9punkt - Die Debattenrundschau

Jungproletarisches Aufbegehren

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.01.2023. Russland ist ein einziger Gewaltzusammenhang, sagt die Frauenrechtlerin Aljona Popowa in der FAZ: Es fängt bereits bei häuslicher Gewalt an. Die Medien arbeiten sich nach wie vor an schwer zu benennenden "migrationskulturell verursachten Diffusitäten" ab, die zu den Silvesterkrawallen beitrugen. Clausewitz hat wieder Konjunktur, konstatiert die taz, er war halt auch ziemlich klug. Schon die Null-Spatzen-Kampagnen brachte nichts, erinnert die chinesische Schriftstellerin Fang Fang mit Blick auf die Null-Covid-Politik im Tagesspiegel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.01.2023 finden Sie hier

Europa

Russland ist ein einziger Gewaltzusammenhang, sagt die Frauenrechtlerin Aljona Popowa, die lange ein Gesetz gegen häusliche Gewalt in Russland durchsetzen wollte und scheiterte, im Gespräch mit Friedrich Schmidt von der FAZ. Es fängt bei der häuslichen Gewalt an und hört beim Krieg nicht auf: "Natürlich ist häusliche Gewalt ein Problem auf der ganzen Welt. Aber Russland ist das einzige Land im postsowjetischen Raum, in dem es kein Gesetz dagegen gibt. Seit Langem wird das Narrativ kultiviert, dass alle Probleme ausschließlich in der Familie bleiben, nicht öffentlich gemacht werden. Über Traumata wie Stalins Repressionen spricht man nicht. Für die Tschetschenienkriege hat es bis heute keine Entschuldigung gegeben, Ramsan Kadyrow, das Oberhaupt Tschetscheniens, gilt als 'Held Russlands'."

"Hätte man die 2021 abgeschalteten Kernkraftwerke Grohnde, Brokdorf und Gundremmingen C am Netz gelassen und stattdessen Kohlekraftwerke abgeschaltet, dann hätte man rund 30 Millionen Tonnen des Treibhausgases einsparen können", schreibt die Osteuropa- und Technikhistorikerin Anna Veronika Wendland und wirft der Bundesregierung in der Welt "Ideologie" und "Falschbehauptungen" vor: "Es gab also 2022 nie eine Chance, im parlamentarischen Erörterungsprozess eine evidenzbasierte, am Ziel der Klima und Versorgungssicherheit orientierte Kernkraftdebatte zu führen - zumal das Ergebnis ja feststand, bevor die Erörterung erfolgte. Bundesregierung, SPD und Grüne legten eine solche Wurschtigkeit im Umgang mit den Fakten an den Tag, dass man das eigentlich nur als unverhohlene Machtdemonstration deuten konnte. Man hält es gar nicht mehr für nötig, angesichts veränderter Rahmenbedingungen noch einmal ergebnisoffen zu diskutieren. Die Erörterung verkam zur Farce. Derzeit besteht wenig Hoffnung, dass es 2023 anders laufen könnte."
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Internet

FAZ-Medienredakteur Mchael Hanfeld findet die "Twitter Files" zwar interessant, aber er kritisiert, wie sie von Bari Weiss und anderen Journalisten publiziert wurden - von Gnaden Elons Musks. Die "Twitter Files" sollen nachweisen, wie intransparent und regierungshörig das alte Twitter auf Zensurforderungen reagierte: "Musks vermeintlich gute Absichten mit Twitter könnten die 'File'-Autoren untermauern, gingen sie transparent vor und hörten auf, wie es ihnen der Twitter-Boss diktiert hat, ihre Story häppchenweise zu veröffentlichen. Die Welt braucht mehr als diese 'Files'." Hanfeld verweist eher zustimmend auf die Antworten des ehemaligen Twitter-Chefs Jack Dorsey zu den Twitter Files, hier und hier. Mehr zu dem unübersichtlichen Thema hier.
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Geschichte

Oh nee, jetzt nicht noch eine Debatte über Bismarck. Es fing damit an, dass Annalena Baerbock aus postkolonialen Rücksichten das Bismarck-Zimmer im Auswärtigen Amt umbenannt hatte. Eckart Conze konnte daran wenig Falsches finden, die deutsche Politik seit 45 sei kaum von Bismarck geprägt (unser Resümee). Aber Bismarck habe unter den damaligen Zeitumständen das Verdienst, für lange Zeit Frieden geschaffen zu haben, antwortet heute der Historiker Hans-Christof Kraus: "Im Übrigen ist Bismarck, gerade was sein Verhältnis zum 1871 besiegten einstigen Gegner Frankreich anbetrifft, später immer wieder auf die Pariser Regierung zugegangen. Er hat sich - die ausführlichen französischen Diplomatenberichte aus den Achtzigerjahren belegen es vielfach - intensiv um eine erneute Verständigung mit Deutschlands westlichem Nachbarn bemüht."
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Stichwörter: Baerbock, Annalena

Religion

Die Kirchentheorie Joseph Ratzingers war stark protestantisch geprägt, erinnert der Theologe Friedrich Wilhelm Graf in der Welt: "Ratzingers Kirchentheorie enthielt immer auch eine harte Kritik an einer verbürgerlichten, allzu weltlich gewordenen 'Volkskirche', einer Kirche also, in der auch 'Taufscheinchristen' und Kirchenferne ihren Ort haben. Er setzte auf die ernsthaften Überzeugungstäter. Die 'Wahrheit des Glaubens' sei nur dann gegeben, wenn sie in individueller 'Wahrhaftigkeit' gelebt werde. Walter Kasper hatte durchaus recht damit, in Ratzingers radikalem Antiprotestantismus 1968 auch viele Spurenelemente eines protestantischen Subjektivismus zu entdecken. Mehr noch: Die Art, wie Ratzinger sich auf protestantische Diskurse bezog, ließ auch sektiererische Neigungen erkennen."
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Politik

Dass die Null-Covid-Politik nichts bringt, hätten die Chinesen wissen können, sagt die chinesische Schriftstellerin Fang Fang, die nach der Veröffentlichung ihres Wuhan-Tagebuches Publikationsverbot in China hat, im Tagesspiegel-Interview: "Unter meinen Freunden hat kaum einer die Null-Covid-Politik befürwortet. Wir haben einmal darüber diskutiert: Unsere Beamten haben zum größten Teil Hochschulbildung und wissen, dass eine Null bei Viren ein nicht realisierbares Vorhaben ist. Historisch gesehen, ist solche jedermann bekannte Absurdität in unseren Leben nicht ungewöhnlich. In den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben meine Eltern an der Kampagne zur völligen Ausrottung von Spatzen ('Null Spatzen') teilgenommen. Zu Beginn der Kulturrevolution habe ich mich selbst an der Kampagne zur völligen Ausrottung von Fliegen und Mücken ('Null Fliegen und Mücken') beteiligt. Und bis heute koexistieren Spatzen, Fliegen und Mücken mit uns." Ärzte, die die Null-Covid-Politik öffentlich kritisieren, seien allerdings am nächsten Tag arbeitslos, erzählt sie außerdem.
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Gesellschaft

Die Silvesterkrawalle sind sozial codiert, nicht kulturell, sagt der Sozialpsychologe Andreas Zick im Gespräch mit Sabine am Orde von der taz. Es gehe um bestimmte Männlichkeitsvorstellungen in sozial benachteiligten Vierteln: "In migrantischen Gruppen kann das wichtiger sein, aber nicht alle haben einen Migrationshintergrund, wir beobachten in der kriminologischen Forschung viel stärker heterogene Gruppen. Häufig geschieht es in Stadtteilen, die abgehängt oder prekär sind. Genau das wird mit Identität aufgeladen. Das hat aber eher wenig mit Migration und viel mehr mit Lebensverhältnissen und daraus entstehenden Identifikationen und Zugehörigkeitsgefühlen zu tun."

Und Eberhard Seidel sekundiert ebenfalls in der taz: "Die Jugend in Deutschland war nach 1949 noch nie so friedlich." Das sei statistisch erwiesen und habe mit der Vergreisung unserer Gesellschaft zu tun: "Je weniger Jugendliche es in einer Gesellschaft gibt, desto ruhiger und friedlicher, man könnte es auch abgeschlaffter nennen, wird sie. Ruhe ist das neue gesellschaftliche Normal. An diesen Zustand haben die Menschen sich gewöhnt. Das ist nicht gut. Jungproletarisches Aufbegehren gegen die Zumutungen des Lebens, jugendliche Ungeduld, radikaler Protest und Grenzverletzung, politischer Protest, konfrontatives Verhalten, Gesetzes- und Regelverstöße gehören zu einer dynamischen Gesellschaft."

"Die aktuellen Berliner Exzesse verkörpern (…) so etwas wie eine 'komplexe Normalität' unserer Einwanderungsgesellschaft", meint indes der Erziehungswissenschaftler Rainer Kilb in der FR: "Komplex insofern, weil sie in ihrer kollektiven Intensität diverse gesellschaftliche und personenbezogene Hintergrundprobleme sichtbar machen, als da sind: eklatante Mängel der Integration, städtischer Milieubildungen durch Segregation sowie einer Überlagerung normativer Orientierungsdilemmata, einerseits recht normal, durch adoleszente Identitätsrisiken, andererseits durch migrationskulturell verursachte Diffusitäten. Normal deshalb, weil nun einmal in den Metropolen und Ballungsräumen die Mehrheit der juvenilen Bevölkerungsteile einen Migrationshintergrund besitzt und zudem nicht unbedingt den einkommensstarken Schichten angehört. 'Normal' auch deshalb, weil sich in der Entwicklungsphase der Jugend ein Abgleich von Individuation und Sozialisation vollzieht und dieser Abgleich häufiger über Grenzverletzungen stattfindet."

"Der Rückgriff auf binäre Geschlechteridentitäten als Referenzpunkt, um für Nichtbinäres zu plädieren, ist reaktionär", schreibt die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin in der NZZ: "Denn den binären Geschlechteridentitäten liegt eine Schablone zugrunde: hier die Frau und Weiblichkeit, dort der Mann und Männlichkeit. Diese binäre Schablone reaktiviert Annahmen, die Simone de Beauvoir und eine ganze Generation von Feministinnen widerlegt und erfolgreich bekämpft haben: Gesellschaftliche Ausformungen und Bewertungen der Rollen von Frauen und Männern können nicht auf vermeintlich angeborene Weiblichkeit oder Männlichkeit reduziert werden. (…) Was bleibt denn von 'männlich' und 'weiblich' übrig angesichts der prinzipiellen Modifizierbarkeit von Gender und der vielfältigen Lebensentwürfe, die Frauen und Männer seit Simone de Beauvoir realisiert haben? Während Kleidung und Bemalung - aber auch soziale Rollen - Äußerlichkeiten sind, so berufen sich Nichtbinäre auch auf die Empfindung, sich sowohl männlich wie auch weiblich zu fühlen - oder als gar keines von beidem. Aber wie weiß ich, wie 'der' Mann oder 'die' Frau sich fühlt? Es sind die Sphären der Imagination, die so etwas ermöglichen, aber es ist eine Welt voller Trugschlüsse und Plattitüden."

"Es ist noch nie ein Mensch zur Transidentität verführt worden", sagt Georg Romer, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychotherapie des Universitätsklinikums Münster, bei dem Melanie Mühl für die FAZ nachgefragt hat, ob es einen "Trans-Hype" gibt: "'Wir haben, wenn es um medizinische Eingriffe geht, in jedem Einzelfall eine hohe ethische Begründungslast', sagt Romer. Manchmal zeige sich die Transidentität auch in besonders eindeutiger Weise. 'Es gibt tatsächlich Kinder, die mit einer eindrucksvollen Vehemenz einfordern, als Person mit dem anderen Geschlecht gesehen und auch angesprochen zu werden. Diese Kinder sagen nicht: 'Ich wäre lieber ein Mädchen beziehungsweise ein Junge', sie sagen: 'Ich bin ein Mädchen beziehungsweise ein Junge.' Auch bei diesen Fällen muss man natürlich immer den Eintritt der Pubertät abwarten.' Es wäre allerdings eine unverantwortliche Quälerei, eine vierzehnjährige Trans-Person, die klar in ihrer Identität angekommen und gefestigt sei, die komplette pubertäre Reifung bis ins Erwachsenenalter durchlaufen zu lassen."
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Ideen

Seit Krieg ist, hat auch Clausewitz wieder Konjunktur. Thomas Gerlach besucht für die taz zwei Clausewitz-Forscher und -Verehrer in Burg, Sachsen-Anhalt, wo Clausewitz geboren wurde. Es geht bei Clausewitz "um das Wesen dessen, was Armeen und Staaten einander antun, wenn sie Krieg führen", so Gerlach: "Was passiert, wenn zivile Regeln fallen? Wenn Hass das Handeln beherrscht? Wenn Dauerregen alle Ordnung auflöst? 'Vom Kriege' ist eine Art philosophische Betrachtung des Krieges, kein Handbuch für den Sieg. Darin heißt es etwa: 'Der Krieg ist mehr für den Verteidiger als für den Eroberer da, denn der Einbruch hat erst die Verteidigung herbeigeführt und mit ihr erst den Krieg. Der Eroberer ist immer friedliebend (…), er zöge ganz gern ruhig in unseren Staat ein.'"
Archiv: Ideen
Stichwörter: Clausewitz, Carl von