Vorgeblättert

Leseprobe zu Eva Züchner: Der verschwundene Journalist. Teil 2

25.02.2010.
S.21 ff

Volontariat in Dresden

Operette, "Entartete" Kunst, Clowns und Lokales beim Dresdner Anzeiger

 Am 24. April 1933 beginnt Gerhart Weises Ausbildung zum Schriftleiter bei der regionalen Tageszeitung Dresdner Anzeiger. 1730 gegründet, ist sie die älteste in Dresden erscheinende Zeitung überhaupt. Vor zwei Jahren im Freiheitskampf noch als "gutbürgerlich" geschmäht, ist sie nun, unter der Regie des neuen Hauptschriftleiters Curt Weithas, von makelloser Linientreue. In der Ausgabe vom 24. April sind "Die Aufgaben der Presse" nachzulesen, die Reichspressechef Otto Dietrich am Tag zuvor im Preußischen Landtag in Berlin verkündet hat: "Wir deutschen Journalisten [?] empfinden es dankbar und mit Genugtuung, daß die Regierung der nationalen Revolution die große Bedeutung der Presse und ihre Macht nicht nur anerkennt, sondern auch ihre Mitarbeit an dem großen Wiederaufbauwerk der Nation hoch einschätzt. Wir wollen uns der Ehre, in vorderster Front des Lebenskampfes der Nation stehen zu dürfen, würdig erweisen und die deutsche Presse in Zukunft zu einer scharfgeschliffenen Waffe deutscher Politik und damit des deutschen Volkes werden lassen." Auch Hans Hinkel - der ebenfalls, und zwar 1944, auf dem Zenit seiner Macht, Gerhart Weises Vorgesetzter sein wird - hat im ­ Preußischen Landtag das Wort ergriffen: "Wir sind der Überzeugung, daß auch der Neuaufbau des deutschen Theaters sich nur durchführen läßt, wenn die Kunst in Deutschland wieder Volkskunst ist. Daran muß die deutsche Presse im Sinne der Bluts-, Art- und Wesensgemeinschaft wieder lebendigsten Anteil nehmen. Daraus ergibt sich, daß insbesondere die kulturpolitischen Journalisten Menschen unserer Art und unseres Blutes sein müssen." Hier spricht der Parteijournalist und Reichsorganisationsleiter des Kampfbundes für deutsche Kultur. Dieser Verein, vom Chefideologen Alfred Rosenberg Ende der zwanziger Jahre gegründet, hat sich die Bekämpfung des "Kulturbolschewismus" und die Förderung einer "artbewussten" Kultur aufs Panier geschrieben. Ab Juli 1933 wird Hinkel zusätzlich als Staatskommissar und Reichskulturwalter den Kulturbund Deutscher Juden überwachen und ab 1935 als Leiter des "Sonderreferats Judenfragen" die "Entjudung" des deutschen Kunst- und Kulturlebens vorantreiben.
      Noch bevor der junge Gerhart sein Volontariat antritt, ist das neue "Kunst- und Kulturleben" in Dresden schon weit gediehen. Im März 1933 wird Fritz Busch, der international hoch angesehene Generalmusikdirektor des Dresdner Opernhauses, aus dem Amt gejagt, ernennt die neue Stadtverwaltung den neuen Reichskanzler zum Ehrenbürger der Stadt und beschließt die Umbenennung des Theaterplatzes in Adolf-Hitler-Platz. Ich muss mich zudem mit dem Gedanken vertraut machen, dass auch die erste Bücherverbrennung, die im neuen Deutschen Reich stattfindet, den Beifall des damaligen Oberprimaners gefunden hat: durchgeführt von SA-Trupps am 8. März 1933 auf dem Wettiner Platz, sozusagen als Generalprobe für die am 10. Mai reichsweit durchgeführte Aktion "wider den undeutschen Geist". Ob der junge Gerhart jemals die Dresdner Museen von innen gesehen hat, bevor sie 1933 Reichsstatthalter Mutschmann unterstellt werden, steht dahin. Hat er dort die Werke moderner Kunst - der Brücke- und Bauhaus-Maler oder die von Dix, Grosz, Felixmüller, Schwitters - zu Gesicht bekommen, bevor sie als jüdisch-bolschewistischer Dreck der allgemeinen Ächtung anheimgefallen sind? Dass die Kunstakademie ihren Professor Otto Dix Anfang April 1933 fristlos entlässt, hat ihn vermutlich kaum interessiert, aber sicherlich hat er einen Monat zuvor, gleich nach dem Wahlsieg "seiner" Partei, die Hakenkreuzfahnen bewundert, die von SA und SS auf dem Dach der Kunstakademie an der Brühlschen Terrasse aufgepflanzt worden sind. So gut wie alle politischen und kulturellen Schaltstellen der sächsischen Landeshauptstadt sind nach der "Machtergreifung" in kürzester Zeit von Parteigenossen besetzt worden. Es ist anzunehmen, dass der Zwanzigjährige den rasanten ideologischen Umbau des weltberühmten "Elbflorenz" zur Hochburg des Nationalsozialismus als triumphalen Sieg der "Bewegung" erlebt hat.
 
An seinem ersten Arbeitstag wird Gerhart Weise den Dresdner Anzeiger von A bis Z gelesen und sich die Maximen der neuen Presse- und Kulturpolitik eifrig zu eigen gemacht haben, weit davon entfernt, seine Verblendung auch nur zu erahnen. In den Ausgaben der Monate April bis August finde ich in der Zeitung keine Spur des Auszubildenden. Vermutlich wird der neue Volontär erst einmal als Beobachter durch alle Ressorts geschleust und darf seine ersten kleinen Artikel noch nicht namentlich kennzeichnen. Im September dann bekommt er die Initialen "G. W." zugewiesen und wird zunächst ins Residenz- und Zentral-Theater geschickt, um über Operetten-Premieren zu berichten. Ein ironischer Hauch liegt über seinen stets positiven Kritiken und verrät, dass diese Gattung etwas unterhalb seiner neuen Journalistenwürde liegt. Über Hoheit tanzt Walzer: "Lachen und Weinen im Publikum, Höchstmaß an Beifall, Blumen, Blumen und eine so zwingende Donauwellenstimmung, daß wir risikolos auf Serienerfolg tippen." Über Die Zirkusprinzessin: "Eine Kalman-Operette wird immer und immer alle Volkskreise in ihrer wundersamen Vollendung, Durchgeschliffenheit und melodiösen Gediegenheit anziehen, ein sehr starker magnetischer Bühnenzauberberg [hat G. W. etwa Thomas Mann gelesen?], auf dessen Höhe man gewissermaßen schwerelos mit einer komfortablen Schwebebahn hinaufgefahren wird."
     Für die Ausgabe vom 3. November 1933 darf G. W. über die "Wahlversammlung der Dresdner Theatermitglieder" und damit zum ersten Mal über ein kulturpolitisches Thema schreiben. Er skizziert, diesmal ohne jedweden ironischen Anflug, die Hauptrede der Versammlung: "Wir [!] können nur feststellen, daß diese ungeheuer gedankenreiche, fast künstlerisch gegliederte, leidenschaftliche Rede weit über die Grenzen der Wahlpropaganda hinaus zu einem geistigen Erlebnis wurde. Der Grundton: Wir Menschen führen einen ewigen Kampf um das Gute gegen die Mächte der Finsternis. Wir Deutschen haben jetzt lange Jahre der Flachheit im Kaiserreich und des kampfunlustigen, pazifistischen und materiellen Geistes in der Republik durch Hitlers messianische Sendung überwinden dürfen. [?] Die geistige und sittliche Vereinigung des Volkes in sich aber dauernd zu fördern und zu stärken, ist nicht zuletzt die hohe Aufgabe der deutschen Bühnen." Der Volontär darf endlich die schwärmerischen Empfindungen des Oberschülers für eine größere Öffentlichkeit in Worte fassen.
     Doch G. W. muss noch einige Male zurück in die Niederungen der Operettenwelt. Den populären Komponisten Walter Kollo mag er gern, und so schreibt er über Marietta: "Wenn Kollo Dialoge untermalt, wenn er mit hingespritzten Variatiönchen auf die nächste Gelegenheit wartet, so einen Schlager anzubringen, [?] dann ist das nicht, wie bei Lehar zum Beispiel, eine scheinopernhafte Zwischenmusik voll flötenblasender und geigengähnender Schwammigkeit, sondern eine raffiniert sich verdichtende Anlaufbahn auf den nächsten zwingenden Foxtrott oder Walzer." In seiner Besprechung vom Land des Lächelns, das "wir mit tränenfeuchtem Schnupftuch verlassen", wird Lehars Musik die zweifelhafte Ehre zuteil, als "Schlagrahm auf Sodbrennen" bezeichnet zu werden. Auch das im Residenztheater aufgeführte Weihnachtsmärchen Waldmännleins Reich bleibt G. W. nicht erspart.
     Während G. W. seinen Operetten-Verpflichtungen nachkommt, nimmt im Lichthof des Neuen Rathauses ein Ereignis Gestalt an, über das sich der Volontär drei Monate später ausführlich äußern wird. Am 23. September 1933 findet die Eröffnung der Ausstellung Entartete Kunst statt, in der über zweihundert aus dem Stadtmuseum, der Staatlichen Gemäldegalerie und dem Staatlichen Kupferstichkabinett konfiszierte Werke zu sehen sind. Am selben Tag erscheint im Dresdner Anzeiger ein Bericht, dessen Autor Richard Müller, Rektor der Staatlichen Kunstakademie in Dresden, ausführlich die Widerwärtigkeit der undeutschen Machwerke eines Dix, Grosz, Kirchner, Schmidt-Rottluff, Schwitters und anderer begründet. Unmissverständlich bringt er zum Ausdruck, aus welchem Geist diese Pionierleistung entsprungen ist: "Die Ausstellung ist ein treues Bekenntnis der Kunststadt Dresden zu den Richtung weisenden Worten des Führers in Nürnberg." Da es sich bei wahrer Kunst um "eine erhabene und zum Fanatismus verpflichtende Mission" handle, so Hitler am 1. September im Rahmen des Nürnberger Parteitages, wüssten wir, "daß unter keinen Umständen die Repräsentanten des Verfalls, der hinter uns liegt, plötzlich die Fahnenträger der Zukunft sein dürfen". Schneller geht?s kaum: Schon drei Wochen später hat Dresden die "Richtung weisenden" Worte in die Tat umgesetzt, so dass alle kunstinteressierten Dresdner über die "Ausgeburten" der "Repräsentanten des Verfalls" im Neuen Rathaus den Kopf schütteln können. Richard Müller profitiert auch persönlich von dieser Aktion: In der leer geräumten Gemäldegalerie ist nun Platz für die dem 19. Jahrhundert verhafteten Werke der Dresdner Akademieprofessoren.
     Die Laufzeit der Ausstellung, die ursprünglich am 18. Oktober enden soll, wird verlängert, vermutlich bis zum Jahresende. Dies berichtet der Dresdner Anzeiger am 9. Dezember: "Wir können nur jedem Dresdner empfehlen, diese Gelegenheit noch wahrzunehmen, denn wer 'Entartete Kunst' gesehen, der wird erst verstehen, wie nahe das deutsche Volk am Abgrund stand." Der unsignierte Artikel trägt die Überschrift "Schultze-Naumburg besichtigt 'Entartete Kunst' /​ Das Urteil eines hervorragenden Kulturkenners". Der hohe Besucher versichert, "er könne sich keine treffendere Charakterisierung [?] der Entwertung aller Werte vorstellen" und hielte es "im Interesse einer vollkommenen Gesundung deutschen Kulturempfindens für begrüßenswert, daß die Ausstellung als Wanderschau in allen Großstädten Deutschlands gezeigt würde". In der Tat wandert die Dresdner Ausstellung durch etwa zwölf weitere Städte, um sodann im Juli 1937 in die noch umfangreichere Münchner Ausstellung Entartete Kunst integriert zu werden. Der Architekt Paul Schultze-Naumburg, Gründungsmitglied des Kampfbundes für deutsche Kultur und Direktor der Staatlichen Hochschule für Baukunst in Weimar, hat sich bereits in der "Systemzeit" als völkischer Fahnenträger hervorgetan. In seinem 1928 veröffentlichten Buch Kunst und Rasse stehen Abbildungen moderner Kunstwerke und Patientenfotos aus der Psychiatrie nebeneinander. Der infame Propagandatrick, mit der Gleichsetzung von künstlerischer und menschlicher "Entartung" einen doppelten Zweck zu verfolgen, wird 1937 zum Gestaltungsprinzip der Ausstellung in München.
      Die vom NSDAP-Hausverlag Franz Eher Nachf. in München herausgegebene Zeitschrift Illustrierter Beobachter veröffentlicht im Dezember 1933 einen vierseitigen Bildbericht über die Dresdner Ausstellung. Er zeigt insgesamt elf Abbildungen, mit denen neben Werken von Dix, Campendonk, Kandinsky, Fritz Maskos und Eugen Hoffmann vor allem das Ringbild und Das Merzbild von Kurt Schwitters, Letzteres durch zusätzliche Detail­aufnahmen, als besonders "entartet" hervorgehoben werden. Dieser Bildbericht wird G. W. in die Hand gedrückt, woraufhin am 19. Dezember sein Zweispalter mit dem Titel "Folterkammer des Kunstgeschmacks" erscheint. Der Zwanzigjährige behauptet nun allen Ernstes, "daß wir [!] 14 Jahre lang kaum einen Fuß breit vom Abgrund der Selbstzerstörung, der Formlosigkeit entfernt gestanden haben", und erklärt "die Dresdner Ausstellung zu einer kulturpolitischen Tat". Der Illustrierte Beobachter habe "durch diesen Bildbericht die Ausstellung 'Entartete Kunst' über ihre rein Dresdner Bedeutung hinausgehoben", habe "sie zu einer deutschen Sache gemacht, zu einer Absage an die Vergangenheit". Die Sprache des Volontärs hätte auch in den Freiheitskampf gepasst. G. W. lässt nicht unerwähnt, wie die Ausstellung auf ihn selbst gewirkt habe: "Vor allzu kurzer Zeit sind noch rund um uns die Stinkbomben der Kandinsky, Schwitters, Grosz usw. geplatzt, als daß wir in diese Ausstellung schon wie in ein Museum hätten gehen können. Im Gegenteil - wir sind recht bedrückten Sinnes, einen kalten Schauer im Nacken, hindurchgeschlichen." Dieser bisherige Tiefpunkt meiner Recherchen mag für G. W. der Höhepunkt seines gesamten Volontariats gewesen sein, denn nach diesem Ausflug in die Kulturpolitik wird er in das Ressort Lokales versetzt.

Teil 3