Heute in den Feuilletons

Moralisch unglaubwürdig

Wochentags ab 9 Uhr, am Sonnabend ab 10 Uhr
05.12.2007. Die taz dokumentiert einen offenen Brief einer Reihe prominenter europäischer und afrikanischer Autoren an die Staatschefs des bevorstehenden EU-Afrika-Gipfel: "Wir staunen über so viel politische Feigheit." In der FR meint Robert Kaltenbrunner: Die Architektur der Stadt ist eine Bewirtschaftung der Zeit. Der Tagesspiegel fragt: Ist Martin Amis ein Rassist? Die taz schildert die unwürdige Odyssee, zu der Taslima Nasrin in Indien gezwungen wird. Das Deutschlandradio ist nicht hundertprozentig zufrieden mit dem Buch zur Perlentaucher-Debatte über Islam in Europa.

TAZ, 05.12.2007

Die taz dokumentiert den Offenen Brief prominenter Autoren wie Günter Grass, Jürgen Habermas, Vaclav Havel und Wole Soyinka zum EU-Afrika-Gipfel, der sich zwar das Thema Menschenrechte auf die Fahnen geschrieben hat, Darfur und Simbabwe aber nicht behandeln will: "Trotz der gemeinsamen Verantwortung Europas und Afrikas, solche Krisen anzugehen, steht keine von beiden auf der Tagesordnung. Es wurde keine Zeit für die formelle oder informelle Diskussion dieser Themen eingeplant. Was kann man zu dieser politischen Feigheit sagen? Wir erwarten von unseren Entscheidungsträgern, dass sie vorangehen - und das mit moralischer Entschiedenheit! Wenn sie das nicht schaffen, stehen wir alle moralisch unglaubwürdig da. Wo sie den schwierigen Themen ausweichen, machen sie sich selbst irrelevant."

Bernard Imhasly schildert die unwürdige Odyssee, der die von Fatwas islamischer Extremisten bedrohte Schriftstellerin Taslima Nasrin als Spielball politischer Kräfte in ihrem derzeit indischen Exil ausgesetzt ist. 1980 mit dem Roman "Schande" bekannt geworden, hat Nasrin nun ein neues Buch veröffentlicht: "Frauen haben keine Heimat". "Die bengalische Schriftstellerin führt in diesen Tagen den existenziellen Beweis ihrer Behauptung. Bengalische? Das stimmt im sprachlichen Sinn, denn Nasrin spricht und schreibt in Bengali. Aber von der Staatszugehörigkeit her stimmt es seit über zehn Jahren nicht mehr - Bürgerin von Bangladesch ist Taslima Nasreen nicht mehr, nachdem die Regierung in Dhaka sich geweigert hatte, ihren Pass zu verlängern. Seither hat sie einen schwedischen Pass. Aber macht sie dies zu einer Schwedin? Ja, folgt man dem Argument indischer Passbeamten, die kaltblütig-bürokratisch behaupten, es sei unmöglich, einer schwedischen Staatsbürgerin in Indien Asyl zu geben."

Weiteres: Adrienne Goehler führt durch die erste große deutsche Einzelausstellung der israelischen Künstlerin Sigalit Landau "The Dining Hall" in den Berliner Kunst-Werken. Christiane Rösinger besichtigte im Berliner Tempodrom Tim Mälzers Kochshow "Ham'se noch Hack".

Auf der Meinungsseite spricht der Oppositionelle Oswaldo Paya im Interview über die unterdrückte Meinungsfreiheit in Kuba und seine Sorge, "dass es bei anhaltender Ignoranz der kubanischen Regierung gegenüber dem Wunsch nach Wandel und bei anhaltender Unterdrückung auch zu Gewalt kommen kann." Renee Zucker erklärt, was die GEZ und der österreichisch-katholischen Kirchensender K-TV miteinander zu tun haben.

Schließlich Tom.

NZZ, 05.12.2007

Birgit Sonna lobt die Schau mit Werken aus Max Beckmanns Amsterdamer Exiljahren in der Münchner Pinakothek der Moderne. Andreas Kilcher erinnert an den am Samstag in Paris verstorbenen Geschichtsphilosophen und Literaturwissenschaftler Stephane Moses. Die umstrittene Vergabe des Turner Prize an den Künstler Mark Wallinger kommentiert Georges Waser: Dessen von der Jury hochgelobte Installation "State Britain" rekonstruiert das Londoner "Friedenslager" von Brian Haw, mit dem Wallinger jedoch das Preisgeld nicht teilen will. Und Georg-Friedrich Kühn hofft, dass die Berliner Opernhäuser, deren jüngste Premieren er für allenfalls "achtbar" hält, endlich künstlerisch abheben.

Besprochen werden die Ausstellung mit Modellen von Santiago Calatravas Sportstadien im Musee Olympique in Lausanne, Frank Castorfs Inszenierung "Emil und die Detektive" an der Berliner Volksbühne und Bücher, darunter Peter Reichels Biografie über den "deutschen Revolutionär" Robert Blum und zwei Bücher von Paul Maar (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 05.12.2007

Leider sind die Artikel heute nur zum kleinen Teil online gestellt.

Hendrik Werner erzählt aus bekanntem Anlass, wie die Deutschen im 18. Jahrhundert ihre Leidenschaft fürs Lotto entdeckten. Hanns-Georg Rodek weist in der Leitglosse auf ein Hamburger Treffen der Filmbranche hin, wo über die Novellierung des Gesetzes zur Filmförderung diskutiert wird. Dazu passt ein Artikel von Katharina Dockhorn, die berichtet, dass die verschiedenen Verbände von Film- und Fernsehproduzenten trotz mannigfacher Anläufe keine Fusion zustande bringen. Elmar Krekeler führt sich die Verfilmung von Philip Pullmans Fantasy-Bestseller "Der goldene Kompass" zu Gemüte. Uwe Schmitt schildert den Ärger, den der atheistische Pullman mit den Evangelikalen in den USA hatte. Berthold Seewald erinnert an die Schlacht von Leuthen vor 250 Jahren und einem Monat. Kai-Hinrich Renner durchblättert das neue Glamourmagazin Liebling. Manuel Brug erinnert an den Komponisten Wolfgang Korngold, der vor fünfzig Jahren gestorben ist. Uta Baier stellt den britischen Künstler Mark Wallinger vor, der in diesem Jahr den Turner-Preis gewinnt.

Besprochen werden eine Aufführung von Heiner Müllers "Anatomie Titus", inszeniert von Dimiter Gottscheff, am Deutschen Theater Berlin und eine AC/DC-DVD.

In einem Forums-Essay geißelt Wolf Lotter die Demontage Stefan Austs als Sieg der Mittelmäßigkeit.

FR, 05.12.2007

Städtebau besteht in der hohen Kunst, ungleichzeitige Prozesse zu steuern, stellt der Architekt und Stadtplaner Robert Kaltenbrunner in einer Betrachtung über die Architektur der Stadt fest. Sie sei eine Art "Bewirtschaftung der Zeit". "Ohnehin wird man einräumen müssen, dass der Rhythmus einer belebten Stadt von Ungleichzeitigkeit geprägt ist. Es funktioniert nichts nach einem zentralen Zeitregime. Jahreszeiten und Öffnungszeiten dürfen keine Rolle mehr spielen, wenn Spontanes, Ungeplantes und Unerwartetes möglich sein soll. Eine Stadt ist nur dann lebendig, wenn man darauf hoffen darf, dass nicht alles nach Plan verläuft. Die tatsächlich urbane Stadt lebt wesentlich von der beständigen Erwartung, dass alles, was ist, auch anders sein könnte."

Weiteres: Sandra Danicke stellt den Träger des diesjährigen Turner-Preises Mark Wallinger vor, der unter anderem 2004 im Bärenkostüm zehn Nächte lang durch die Berliner Nationalgalerie getapert war. Jürgen Otten porträtiert das Sinfonieorchester des Westdeutschen Rundfunks. Und in Times mager kommentiert Harry Nutt die Berliner Entscheidung für ein Riesen-Riesenrad. Zu lesen ist außerdem ein ausführliches Interview mit Dustin Hoffman, dessen neuer Film "Mr. Magoriums Wunderladen" morgen anläuft, über Trinksprüche, Machtmenschen und Computer-animierte Schauspieler.

Besprochen werden Chris Weitz? Fantasyfilm "Der goldene Kompass" und ein opulentes Zehn-CD-Hörbuch "Doktor Faustus" mit Musik von Hermann Kretzschmar.

Tagesspiegel, 05.12.2007

Jens Mühling kommentiert den britischen Streit um Martin Amis, der Verurteilungen von Selbstmordattentaten in der muslimischen Bevölkerung vermisste und seitdem als Rassist kritisiert wird. "Man könnte den Streit als britische Angelegenheit abtun, für die auch schon ein Label gefunden ist: Als 'Blitcons' werden neuerdings 'britische literarische Neokonservative' bezeichnet, die wie Amis, Salman Rushdie oder Ian McEwan keinen Hehl aus ihrer Ablehnung des Islamismus machen. Doch der Streit weist über die Insel hinaus, auf eine Frage, die westliche Intellektuelle zunehmend auseinanderdividiert: Wie hältst du?s mit dem Islamismus? Amis in England, Christopher Hitchens in Amerika, Andre Glucksmann in Frankreich, in Deutschland Hans Magnus Enzensberger und Ralph Giordano: Noch ist die neue Phalanx disparat. Aber sie wächst." Alle Links zur Amis-Debatte finden sich auf der Website des Guardian.

FAZ, 05.12.2007

Jürgen Kaube attestiert der Bildungsdebatte in Deutschland eine "Mischung aus pädagogischen Heilsversprechen und der Bereitschaft zur Verlogenheit" und will, wo wir schon einmal bei Bildungsproblemen sind, die taz-AutorInnen Anna Lehmann und Christian Füller zu "soziologischen Lesefähigkeitstests" schicken, weil sie auf ungleich verteilte Bildungschancen hinweisen. Gina Thomas porträtiert den diesjährigen Turner-Preisträger Mark Wallinger aka der Mann im Bärenkostüm. In der Glosse kommentiert Jürg Altwegg vom Zorn der Schweizer auf Heiner Geißler, der in der Schweiz eine "diffuse, fast rechtsradikale Atmosphäre" zu spüren glaubte. Von der siebten Architekturbiennale in Sao Paolo berichtet Wolfgang Pehnt. Carsten Dippel hat eine Konferenz an der Evangelischen Akademie in Berlin besucht, auf der deutsche und israelische Wissenschaftler Fragen der Bioethik diskutierten.

In Klaus Ungerers Gerichtsbericht geht es diesmal um einen Gefängnis-Sanitäter, der den Herzinfarkt eines jungen, seitdem gesundheitlich schwer beeinträchtigten Algeriers nicht erkannte. Jordan Mejias informiert über Brad Pitts Pläne, in New Orleans 150 Ökohäuser bauen zu lassen. Andreas Platthaus porträtiert Eva Maria Hoyer, die Direktorin des neu eröffneten Leipziger Grassi-Museums. Einen kurzen Nachruf auf den Literaturwissenschaftler und Philosophen Stephane Moses hat Lorenz Jäger verfasst. Auf der Medienseite findet noch einmal Jürg Altwegg das neue französische Gesetz gegen Netzpiraterie ganz richtig, denn: "Ohne Polizei im Internet scheint es keinen Sinneswandel zu geben."

Besprochen werden Sarah Polleys Regiedebüt "An ihrer Seite", Sewan Lachinians Senftenberger Inszenierung einer Dramen-Version von Joachim Zelters Roman "Schule der Arbeitslosen", die Uraufführung von Gerhard Stäblers Oper "Letzte Dinge" in Würzburg, der Auftritt der isländischen Band Mum in der Berliner Volksbühne, Paul Chalmers Leipziger Neuinszenierung von Tschaikowskys "Nussknacker"-Ballett und Bücher, darunter Peter Hobbs' Roman "Am Ende eines langen Tages" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Aus den Radios, 05.12.2007

Dorothea Jung hat für die "Politische Buch"-Sendung des Deutschlandfunks das Buch "Islam in Europa" besprochen, das auf der Bruckner-Buruma-Debatte in Perlentaucher und signandsight.com beruht: "Was denn aber der angemessene Weg ist, mit dem Islam in Europa umzugehen, diese Erkenntnis bleibt die Perlentaucher-Debatte schuldig. Denn es fehlen Stimmen, die sorgsam und ohne Polemik die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie untersuchen. Auch wenn zum Schluss der in Damaskus geborene Deutsche Politikwissenschaftler Bassam Tibi die Bedingungen nennt, innerhalb derer der Islam europäisch werden kann." (Na immerhin!) Auf der gleichen Seite lässt sich der Beitrag auch anhören.

SZ, 05.12.2007

Die SZ dokumentiert ebenfalls den Offenen Brief zum EU-Afrika-Gipfel, aber sinnvollerweise nur versteckt in der Printausgabe. Alexander Menden stellt den selbstbewussten Gewinner des diesjährigen Turner-Preises Mark Wallinger vor. Petra Steinberger informiert über das Ökosiedlung-Projekt, das Brad Pitt mit Avantgarde-Architekten in New Orleans realisieren will. Lothar Müller berichtet von einer Veranstaltung, in der Bundespräsident Horst Köhler den ersten Band einer Werkausgabe von Theodor Heuss präsentierte. Mirjam Hauck resümiert eine Tagung der Akademie des deutschen Buchhandels über Kinder- und Jugendbücher. Heiko Flottau berichtet über eine zweitägige Konferenz in Alexandria, auf der der Romancier Lawrence Durrell gewürdigt wurde. Volker Breidecker stellt die einstige Innsbrucker Avantgarde-Zeitschrift "Der Brenner" vor, die neben Karl Kraus? "Fackel" nun ebenfalls vollständig im Internet zu lesen ist. Gemeldet wird der Erwerb eines Großteils von Handke-Autographen durch die österreichische Nationalbibliothek.

Die Schallplattenseite ist heute monothematisch dem "Originalgenie" Carl Philipp Emanuel Bach gewidmet. Reinhard J. Brembeck widmet sich den Klaviersonaten, Jörg Königsdorf den Sinfonien und Helmut Mauro schreibt über die Motetten, Passionen und Oratorien des Komponisten. Und in einem Interview erklärt der ungarische Tastenspieler Miklos Spanyi, warum das Clavichord das beste Instrument für dessen Musik ist.

Besprochen werden ein Konzert der 19-jährigen Pianistin Lise de la Salle im Münchner Herkulessaal, in Kurzkritiken die Ausstellung "Filmische Wahrheiten" im Heidelberger Kunstverein, Dito Tsintsadzes Film "Der Mann von der Botschaft" , das neue Album "As I am" von Alicia Keys, Yasmina Rezas Stück "Der Gott des Gemetzels" am Schauspiel Köln, eine Ausstellung über die "Münchner Illustrierte" im Literaturhaus München sowie ein vierbändiges Monumentalwerk über Kasimir Malewitsch von Andrei Nakov (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).