Heute in den Feuilletons

Das sogenannte gemütliche Beisammensein

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.11.2009. Die FR geißelt die Herren Sloterdijk, Gumbrecht, Bohrer, Bolz, Sarrazin und Precht als Sprachrohre einer konsumistischen Ordnung. Die FR ist angesichts eines Heiner Müller, der die Unschuld hasste, aber auch froh, dass es einen Enzensberger gibt. Überhaupt sind alle froh, dass es Enzensberger gibt, der nach Mauerfall und Levi-Strauss endlich wieder Anlass zu neuen Gedenksonderseiten gibt. Auf Abdolkarim Soroush Blog schildert ein anonymer Autor die Angst des Regimes vor neuen Demos.  Carta kritisiert Bernd Neumann, den Verteidiger der alten Medienordnung.

FR, 11.11.2009

Christian Schlüter ist wütend. Die Herren Sloterdijk, Gumbrecht, Bohrer, Bolz, Sarrazin und Precht wollen weniger Steuern zahlen oder zumindest von sozialer Gerechtigkeit nichts wissen. Nachdem er die Debatte kurz und gut verständlich zusammengefasst und einige verbale Ohrfeigen ausgeteilt hat, stellt Schlüter fest: "Die bürgerliche Mitte gibt sich wehrhaft. Dabei dient Sloterdijks mit einigem utopistischen Aplomb in die Runde geworfenes Konzept vom Big Spender doch nur dem Status quo. Er will an der konsumistischen Ordnung nichts ändern, ahnt allerdings, dass immer weniger dort ihren Spaß finden werden. Eigentlich besteht seine ganze Kunst darin, die passenden Ausschlusskriterien zu liefern. Das läuft auf einen von oben nach unten praktizierten Sozialneid hinaus oder, mit einem anderen Wort, auf einen intellektuellen Partyservice für Besserverdienende, die nicht aufhören wollen zu feiern."

Arno Widmann hat vorgestern Nacht zwischen einem langen Interview mit Hans Magnus Enzensberger auf 3sat und einem Film über Heiner Müller auf Arte gezappt. "Müller erklärte, er hasse die Unschuldigen. Als er das sagte, konnte man glauben, er meine, er hasse die, die sich für unschuldig hielten. Nachdem aber bekannt geworden war, dass er mit der Stasi kooperiert hatte, wusste man, dass auch dieser Satz Müllers ganz ernst gemeint und wörtlich zu nehmen war. Müller hasste die Unschuldigen, weil sie zeigten, dass man unschuldig bleiben konnte, dass man nicht zur Zusammenarbeit gezwungen war. Vom einen zum anderen zu springen, machte noch einmal klar, wie deutsch Heiner Müller war. Wie sehr er das Klischee des mit dem Großenganzen beschäftigten deutschen Dichterphilosophen bediente und wie sehr Enzensberger davon lebt, dazu den Gegenpol zu bilden. Enzensberger war unser Glück."

Außerdem: Harry Nutt sinniert in Times mager über die Berliner S-Bahn und die soziale Frage. Jürgen Otten berichtet über die musikalischen Feierlichkeiten in Berlin zum Andenken an den Mauerfall. Judith von Sternburg gratuliert dem Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt zum 150. Geburtstag. Hans-Jürgen Linke sah Dan Purics Inszenierung des "Don Quixote" mit dem die Kulturtage der Europäischen Zentralbank in Frankfurt beendet wurden. Auf der Medienseite berichtet Ninette Krüger vom fortgesetzten Wirken der Verlagslobbyisten beim Mainzer Mediendisput. Besprochen wird eine "harmlose" Inszenierung von Offenbachs Oper "Blaubart" in Mainz.

NZZ, 11.11.2009

Martin Zingg gratuliert dem Großintellektuellen Hans Magnus Enzensberger zum Achzigsten, aber auch seinen treuen Gefährten Andreas Thalmayr, Giorgio Pellizzi, Benedikt Pfaff, Elisabeth Ambras und Tevisa Buddensiek. Mona Sarkis berichtet, dass nun auch in Istanbul Gated Communities in Mode gekommen sind. Sieglinde Geisel feiert Mauerfall.

Besprochen werden eine Tiffanyglas-Schau im Pariser Musee du Luxembourg, eine Ausstellung des Bildhauers Daniel Mauch in Ulm, die Robert-Oppenheimer-Biografie von Martin J. Sherwin und Kai Bird sowie Naja Marie Aidts Erzählungen "Süßigkeiten" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 11.11.2009

Auf der Webseite des iranischen Philosophen Abdolkarim Soroush beschreibt ein "Iran expert who wishes to remain anonymous" die Schauprozesse, die nach den Demonstrationen gegen Ahmadinedschad folgten und hält fest: "Die Behörden versuchen den Eindruck zu erwecken, in der Islamischen Republik gehe alles wieder seinen gewohnten Gang. Aber das stimmt nicht. Die Wirtschaft liegt am Boden. Ältere Beamte müssen viel Zeit damit verbringen zu leugnen, dass das Land in einer Krise ist. Sogar der Ramadan war anders in diesem Jahr. Die Behörden haben viele öffentliche Predigten und religiöse Treffen abgesagt aus Angst, sie könnten Reformbefürworter einen Vorwand liefern, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. (...) Anfang September hat eine gewöhnliche iranische Frau, Zahra Baqueri, die Schwester dreier berühmter Märtyrer - einer war unter dem Schah getötet worden, zwei andere fielen im Krieg gegen den Irak 1980-1988 - machte ihrer Frustration in einem explosiven öffentlichen Brief Luft, in dem sie die Bassidsch-Miliz mit 'mongolischen Horden' verglich und diejenigen anprangerte, die 'aus schmutziger materiellen Gründen ihre Augen vor der Wahrheit verschließen'. Baqeris Wut wird von vielen anderen geteilt, die einen Großteil ihres Lebens hingegeben und Familienmitglieder verloren haben, um einen Traum von Gerechtigkeit zu verwirklichen, der sich nie materialisiert hat."

Bei Crooked Timber schreibt John Holbo über die Typografie von Jan Tschibold und Emmanuel Fayes Vorschlag in der New York Times, Heideggers Bücher aus den Philosophieregalen zu räumen und sie statt dessen in die Naziabteilung zu verbannen.

Eine neue EU-Bestimmung erlaubt das Sperren von Internetseiten, berichtet Tina Klopp auf Zeit online. "Bürgerrechtler und Verbraucherschützer müssen die Hoffnung nun begraben, dass die EU Frankreich an seinem Loi Hadopi oder Großbritannien am Three-Strikes-Modell hindern könnte. Die neue EU-Bestimmung sieht lediglich gesetzliche Hürden vor, jedoch kein generelles Verbot: Bevor ein Internetprovider dazu gebracht wird, seinem Nutzer die Leitung zu kappen, soll dieser Entscheidung künftig ein faires und unabhängiges Rechtsverfahren vorausgegangen sein. In besonders dringenden Fällen könnten aber auch Schnellverfahren eingesetzt werden. Der Internetnutzer kann die Strafmaßnahmen später vor Gericht anfechten. Künftig gilt also noch nicht einmal mehr der Richtervorbehalt, auf den viele Bürgerrechtler so gepocht hatten."

Robin Meyer-Lucht greift in Carta eine Rede des Kulturministers Bernd Neumann auf, der im Bundestag eine Verschärfung des Urheberrechts versprach: "Neumann sieht sich als Verteidiger der guten alten Kulturproduktion, als Bewahrer der klassischen Medienprodutionsverhältnisse. Der Staatsminister als Stabilisator. Im Zuge heraufziehender digitaler Verteilungskämpfe möchte Neumann das Urheberrecht folglich vor allem verschärfen und nicht anpassen. Er möchte die alte Medienproduktion im neuen Medium schützen - nicht ein modifiziertes Urheberrecht für eine neue Medienproduktion schaffen."

Bild-Chef Kai Dieckmann greift in seinem Blog sueddeutsche.de an, die ihre Page-Impressionszahl innerhalb eines Monats um fünfzig Prozent erhöht hat, nur leider nicht durch journalistische Inhalte, sondern durch Spiele: "Was heißt das? Dass gerade noch etwas mehr als 50 Prozent der SZ-Klicks durch journalistische Inhalte entstanden sind, wenn man Dinge wie E-Commerce und ähnliches zur 'Wegklicker-Olympiade', dem 'Landkarten-Dart' und dem 'Persönlichkeits-Test' hinzurechnet. Ist das nicht toll?! I smell Pulitzer."

TAZ, 11.11.2009

Zum achtzigsten Geburtstag von Hans Magnus Enzensberger schreibt Wiebke Porombka die von ihm so lange besetzte Planstelle als ewig jugendlicher Projektemacher in der Literatur neu aus: "Neu vermessen, konsequent ausprobieren, konsequent scheitern."

Weiteres: Klaus Hillenbrand schickt eine Reportage aus dem Kibbuz Givat Haim, in dem vor allem Jeckes, deutsche Juden, der Novemberprogrome von 1938 gedachten. Besprochen werden die Ausstellung "Taswir - islamische Bildwelten und Moderne" im Berliner Gropiusbau, Roland Emmerichs neuer Weltuntergangsfilm "2012" (den Cord Riechelmann doch etwas inkosequent fand: "Bei Emmerich wird gerettet, was das Zeug hält: humanistisch und spirituell."

Und Tom.

Welt, 11.11.2009

Überall wurde 1989 gefeiert, nur in Rumänien nicht, wo es bei der Revolution tausend Opfer gab, aber keine Täter, und wo die Securitate bis heute aktiv ist, schreibt Lucas Wiegelmann: "Unter Ceaucescus Nachfolger Ion Iliescu, der bis heute ein einflussreicher Mann in Rumänien ist, geschah alles, um eine Untersuchung der Revolution und eine Aufarbeitung des Regimes zu verhindern. Der Geheimdienst Securitate wurde aufgelöst; aber der Nachfolger, der 'Rumänische Informationsdienst' übernahm nach eigenen Angaben 40 Prozent des Securitate-Personals. Die Akten der Securitate wurden erst 2004 einer unabhängigen Behörde übergeben."

Weitere Artikel: Roland Emmerich lässt mit seinem neuesten Katastrophenfilm "2012" nicht nur die Welt untergehen, sondern das Genre gleich mit, schreibt Peter Zander. Manuel Brug spekuliert über die Frage, ob die Silvesterkonzerte der Berliner Philharmoniker künftig von der ARD übertragen werden. Wieland Freund erinnert an Michael Ende, der in diesen Tagen achtzig Jahre alt geworden wäre. Uta Baier unterhält sich mit Andreas Schumacher, Kurator der großen Botticelli-Ausstellung im Frankfurter Städel.

Besprochen wird ein Romy-Schneider-Biopic, das heute im Ersten läuft. und Peter Zander unterhielt sich mit Jessica Schwarz, die sich nun an "Romy" messen lassen muss.

SZ, 11.11.2009

Für die Seite 3 besucht Thomas Steinfeld den Dichter Hans Magnus Enzensberger, der heute 80 Jahre alt wird, und würdigt Enzensberger als Autor wie als Unternehmer: "Die radikale Vielfalt dieses Oeuvres (...) Ist das nicht auch eine Strategie der Überwältigung der bestehenden Verhältnisse durch Gründung eines Ein-Mann-Konzerns mit jeweils wechselnden Partnern? 'Aber das stimmt ja gar nicht', ruft Enzensberger. Er jedenfalls sei nicht durch die sechziger Jahre geprägt worden, er sei durch eine viel bessere Schule des Unternehmertums gegangen - nämlich durch den Schwarzmarkt. Dort sei er zu einem Pionier des Freihandels geworden, ohne Firma, und überhaupt habe er damals verstanden, dass man keine Angst haben dürfe, aber hin und wieder einen guten Partner brauche."

Auch Joachim Kaiser gratuliert zum Achzigsten und erinnert sich, wie ein Schweizer Magazin Enzensberger mal "recht plakativ" befragte, "was er denn alles so möge oder eben nicht möge. Er antwortete abgründig. 'Galeristenkunst' mag er also nicht. 'Sämtliche Werke des Marquis de Sade', 'Sektierer', 'alle Arten von Sport', 'Personen, die das Bedürfnis haben, andere Personen festzunageln'. Begreiflicherweise mag er auch 'Theaterrezensenten-Theater' nicht. 'Expressionismus und andere Formen der Kraftmeierei', 'Macht-Erotiker', 'Städteplaner' und: 'Östliche Weisheiten aller Art'. Letztes Beispiel fürs von ihm Nicht-Gemochte: das sogenannte gemütliche Beisammensein."

Im Feuilleton nimmt Peter Laudenbach Frank Castorf in die Mangel, der zwar einen gewissen Überdruss empfindet, aber seinen Intendantenvertrag an der Volksbühne lieber doch nicht beenden will. Thomas Speckmann, Referent in der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen, möchte den heutigen Anti-Terror-Kampf mit "heroischer Gelassenheit" bestehen. Nur sehr wenige Hollywoodschauspieler sind krankenversichert, informiert uns Susan Vahabzadeh. Auf der Medienseite meldet ttt., dass Hu Shuli, die Chefredakteurin des angesehenen chinesischen Wirtschaftsmagazins Caijing, wegen zu negativer Berichterstattung von ihrem Posten zurücktreten musste.

Besprochen werden Roland Emmerichs Film "2012", eine Werkschau der Künstlerin Katharina Fritsch in den Deichtorhallen Hamburg, ein Konzert der Philharmoniker in München unter Andrey Boreyko, die neue Dauerausstellung im wiedereröffneten Schiller-Nationalmuseum in Marbach, einige CDs und Bücher, darunter Pier Paolo Pasolinis Reisebeschreibung "Die lange Straße aus Sand" und Enzensbergers Buch "Fortuna und Kalkül" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 11.11.2009

In einer Vielzahl von Artikeln wird das Geburtstagskind Hans Magnus Enzensberger gratulatorisch in die Zange genommen. Richard Kämmerlings würdigt den einzigen Roman des Autors, "Der kurze Sommer der Anarchie - Bonaventura Durrutis Leben und Tod", schließt sein Porträt aber mit den Worten: "Das Leben als kollektive Fiktion. 'Enzensberger' ist ein Roman, an dem wir alle schreiben." Wer Autobiografisches von Enzensberger lesen will, müsse sich, meint Felicitas von Lovenberg, seiner Lyrik zuwenden. Außerdem findet sie: "Wenn es Enzensberger nicht gäbe, man müsste ihn sich erfinden." Und so geht es weiter mit der Gratulationscour. Gewürdigt wird der Zukunftsforscher Enzensberger, der Kinderbuchautor, der Geschichtsphilologe, der Freund und Kollege (von Lars Gustafsson) etc. Und auf der DVD-Seite werden dann noch Filme von und mit Enzensberger besprochen.

Weitere Artikel: Christian Geyer kritisiert in der Leitglosse den Dampfplauderer Slavoj Zizek, der sich gerade in einem Artikel für die New York Times (aber auch in der FR und in Le Monde) den Kommunismus zurückwünschte. Edo Reents erlebte den Schriftsteller Daniel Kehlmann bei seiner Döblin gewidmeten Festrede zum sechzigjährigen Bestehen der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur als "Moralisten". Jordan Mejias meldet, dass die Abgabefrist für den neuen Google-Books-Settlement-Vorschlag noch einmal, nämlich bis Freitag, verlängert wurde. Auf der Medienseite kommentiert Holger Schmidt Rupert Murdochs Ankündigung, Google aus seinen Online-Bezahlangeboten auszusperren. Auf der Geisteswissenschaften-Seite erinnert der Germanist Reinhart Meyer-Kalkus anlässlich des Schiller-Geburtstags an "die Kunst, pathetisch zu sprechen".

Besprochen werden die Uraufführung einer fürs Theater "mehr derangierten als arrangierten" (Marthin Lhotzky) Version von Peter Eszterhazys Roman "Harmonia Caelestis", Roland Emmerichs ultimativer Weltuntergangsfilm "2012", der heute in der ARD gezeigte "Romy"-Film (den Dieter Bartetzko nicht "groß", aber "präzise" findet, mit einer herausragenden Jessica Schwarz) und neue Filme auf DVD, nämlich Wilson Yips Martial-Arts-Actioner "Ip Man", drei Filme von Jean Cocteau und Hu Jies Dokumentarfilm "...nicht der Rede wert".