Efeu - Die Kulturrundschau

Sklave der Taktstriche

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.10.2018. Der Guardian lernt im Londoner Barbican Centre,  moderne Kunst und Moderne Liebe gehen Hand in Hand. Die taz beobachtet in der NGBK, wie die Schönheit von Gesten in ökonomische Strategie überführt wird. Außerdem feiert der haitianische Jazzsaxofonist Jowee Omicil in der taz die kreolische Mischung. Und zur zweiten Staffel der Neuköllner Clan-Serie "4 Blocks" stellt sich die Frage: Ist der Stoff high end oder ist er gestreckt?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.10.2018 finden Sie hier

Film

Großer Zeitdruck: Die zweite Staffel der Serie "4 Blocks"
Die im Berlin-Neuköllner Clan-Milieu angesiedelte Serie "4 Blocks" hatte mit ihrer ersten Staffel Maßstäbe für die hiesige Produktion gesetzt. Die nun anstehende zweite Staffel, diesmal inszeniert von Oliver Hirschbiegel und Özgür Yildirim, überzeugt ZeitOnline-Serienkritikerin Carolin Ströbele indessen gar nicht, insbesondere auch, weil sich in der Figurenentwicklung geradezu "schwarze Löcher" zwischen den beiden Staffeln auftun. "Man sieht der Fortsetzung an, dass sie unter großem Zeitdruck entstanden ist. ... Es ist verständlich, dass die Produktion schnell an den Erfolg des vergangenen Jahres anschließen wollte - die Erinnerungsspanne im Seriengeschäft ist schließlich kurz. Dafür wurde an der Handlung gespart. Oder, um es im 4-Blocks-Jargon zu sagen: Wenn der Stoff so gut ankommt, kann man ihn ruhig ein bisschen strecken. Vieles ist lieblos arrangiert und montiert." In der taz ist auch Jens Mayer unzufrieden: Die neuen Folgen "wirken gehetzt inszeniert, so viele Erzählstränge und Figuren müssen sie unterbringen."

Deutlich anders sieht es Claudia Schwartz in der NZZ: Zwar wundert auch sie sich darüber, dass manche Figuren im Staffelsprung wenig kontinuierlich wirken, doch ist "4 Blocks" für sie quasi das TV-Begleitprogramm zur Clan-Debatte der letzten Wochen: Die Serie "entwickelt ihre realistische Qualität, weil sich hier das Fernsehen einmal nicht als moralische Anstalt versteht. ... Die Sehnsucht, anzukommen und in der Mehrheitsgesellschaft anerkannt zu werden, breitet sich in immer größerer Verzweiflung im Bild aus. Bei den Männern mündet das in entgrenzte patriarchalische Brutalität."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel spricht Andreas Busche mit dem Filmemacher Paul Greengrass, der mit seiner Netflix-Produktion "22. Juli" nach Erik Poppes "Utøya 22. Juli" den zweiten Film über Anders Breiviks Terroranschlag gedreht hat. Fritz Göttler schreibt in der SZ zum Auftakt des Underdox-Festivals in München.

Besprochen werden Hüseyin Tabaks Dokumentarfilm "Die Legende vom hässlichen König" über den kurdisch-türkischen Filmemacher Yılmaz Güney (FAZ, taz), Drew Goddards Neo-Noir-Thriller "Bad Times at the El Royale" (Berliner Zeitung, taz, SZ), Bernadett Tuza-Ritters Dokumentarfilm "A Woman Captured" (taz), Vitali Manskis Putin-Doku "Putin's Witnesses" (NZZ), Paolo Sorrentinos Berlusconi-Satire "Loro" (NZZ), Christian Alvarts gleichnamige Verfilmung von Sebastian Fitzeks Thriller "Abgeschnitten" (Berliner Zeitung), Debra Graniks "Leave No Trace" (NZZ) und der Dokumentarfilm "Elternschule" (SZ).
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Kunst

Tamara de Lempicka: Les Deux Amies, 1923. Bild Association des Amis du Petit Palais, Geneve / Barbican Centre

Moderne Kunst
und moderne Liebe gehen Hand in Hand, lernt Guardian-Kritikerin Hettie Judah in der Ausstellung "Modern Couples" im Londoner Barbican Centre: "Die Ausstellung revidiert die allgemein akzeptierte Geschichte der modernen Kunst, in der männliche Künstler ihre Partnerinnen in den Schatten stelten, homosexuelle Paare übersehen und gemeinschaftliches Arbeiten vergessen wurde. 'Modern Couples' erkundet die Beziehung zwischen künstlerischen Menschen. Sie zeichneten, malten, fotografierten und schwärmten voneinander, besonders in Phasen des amourösen Rauschs, wenn der Körper des anderen ein erotisch höchst aufgeladenes Gebiet ist. Auf dem Höhepunkt ihrer Beziehung zu Auguste Rodin schuf Camille Claudel zarte Modelle von Paaren in inniger Umarmung. Georges Platt Lynes fotografierte Monroe Wheeler nackt und herrlich dösend auf den zerknitterten Laken eines zerwühlten Betts. Salvador Dalì und Federico García Lorca tauschten missgelaunt-leidenschaftliche Briefe aus."

Sehr instruktiv findet taz-Kritikerin Julia Gwendolyn Schneider die Ausstellung "Touch" in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin, die in vielfältiger Hinsicht Berührungen in der Kunst in den Blick nimmt. "Das Streichen über einen Touchscreen kommt der Geste des Streichelns recht nahe. Dabei kann die Urerfahrung des Streichelns in eine ökonomische Strategie überführt werden, die Nutzer stärker an Waren bindet als das umständliche Tippen auf Tasten. In seiner zweiteiligen Videoarbeit 'What Shall We Do Next?' (2007-2011 und 2014) geht Julien Prévieux auf die Geschichte der Patentierung physischer Gesten ein, wie das Wischen und Heranzoomen. Die Arbeit betont, wie Gesten zu kommerzialisierten Normierungsapparaten werden, die die menschliche Kommunikation mit Displays steuern."

Weiteres: Tagesspiegel-Kritikerin Elke Buchholz erlebt mit der Schau "Through a Forest Wilderness" den Düppeler Forst als Wildnis, Atelier und Galerie.

Besprochen werden die Ausstellung "Eco-Visionaries" im Haus für elektronische Künste in Basel, in der die Grenzen von Kunst zur medial aufbereiteten Wissenschaft fließen werden (NZZ) und eine Ausstellung der Fotografin Katharina Sieverding in Palermo (Tagesspiegel).
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Literatur

In Frankfurt ist natürlich immer noch Buchmesse: Sandra Kegel ist für die FAZ durch Georgien gereist, wo sich die Frauen zunehmend gegen rückwartsgewandte Bestrebungen zur Wehr setzen müssen. Andreas Fanizadeh (taz), Claus-Jürgen Göpfert (FR) und Julia Bähr (FAZ-Blog) berichten von einer Diskussion zwischen der kroatischen Schriftstellerin Ivana Sajko, dem belgischen Schriftsteller Stefan Hertmans und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier über Literatur und Politik. Fridtjof Küchemann stattet dem georgischen Pavillon einen Besuch ab.

Weitere Artikel: "Das Leben in Russland ist viel fantastischer als in jedem Fantasy-Roman", sagt der russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky im Standard zu seiner Entscheidung, sich nach Science-Fiction-Romanen nun dem Genre des realistischen Polit-Thrillers zuzuwenden: "Die politische und soziale Realität ist viel bizarrer, als ich mir das jemals hätte ausdenken können." Gerrit Bartels berichtet im Tagesspiegel von seinem staunenden Besuch im Simenon-Archiv in Lausanne, wo ihm John Simenon "immer neue Trouvaillen" präsentiert. Oliver Ristau hat für den Tagesspiegel das Comicfestival in Hamburg besucht, das sich erfreulich klischeefrei präsentierte - auch wenn sich in den Geschichten weiterhin hauptsächlich männliche Protagonisten in Abenteuer stürzen. Für die NZZ blättert Andrea Köhler nach, wie Schriftsteller den Herbst beschreiben.

Besprochen werden die gesammelten Essays von David Foster Wallace (Berliner Zeitung), Nino Haratischwilis "Die Katze und der General" (Welt), die Neuauflage von Jörg Schröders "Siegfried" (Tagesspiegel), Tamar Tandaschwilis "Löwenzahnwirbelsturm in Orange" (Tagesspiegel), Wolf Haas' "Junger Mann" (Tagesspiegel), eine Victor-Hugo-Ausstellung in Paris (FAZ) und Christoph Heins "Verwirrnis" (FAZ).
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Bühne

Im Standard porträtiert Helmut Ploebst die in Wien lebende chilenisch-mexikanische Choreografin Amanda Piña, die seit nahezu zehn Jahren mit der Werkreihe "Endangered Human Movements" gegen den Eurozentrismus anarbeitet: "Das Großprojekt soll den Europäern vermitteln, dass deren 'Moderne' und Definition dessen, was zeitgenössisch zu sein hat, nicht mehr die alleingültige Perspektive ist. 'Migrantin zu sein ist eine interessante Position, um künstlerisch zu arbeiten. Aber ich fühle mich nicht verpflichtet, über Kolonialismus zu reflektieren. Es ist einfach meine Agenda.'"
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Musik

Große Freude hat Franziska Buhre an der Musik des kanadisch-haitianischen Jazzsaxofonisten Jowee Omicil, dessen neues Album "Love Matters" von Musikern getragen wird, "die Gemeinschaft zelebrieren." Für die taz hat sie Omicil porträtiert, der sehr nüchtern auf die Kolonialgeschichte Haitis blicke: "'Wir sind alle kolonisiert worden, sei es durch Briten, Franzosen oder Portugiesen. Ich identifiziere mich mit der Mischung, die als kreolisch angesehen wird. Für mich ist sie eine Kraft, eine ganze Welt.' Den Karneval auf Haiti liebt er: 'Das ist der heißeste. Wegen der Unabhängigkeit haben die Menschen dort noch immer diesen kämpferischen Instinkt. Ich verwende Rara-Codes in meiner Musik. Diese Klänge sind sehr spirituell. 'Rara' bedeutet 'Straße'; wir haben die Geister der Straße angerufen während der Aufnahmen. Das setzt sehr viel Energie frei.'" Bei Youtube gibt es ein ziemlich prächtiges Video aus dem aktuellen Album:



Weiteres: In der FAZ plaudert der Gitarrist und Sänger Marc Ribot anlässlich seines Albums "Songs of Resistance" über die Geschichte und Ästhetik des Protestsongs: Was hilft es, gegen das System zu rebellieren, aber Sklave der Taktstriche zu bleiben?" Im Zeit-Dossier spricht die 78-jährige Tina Turner im Interview über die Beschwernisse des Alters, ihre Kindheit in Tennessee, ihren prügelnden Ehemann Ike Turner - kurz: ihre Biografie, die sie gerade in einem Buch beschrieben hat. Besprochen werden das Debüt der in Berlin lebenden australischen Band Parcels, die die 70er hoch leben lassen (SZ), und das Debütalbum der Linzer Band Flut, die sich wiederum vor den Achtzigern verneigen, was Standard-Kritiker und Zeitzeuge Christian Schachinger zumindest ein bisschen in die Verzweiflung treibt: "Wir Alten haben damals genug gelitten. Oder wollt ihr uns ärgern?"

Archiv: Musik