9punkt - Die Debattenrundschau

Kognitive Dissonanzen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.12.2015. Slate.fr lernt aus der Statistik zu den französischen Regionalwahlen einiges über soziale Diskriminierung in Frankreich. In Libération erklärt der Filmemacher William Karel, warum François Mitterrand einen kritischen Film zu seinem zwanzigsten Todestag verdient. SZ und taz fürchten eine Gleichschaltung der South China Morning Post nach dem Verkauf an Alibaba. Im New Stateman verabschiedet John Gray die Idee der Freiheit, wenn sie auf Anarchie hinausläuft. Fusion.net schildert das traurige Leben der Youtube-Stars.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.12.2015 finden Sie hier

Europa

Zu den peinlichsten Einsichten der französischen Regionalwahlen zählen die Erkenntnisse über die jungen Wähler: 65 Prozent von ihnen haben im ersten Wahlgang nicht gewählt. Und die, die gewählt haben, haben zu 35 Prozent für den Front national gestimmt - bei den über Sechzigjährigen waren es nur 20 Prozent. Noch schlimmer die Statistik unter den Wählern ohne Schulabschluss - 50 Prozent von ihnen wählten FN. Diese Wähler haben durchaus Gründe, sich ausgeschlossen zu fühlen, meint Louise Tourret in Slate.fr. Keinen Schulabschluss zu haben ist in Frankreich fataler als in anderen Ländern und mindert die Chancen, je in den Arbeitskreislauf zu kommen viel mehr als zum Beispiel in Deutschland: "Das ist ein Riesenthema für die Demokratie. Wie soll man nicht Wut oder Entmutigung fühlen, wenn sich schon mit 16, 20, 25 alle Türen vor Ihnen schließen? Das ist es, was ich den Wahlstatistiken entnehme."

Einige syrische Flüchtlinge dürften durchaus antisemitisch denken, meint der Antisemitismushistoriker Jeffrey Herf in der Welt. Syrien gehörte unter Hafez al-Assad und seinem Sohn zu den schlimmsten Feinden Israels und unterstützte extremistische Palästinenser jenseits der PLO Arafats: "Es ist klar, dass wenigstens einige der in Deutschland eintreffenden syrischen Flüchtlinge die Geschichten ihrer Eltern und Großeltern über den Kampf gegen Israel im Gepäck haben. Diese Familienerzählungen dürften durch die ständige Regierungspropaganda verstärkt worden sein, die seit Jahrzehnten Israel verurteilt und Angriffe gegen den jüdischen Staat feiert."
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Urheberrecht

Lothar Müller vesteht in der SZ den Protest von Autoren und Verlegern gegen die Novellierung des Urheberrechts nur zu gut. Die Fünf-Jahres-Klausel stärke nicht die Autoren, sondern die internationalen Konzerne: "Wenn die Autoren nun gegen eine Stärkung der Urheberposition Einspruch erheben, die auf der strukturellen Schwächung der Verlagsseite beruht, dann heißt das vor allem: Wir wollen auf dem künftigen Markt nicht allein sein mit den Global Playern, die als Distributor oder Suchmaschine begonnen haben, aber mehr und mehr ins klassische Verwertergeschäft - auch in die Buchbranche - einsteigen." Äh, sind die globalen Player hier nicht erstmal Holtzbrinck und Bertelsmann?
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Stichwörter: Suchmaschinen, Urheberrecht

Kulturpolitik

Felix Ackermann schildert in der NZZ, welche Häme sich Swetlana Alexijewitsch in Belarus gefallen lassen muss, das sich so gar nicht über seinen ersten Nobelpreis nach 25 Jahre Unabhägigkeit freuen woltle. Unter anderem als Heulsuse oder Putzfrau wurde sie tituliert: "Präsident Lukaschenko ging darauf nicht ein und begann schon bald, nicht namentlich genannte Künstler als 'vaterlandslose Gesellen' zu kritisieren, die 'eimerweise Gülle über ihrer Heimat ausgießen'."

Für die Welt besucht Johny Erling neue Räume des Goethe-Insituts in Peking. Und Rose-Maria Gropp unterhält sich in der FAZ mit Bernhard Maaz, dem äußerst diplomatisch gestimmten Chef der Pinakotheken, über das Kulturgutschutzgesetz und die Auswirkungen auf die großen Museen.
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Gesellschaft

Lange stand das Modell Barcelona für eine soziale Stadt des öffentlichen Raums, heute für luxussanierte Ferienwohnungen und Hostels in allen Barrios. Der Architekt Josep María Montaner will als neuer Baudezernent wieder eine Stadt für die Bürger schaffen, wie er im taz-Interview erklärt: "In den letzten 10 Jahren haben sich die Zahlen vervielfacht, von 2 auf 10 Millionen Besucher. Wenn ich die Kreuzfahrtschiffe hinzuzähle, können bei jedem neuen Schiff 20.000 hinzukommen. Der neue Tourismus ist grenzenlos, konsum­orientiert, schnelllebig und oberflächlich. Hält das an, bringt er die Stadt zum Kollaps."
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Geschichte

William Karel hat einen kritischen Film zum zwanzigsten Todestag von François Mitterrand gemacht, der gestern Abend auf Arte Frankreich lief und die Empörung der obersten Mitterrand-Höflinge - allen voran Jack Lang - provoziert hat. (Die Deutschen dürfen den Film am Donnerstag früh um 9 Uhr sehen.) Im Gespräch mit Libération äußert sich Karel zu den Kritiken: "Arte hat hatte nach meinem Sarkozy-Film die Idee zu diesem Film... Es wird so viele Hommagen zu seinem Todestag geben, dass ich Lust hatte, die Schattenseiten seiner Päsidentschaft auszuleuchten. Man erinnert sich, dass er die Todestrafe abgeschafft hat, aber man muss sich auch erinnern, dass er als Innenminister in den fünfziger Jahren fünfzig Algerier guillotinieren ließ."

Eike Vogel erinnert in der Berliner Zeitung daran, wie die DDR-Führung vor fünfzig Jahren, auf dem 11. Plenum des SED-Zentralkomitees einen kulturpolitischen Kahlschlag gegen Nihilismus, Pornografie und Skeptizismus beschloss: "Die Schriftstellerin Christa Wolf saß damals als ZK-Kandidatin in der 'Kahlschlag'-Sitzung - und hielt dagegen, forderte Freiheit für die Kultur. Kunst sei nun einmal nicht möglich ohne Wagnis. Ein mutiger Auftritt."
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Internet

Sehr viel retweetet heute in den sozialen Medien: Gaby Dunns Artikel in fusion.net über das schwierige Leben von Youtube-Stars: "Die meisten Stars der sozialen Medien sind zu sichtbar, um noch 'reale' Jobs zu haben und zu pleite, um darauf zu verzichten. Plattformen wie Youtube spiegeln den enormen Wohlstandsunterschied der amerikanischen Wirtschaft wider. Wer bei Youtube nur zur 'Mittelklasse' gehört, muss täglich mit der kognitiven Dissonanz zwischen einem vollen Kommentarthread und einer leeren Geldbörse umgehen."
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Medien

Der Verkauf der South China Morning Post an den Alibaba-Konzern für läppische 266 Millionen Dollar ist eine "Zäsur für die Pressefreiheit in Hongkong". Leider nicht gerade eine Zäsur in richtung Demokratisierung, meint Kai Strittmatter in der SZ: "Alibaba-Manager und ihre Berater erklärten nun gleich nach dem Kauf, die SCMP solle in Zukunft ein Gegengewicht zur 'ideologisierten und voreingenommenen' Berichterstattung der westlichen Medien über China werden (so Eric X. Li, ein bekannter Shanghaier Investment-Manager und KP-freundlicher Autor, der Alibaba bei dem Kauf beriet). Zu dem Zweck will Alibaba der Zeitung mit der im Moment eher bescheidenen Auflage von knapp 100.000 helfen, eine 'globale Leserschaft' zu finden."

Dass Alibaba-Chef Jack Ma mit dem Kauf der South China Morning Poste einfach Jeff Bezos nacheifern will, der sich die Washington Post geangelt hatte, glaubt Felix Lee in der taz nicht: "Während im Fall Amazon vor allem unternehmerische Interessen befürchtet wurden und werden, wird bei Alibaba um die politische Unabhängigkeit des Blatts gebangt."

In der SZ berichtet Florian Hassek, wie Polens neue Regierung reihenweise nicht genehme Journalisten aus dem staatlichen Fernsehen wirft: "Was etwa Lis, Kraśko und Tadla angehe, hätten ihn 'die Wähler informiert, dass sie genug von ihnen haben', sagt Krzysztof Czabański, ein Vertrauter Kaczyńskis und neuer Regierungsbevollmächtigter für die Umgestaltung der Staatsmedien."
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Ideen

Nicht der Staat sei im Moment das Problem, sondern der schwache Staat, meint John Gray im New Statesman und verabschiedet fürs erste die Vorstellung von einer freien Welt: "Depoten im Namen der Freiheit zu stürzen hat dazu geführt, dass unsere eigene Freiheit auf dem Spiel steht. Gemäß dem liberalen Katechismus ist Freiheit ein geheiligter Wert, vorrangig und unteilbar. Die großen Theorien der Menschenrechte haben beteuert, dass eine strikte Begrenzung staatlicher Macht unerlässlich ist für den Rechtsstaat. Nicht beachtet wurde aber, dass endemische Anarchie einer zivilisierten Existenz hartnäckiger im Wege stehen kann, als viele Arten des Despotismus."

Mario Schärli berichtet von einer Freiburger Tagung über Heidegger, die 'Schwarzen Hefte' und die Verbindung von Philosophie und Ideologie.
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