Efeu - Die Kulturrundschau

Auch glaube ich an Wittgenstein

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06.07.2020. Die SZ bricht in kosmischer Verbundenheit mit dem Klangkünstler Alva Noto zu einer Odysee durchs Weltall auf. Weiße Kritiker verstehen die Zwischentöne in der Literatur von schwarzen und migrantischen Autoren einfach nicht, glaubt Maryam Aras in 54books.Die weiße taz empfiehlt trotzdem nigerianische Popmusik. Die NZZ begibt sich mit dem georgischen Maler Andro Wekua in ihren Raum der Wünsche. Aktualisiert. Vorerst nur die Meldung: Ennio Morricone ist gestorben.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.07.2020 finden Sie hier

Musik

"Eine Sehnsucht nach kosmischer Verbundenheit" grundiert "Xerrox Vol. 4", das neue Album des Klangintellektuellen Alva Noto, schreibt Max Dax in der SZ. Einen Geschmack dieser Sehnsucht vermitteln auch die Interviewpassagen in der Besprechung: "Für mich ist Technologie eine lyrische Angelegenheit. Die Computersprache Unicode ist für mich konkrete Poesie. Und dass Dichtung Abstraktion bedeutet und als sprachliches Format so offen ist wie kein Zweites, beschäftigt mich schon seit Jahren. Auch glaube ich an Wittgenstein und seine Annahme, dass alles, was denkbar ist auch möglich ist. Freilich in einem positiven Sinne: Wenn ich mir eine Odyssee durch das Weltall wie eine Introspektive vorstelle, dann ist sie auch genau das. Nur dass ich mich eben nicht der Form des Gedichts bediene, sondern der Form der elektronischen Musik." Wir hören rein:



Tazler Ole Schulz freut sich sehr darüber, dass das britische BBE Label mit der fortschreitenden Wiederveröffentlichung des gesamten Back-Katalogs von Tabansi Records einen wahren Schatz der nigerianischen Popmusik wieder zugänglich macht. Ganz wunderbar etwa das Doppelalbum "Wakar Alhazai Kano / Mus'en Sofoa" der Tabansi Studio Band, das "zwar unter Afrobeat firmiert, aber völlig anders als etwa jener in Yoruba und Pidgin gesungene Afrobeat eines Fela Kuti. Stattdessen legt die Tabansi-Hausband um die sieben Martins Brothers acht je viertelstündige hypnotisch-raue Stücke vor, die mal in der arabisch beeinflussten Hausa-Kultur wurzeln, mal in den perkussiven Traditionen der Igbo." Wir hören rein:



Weitere Artikel: Ljubiša Tošic erkundigt sich für den Standard beim Leitungsduo Michael Bladerer und Daniel Froschauer nach dem Stand der Dinge bei den Wiener Philharmonikern. Der Filmemacher Axel Ranisch und der Schauspieler Devid Striesow plaudern in der Berliner Zeitung über ihr Buch "Klassik Drastisch", das aus ihrem gleichnamigen Podcast hervorgegangen ist. Jan Brachmann schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den russischen Komponisten Nikolai Kapustin.

Besprochen werden David Yaffes Buch über Joni Mitchell (NZZ), das neue Album von Arca (Freitag), Hans-Joachim Hinrichsens Buch über Beethoven (Berliner Zeitung), Steve Earles neues Album "Ghosts of West Virginia" (Standard) und Beethoven-Aufnahmen von Quatuor Ebène (NZZ).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Anna Vollmer über Lucio Dallas "L'anno che verrà":



Und gerade gemeldet: Der große italienische Komponist Ennio Morricone ist gestorben. Nachrufe gibt's bestimmt morgen. Jetzt trauern wir noch und erinnern uns:

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Bühne

In der nachtkritik berichtet Jan Fischer vom Festival Theaterformen in Braunschweig. Besprochen werden Dirk Lauckes neues Stück "Nur das Beste" in der Inszenierung von Bastian Kabuth am Theater Freiburg (nachtkritik) und Christoph Nix' "Hermann der Krumme oder die Erde ist rund" im Konstanzer Freilufttheater am Münster (NZZ, nachtkritik).
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Kunst

Andro Wekua, W. Portrait, 2016. © Andro Wekua. Courtesy Sprüth Magers and Gladstone Gallery.


Susanne Koeberle steht fasziniert vor "Bildern wie aus einem Traum" das georgischen Malers Andro Wekua, den sie für die NZZ porträtiert. Surreal, fragmentarisch, nicht so recht deutbar, erscheinen sie ihr. "Die Schwierigkeit, mit diesen Gestalten in einen Dialog zu treten, hat mit dem Fehlen des Blickes zu tun. Die Augen der zum Teil puppenhaft wirkenden Figuren sind entweder geschlossen, ausgespart oder melancholisch nach innen gerichtet: Leere Augenpaare blicken uns aus fernen Welten an, als wolle der Künstler sie vor den forschenden Blicken der Betrachter schützen. Doch paradoxerweise erhöht dieser Rückzug die Anziehungskraft der Werke. Das Fehlen und die Leere erzeugen ein Begehren. Wir werden als Betrachter dazu eingeladen, unsere eigenen Abgründe und Wünsche zu erkunden. Vor Andro Wekuas Arbeiten befinden wir uns gewissermaßen im 'Raum der Wünsche'. So heißt ein Raum in Andrei Tarkowskis Film 'Stalker'; den Wekua natürlich kennt."

In der FAZ zeigt sich Stefan Trinks genervt von Debatten wie die um Georg Herolds "Ziegelneger" (unsere Resümees hier und hier): "Ein besonders bizarres Argument in der Diskussion war dabei von einer Kunsthistorikerin im Sender Deutschlandfunk-Kultur zu vernehmen: 'Solange nur weiße Positionen zu Rassismus zu sehen seien, solle man das Werk besser abhängen.' Das hieße im Umkehrschluss, Alexander von Humboldt, weil käsig im Gesicht, hätte sich in seiner Zeit nicht beim amerikanischen Präsidenten gegen die Sklaverei in den Vereinigten Staaten aussprechen dürfen."

Weiteres: Sebastian Strenger betrachtet für die taz Darrel Ellis' Gemälde "Untitled (Police Officer)" - die taz startet damit eine Serie über Polizei in der Kunst. Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken des französischen Fotografen Guy Bourdin im Kunstverein Talstrasse in Halle (FAZ) und die Ausstellung "Christo et Jeanne-Claude. Paris!" im Centre Pompidou (FAZ).
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Literatur

Nava Ebrahimis "Das Paradies meines Nachbarn" wurde sehr wohlwollend aufgenommen. Trotzdem zeigt sich darin ein Problem, wenn weiße Kritiker Werke besprechen, die ihren Stoff aus einem Schwarzen oder migrantischen Erfahrungsschatz schöpfen, meint Maryam Aras, Iran-Forscherin an der Uni Bonn, auf 54books: "Wenn ein etablierter weißer Kritiker schreibt, diese Literatur sei explizit keine 'Migrantenliteratur', sondern 'Weltliteratur', dann steckt darin neben einer großen Wertschätzung auch die implizite Zuordnung, an wen sich seiner Meinung nach diese Literatur richte." Ebrahimis Romane "gehören ganz besonders jenen Leser*innen, deren Lebenswelt sie wiedergeben, und die in der Lage sind, die Poetik der Autorin in all ihren Zwischentönen zu lesen. Genau das vermag weiße Literaturkritik kaum. Bei allem guten Willen wird postmigrantische Literatur von weißer Kritik in aller Regel nur auf explizit geschilderte Rassismus- oder Othering-Erfahrungen hin besprochen. Eine Rezeption von feinsinniger Binnensicht-Metaphorik, die gerade in Ebrahimis Romanen so auschlaggebend ist, findet selten statt. Wie auch?"

Weitere Artikel: Auf ZeitOnline spricht Thorsten Nagelschmidt über seinen Berliner Nachtleben-Roman "Arbeit", für den er recherchiert hat, was genau ihn alles in den letzten Jahren an dieser Stadt so genervt hat. In der NZZ erzählt Roman Bucheli die Gründungsgeschichte des Suhrkamp-Verlags, jenem "Monument der Literatur und des Intellekts", das dieser Tage 70-jähriges Bestehen feiert. Im Standard verteidigt Katharina Tiwald Margaret Mitchells Roman "Vom Winde verweht" - gerade in neuer Übersetzung erschienen - vor allzu voreiliger Kritik: Für dessen Lektüre und Genuss "bräuchte man halt ein Mindestmaß an leserischer Intelligenz - statt einer haarsträubenden Verwechslung von Figurenrede mit Eins-zu-eins-Gehalt." Außerdem verkünden Dlf Kultur und die FAS die besten Krimis des Monats - neu ganz oben: Guillermo Martínez' "Der Fall Alice im Wunderland" und Hideo Yokoyamas "50".

Besprochen werden unter anderem Ann Petrys wiederentdeckter Harlem-Roman "Die Straße" von 1946 (Standard), Anna Kavans "Ice" (Jungle World), Richard Russos "Jenseits der Erwartungen" (Presse), Jhumpa Lahiris "Wo ich mich finde" (Berliner Zeitung), Victoria Mas' "Die Tanzenden" (Dlf Kultur), Jim Holts "Ausflüge an den Rand des Denkens" (SZ), neue amerikanische Romane, darunter Katya Apekinas "Je tiefer das Wasser" (Standard), und neue Krimis, darunter Zoe Becks Virenthriller "Paradise City" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Ernest Wichner über Rolf Bosserts "Reise":

"Flüstere mir ins Aug
Deinen Blick auf die braune Seine.
..."
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Film

Echte Gefühle oder gespielte echte Gefühle: "Family Romance, LLC" von Werner Herzog.

Wieder sehr schön geworden ist Werner Herzogs neuer, kleiner Film "Family Romance, LLC", seufzt Sofia Glasl in der SZ. In dem mitunter dokumentarisch anmutenden Werk geht es um eine - tatsächlich existierende! - japanische Agentur, bei der man kurzfristig Ersatz-Familienmitglieder buchen kann (Yuichi Ishii, der Hauptdarsteller des Films, ist im echten Leben der Geschäftsführer dieser Firma). Herzog ist hier einmal sehr intim und leichtfüßig, statt bombastisch, aber treu bleibt er sich doch: "Schauspieler spielen Schauspieler, die Familienmitglieder für Wildfremde spielen, die wiederum selbst nur eine Inszenierung eines Selbstbildes sind. Herzog sucht in der Potenzierung dieser grotesken Realität nach Wahrheit und schrammt dabei bewusst immer wieder an der Unwahrheit entlang" und dies "nimmt bisweilen komische Züge an." Doch "bei aller Ironie geht es Herzog nicht vornehmlich um den voyeuristischen Blick auf exotische Phänomene oder die Einsamkeit seiner Figuren, sondern um die moralischen Implikationen, die ein Unternehmen wie 'Family Romance' mit sich bringt." Zu sehen ist der Film derzeit bei Mubi.

Besprochen werden Abel Ferraras "Siberia" (SZ, unsere Kritik hier), Matteo Garrones "Pinocchio" (NZZ), Kleber Mendonça Filhos und Juliano Dornelles "Bacurau" (Standard), Oz Perkins' "Gretel und Hänsel" (Presse), die Amazonserie "Little Fires Everywhere" (Standard) und die Netflix-Serie "Curon" (Freitag).
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