. Er veröffentlicht in der New York Review of Books (hier) und in der New York Times (hier). Slate brachte einen Auszug aus Gorenbergs Buch.

Peter Sloterdijk
Zeilen und Tage
Notizen 2008-2011
Suhrkamp Verlag 2012, 639 Seiten, 24,95 Euro



Hm, Peter Sloterdijk macht Tag für Tag Notizen, und das schon seit Jahrzehnten und war bisher nie aufgelegt, sie zu veröffentlichen. Nun veröffentlicht er einen Auszug von 2008 bis 2011, und die Rezensenten überschlagen sich: "herrliche Aphorismen, geistvolle Essays, treffende Zeitdiagnosen und nicht zuletzt wunderbaren Humor" fand zum Beispiel Johan Schloemann in der SZ in diesen Notizen. Dirk Pilz in der FR goutiert das Buch ebenso: Toll ist, dass das ja auch Kollegenklatsch und -abkanzelung drin vorkommen: hoch amüsant also, immens unterhaltsam, und von hoher Stilkunst! Die FAZ ließ aus unklaren Gründen den Aktionskünstler Thomas Kapielski über das Buch schreiben, und er fand es elegant, plausibel, fachlich versiert. Nur das Alltägliche vermisste er. Und auch Zeit-Rezensent Adam Soboczynski sah sein voyeuristisches Interesse aufs Schönste befriedigt. Kann ja sein, dass man aus diesem Buch des Philosophen nicht so viel lernt wie aus anderen. Aber Spaß scheint es zu machen!