Heute in den Feuilletons

4000 Gewehre zur Großen Halle des Volkes

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.06.2009. Das Blog Liza's Welt wundert sich über das Schweigen der Weltöffentlichkeit zu den Vorwürfen gegen Sri Lanka. Die taz schreibt die Geschichte des 2. Juni nicht um. In Huffington Post hält Bernard-Henri Levy an seiner Kritik an Faruk Hosni fest. Die SZ konstatiert: Wikipedia funktioniert. Die Blogosphäre nicht. In der FAZ fragt sich Meinhard Miegel, wie man mit Mitteln, die gar nicht vorhanden sind, die Welt retten will. Die FR bringt einen Text von Ma Jian zum Massaker am Tiananmen-Platz. In der Welt begründet der Chefhistoriker des Vatikans, warum der Vatikan im Falle Galilei im Recht war.

FR, 03.06.2009

Der chinesische Schriftsteller Ma Jian ist zwanzig Jahre nach dem Massaker vom Tiananmen nach Peking zurückgekehrt und hat dort unter anderem den früheren Soldaten Chen Guang getroffen. Der heute als Künstler arbeitende Chen Guang erzählt Folgendes: "'Wir waren 7000 Soldaten', sagte er und steckte sich die nächste Zigarette am Stummel der letzten an. 'Ich hatte den Auftrag, unsere 4000 Gewehre zur Großen Halle des Volkes zu transportieren. Ich verkleidete mich als Student und lud die Gewehre in einen Stadtverkehrsbus, den die Armee konfisziert hatte. Als der Fahrer auf der Changan Avenue durch die dichte Menschenmenge fuhr, hatte ich große Angst, dass die Studenten hochspringen und sehen könnten, dass der Boden des Busses voll mit Gewehren war, also lehnte ich mich hinaus, grinste und machte das Victory-Zeichen... Am 4. Juni um Mitternacht wurden die Tore der Großen Halle des Volkes geöffnet. Draußen herrschte Chaos. Spezialeinheiten in Tarnanzügen gingen mit Bajonetten auf die verbliebenen Studenten los. Ich sah, wie Soldaten einen Studenten niedertraten und ihm mit ihren Gewehrgriffen den Schädel einschlugen. Ich hörte Maschinengewehrfeuer in der Ferne und sah, wie die Statue der Göttin der Demokratie von einem Panzer gerammt wurde und zu Boden fiel...'"

Weiteres: Peter Michalzik blickt auf Elisabeth Schweeger Intendanz am Frankfurter Schauspiel zurück. In Times mager weist Ina Hartwig auf den Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und Gershom Scholem hin, den die Zeitschrift Sinn und Form in ihrer neuen Ausgabe veröffentlicht. Robin Celikates verfolgt Philippe Descolas Jensens Vorlesungen am Frobenius-Institut in Frankfurt. Besprochen wird Vivaldis Zauberspektakel "Orlando furioso" in Basel.

Auf der Medienseite macht Tilmann Gangloff seinem generellen Unmut über die ARD Luft, bei der dank dezentraler Organisation jeder in eine andere Richtung rundern könne: "Charakterköpfe jedoch, die auch mal polarisieren, sucht man im 'Ersten' vergeblich."

NZZ, 03.06.2009

Der Wirtschaftsethiker Peter Koslowski stellt klar, dass fehlendes Vertrauen absolut kein Problem für das Finanzgeschäft ist: "Das Finanzsystem beruht nicht auf Vertrauen, sondern auf Sicherheiten, auf gesichertem Kredit. Weder vertrauen die Banken ihren Kunden, noch sollten die Kunden den Banken vertrauen. Beide müssen Sicherheiten vorweisen, damit man ihnen Kredit bzw. Vertrauen gibt." Und deswegen hält er auch die Bail-out-Politik für sehr problematisch: "Mit der Verschleierung von Bankrott Vertrauen wiederherzustellen, ist so, wie Feuer mit Feuer zu löschen."

Weiteres: Im Interview mit Samuel Herzog erläutert Kurator Daniel Birnbaum unter Aufzählung zahlreicher beteiligter Künstler seine Vorstellungen für die Biennale in Venedig. Besprochen werden eine Ausstellung der japanischen Stararchitekten Yui und Takaharu Tezuka im DAM in Frankfurt, Sam Mendes' Brückenprojekt mit Tschechow und Shakespeare im Londoner Old Vic Theatre, Steffen Siegels Buch über Wissensgesellschaften "Tabula" und Kinderbücher.

TAZ, 03.06.2009

Nach dem Vorbild der "Lebensläufe" von Alexander Kluge erzählt Ekkehard Knörer, trocken und ohne Kommentar, die windungsreiche Biografie des Karl-Heinz Kurras, Auszug: "Der Todesschuss und die Urteile der Gerichte passen für die revoltierende Linke ins Bild. Dass K. selbst nicht hineinpasst in das Bild, weiß zu dem Zeitpunkt außer ihm und dem MfS keiner. Drei Jahre bleibt K. suspendiert, 1970 ist er wieder im Dienst. Die Arbeit fürs MfS nimmt er nicht wieder auf. Seinem Sohn schenkt er zu dessen zehntem Geburtstag die erste Waffe."

Stefan Reinecke hält in einem Besinnungsaufsatz zur Angelegenheit fest: "Die Idee, man müsse nun die Geschichte der Republik umschreiben, ist nicht weniger irre als der Fall Kurras selbst. Wir können in dessen vermutlich schwarze Seele nicht hineinschauen. Aber vieles spricht dafür, dass Waffennarr Kurras ein ins Psychopathologische gesteigerter autoritärer Charakter ist, dem der Korpsgeist der Westberliner Polizei ebenso zusagte wie die Stasi-Hierarchie." (Was heißt das eigentlich, dass man die Geschichte nicht umschreibt - soll man nicht erwähnen, dass ein neues Element zu ihrem Verständnis hinzugekommen ist?)

Außerdem: Isolde Charim schreibt zu den Europawahlen. Besprochen wird der neue "Terminator"-Film.

Und Tom.

Aus den Blogs, 03.06.2009

Der UN-Menschenrechtsrat hat eine Resolution angenommen, nach der die srilankische Kriegsführung gegen die Tamil Tigers in den letzten Tagen nicht untersucht werden soll. Dabei gab es hier offensichtlich ein doppeltes Verbrechen: Die Tamil Tigers verschanzten sich in Flüchtlingslagern und nahmen Zivilisten als Schutzschilde, und die Truppen, so scheint es, haben nach Ausweisung von Journalisten und NGOs gnadenlos drauf gefeuert. Das Blog Liza's Welt kommentiert: "Im Unterschied etwa zum Vorgehen der israelischen Armee gegen die Hamas lässt sich das, was die srilankischen Truppen insbesondere in diesem Jahr veranstaltet haben, nicht mehr mit dem Verweis auf die Notwendigkeit der Terrorabwehr rechtfertigen. Dennoch rief die Schlächterei der srilankischen Einheiten - im Gegensatz zu den Militärschlägen der israelischen Armee gegen den Raketenterror aus dem Gazastreifen - kaum Protest in der Öffentlichkeit hervor, wiewohl die Zahl der Opfer um ein -zigfaches höher liegt als in Gaza und massive Angriffe auf Zivilisten nicht die Ausnahme, sondern die Regel waren."

In der Huffington Post antwortet Bernard-Henri Levy auf die Äußerungen des Bedauerns von Seiten des möglichen neuen Unesco-Chefs Faruk Hosni, den Levy wegen Antisemitismus' attackiert hatte: "He does not even try to downplay the determination with which he, a minister of the first Arab country credited with having established, under Anwar Al Sadat, quasi-normal relations with the Jewish State, is attempting to curb this normalization, to prevent it, to sabotage it. He contents himself, he says, with simply 'regretting' these horrible remarks."

Berliner Zeitung, 03.06.2009

Oje, Karstadt am Hermannplatz wird achtzig Jahre alt! Daniela Pogade schreibt: "Am 21. Juni 1929, im Jahr der Weltwirtschaftskrise, öffnete Karstadt am Hermannplatz mit großem Effekt. Jetzt, in diesem Jahr einer neuerlichen Weltwirtschaftskrise muss es vielleicht für immer schließen, da dem Mutterkonzern die Insolvenz droht. Eigentlich würde bald das runde Jubiläum gefeiert. Nun aber hat das Haus das Pech, sich zum Sinnbild für den Niedergang des klassischen Warenhauses zu eignen."

Spiegel Online, 03.06.2009

Christian Stöcker kommentiert den Riesenerfolg der Petition gegen Ursula von der Leyens Internetzensurplänen: "Die Überraschung unter den politischen Spitzenkräften Berlins in den vergangenen Wochen war kaum zu übersehen. Etwas Unerhörtes war passiert. Eine neue politisch-gesellschaftliche Frontlinie ist sichtbar geworden, eine, die das Klima in diesem Land auf Jahre hinaus prägen könnte."
Stichwörter: Leyen, Ursula von der

Welt, 03.06.2009

Der Vatikan hat zum Jahr der Astronomie eine historisch-kritische Ausgabe der Prozessakten zum Fall Galileo Galilei veröffentlicht. Die Kirche muss sich nicht für die Verurteilung des Wissenschaftlers schämen, meint der Chefhistoriker des Vatikan, Walter Brandmüller, im Interview. "Die war wohl begründet. Der formale juristische Grund bestand darin, dass er die Druckerlaubnis für seinen 'Dialogo' auf unlautere Weise erschlichen hat. Dadurch mussten die römischen Behörden sich an der Nase herum geführt fühlen. Und dann stand eben die Forderung des Heiligen Offiziums im Raum, Galilei möge doch seine Theorie über den Heliozentrismus als astronomische, physikalische Hypothese vertreten und eben nicht als exakte Beschreibung der kosmischen Realität. Genau damit hat die Heilige Inquisition damals aber schon den wissenschaftstheoretischen Standpunkt vorweg genommen, den die modernste theoretische Physik heute einnimmt - und nicht Galilei. Das war der Kern des Streits. Es war wirklich ein Witz: In naturwissenschaftlicher Hinsicht war die Inquisition im Recht - und Galilei mit seiner Bibelerklärung!"

Weitere Artikel: GM kann man nur retten, indem man GM tötet, ruft Michael Moore in einem Artikel, den die Welt aus der Huffington Post übernommen hat. Matthias Heine singt schon mal den GM-Automarken Cadillac und Chevrolet ein trauriges Abschiedslied. Hendrik Werner fordert "die Entrechteten" auf, sich gegen die Buchdigitalisierung durch den "vermögenden Internetraffke Google" zu wehren (wie überaus vorbildlich sich dagegen der Springer Verlag für die Rechte seiner Autoren einsetzt, kann man hier nachlesen). Reinhard Wengierek berichtet vom Theater- und Musikfestival im norwegischen Bergen. Kai Luehrs-Kaiser legt sich der Geigerin Patricia Kopatchinskaja zu Füßen, die er "Wildfang" und "moldawische Wundergeigerin" nennt. Hannes Stein schickt einen Brief aus Harlem über den Tod des Polizisten Omar J. Edwards. Besprochen werden einige neue CDs.

Eine ganze Seite ist dem neuen "Terminator"-Film gewidmet: Peter Zander zeigt sich in seiner Kritik nicht begeistert. Rüdiger Sturm porträtiert den "Terminator"-Produzenten Moritz Bormann. Hanns-Georg Rodek entwickelt schon mal die nächsten Folgen. Und dann gibt es noch ein Interview mit dem Regisseur McG.

SZ, 03.06.2009

Unter Rückgriff auf einen Artikel von David Runciman in der LRB (unser Hinweis und Link in der Magazinrundschau) und ein Buch Cass Sunsteins (nachlesen bei Google Books) muss Johan Schloemann feststellen: Wikipedia funktioniert. Das Gerede von der Unzuverlässigkeit und mangelnden Seriosität ist verstummt. Ganz ohne Internetbashing kann so ein Artikel in der SZ aber nicht enden: "Nach vielen naiv-euphorischen Einlassungen über die 'Weisheit der vielen' (wird) jetzt präziser unterschieden, wo Wissens-Aggregation im Internet einen Gewinn bringt und wo nicht. Einerseits sind mehrere Institutionen dabei, ihre internen Abläufe nach Wiki-Prinzip sinnvoll zu verbessern. Andererseits urteilen beide Autoren schneidend klar, dass die Blogosphäre mit ihren Debattenforen, ganz anders als Wikis, insgesamt als Raum weiterführender Deliberation versagt - dort, in den 'selbstgeschaffenen Echokammern' (Sunstein), dominieren Rechthaber und sabotierende Schmierfinken."

Weitere Artikel: Stefan Koldehoff berichtet, dass ein Teil der Kunstsammlung des Verlegers Samuel Fischer im Tresor einer Schweizer Bank gefunden wurde, wo der Schatz von einem ehemaligen hohen Nazifunktionär gehortet wurde. Und Türkei-Korrespondent Kai Strittmatter ist nach Thessaloniki gereist, wo er über die Buchmesse mit ihrem Ehrengast Deutschland flanierte.

Besprochen werden Ereignisse der "Tage Alter Musik" in Regensburg, der Film "Terminator - Die Erlösung", die Ausstellung "Der große Virtuose - Jacob Backer" in Aachen, die wiederentdeckte Oper "Demofoonte" des wieder zu entdeckenden Komponisten Niccolo Jommelli in Salzburg, Konzerte des Moerser Jazzfestivals (die Karl Lippegaus verblüfften, so "überraschend bis genial, anstrengend und anregend, aber vor allem endlich einmal neu" war das, was er da hörte), Vivaldis Oper nach "Orlando Furioso" in Basel und die große Ausstellung über das deutsch-polnischer Verhältnis in Berlin.

FAZ, 03.06.2009

Gar nichts hält der Wirtschaftswissenschaftler Meinhard Miegel von allem, was derzeit als Finanz-Krisen-Rettungsmaßnahme verkauft wird. Das wird nur, prophezeit er, noch tiefer ins Unglück führen: "Allein die großen Länder haben für Kredite, Bürgschaften, Rettungsschirme und was weiß ich etwa sieben Billionen Dollar Steuergelder in Aussicht gestellt. Diese Mittel sind doch gar nicht vorhanden. In der ersten Krise dieses Jahrzehnts wackelten Unternehmen. In dieser Krise wackeln Unternehmen und Banken. Und in der nächsten, die jetzt vorbereitet wird, werden Unternehmen, Banken und Staaten wackeln. Dann kann nur noch der liebe Gott Rettungsschirme aufspannen."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Peter Schneider wehrt sich gegen Vorwürfe von Wolfgang Kraushaar, er zeige sich auch nach der Enttarnung von Karl-Heinz Kurras als Stasi-Mann unbelehrbar. In der Glosse hat Dirk Schümer Neues über "Papi" Berlusconis schöne junge Frauenbekanntschaften zu berichten. Oliver G. Hamm blickt mit Wohlgefallen auf ein vom japanischen Architekten Toyo Ito als Hommage an Antonio Gaudi entworfenes Apartmenthaus in Barcelona. Patrick Bahners hat Einzelheiten zur Rolle, die die Dresdner Bank beim Kauf des Welfenschatzes im Jahr 1935 spielte. Swantje Karich schreibt zum Tod des im Alter von 100 Jahren verstorbenen Berliner Galeristen Rudolf Springer. Auf der Medienseite berichtet Josef Oehrlein über einen Fernsehmarathon in Venezuela, bei dem Hugo Chavez erst nicht mit Mario Vargas Llosa diskutieren wollte und dann nach zwei von vier Tagen ganz aufgab. Jordan Mejias verabschiedet Jay Leno, begrüßt Conan O'Brian in der US-Fernseh-Institution "Tonight Show".

Besprochen werden die Ausstellung "Klaus Staeck: Schöne Aussichten" in Berlin, die Ausstellung "Weimar 1919. Chancen einer Republik" in Weimar, der Action-Film "Terminator - Die Erlösung" und Bücher, darunter Kate Berridges "Madame Tussaud"-Biografie (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).