Heute in den Feuilletons

Ebenso viel Weiterbildung wie Vergnügen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.04.2012. Die taz schildert die Angst einer afghanischen Metal-Band vor dem Abzug der Alliierten. Die FR vermisst Popkritik im Internet. Die NZZ erklärt, warum die Documenta so gut nach Kassel ("eine der hässlichsten Städte westlich Sibiriens") passt. Die FAZ fragt: Was macht das Saxofon in Ambroise Thomas' Hamlet-Oper? Und was der Staat in der Hand des Finanzkapitals?

TAZ, 28.04.2012

Sahar Nadi trifft in Kabul Unknown District, die erste afghanische Metalband, die mit "Ehrgeiz und Durchhaltevermögen" für ihre Musik einsteht und lange Zeit schon aus reinem Selbstschutz nur maskiert spielen konnte. Die Masken sind abgelegt, dennoch blicken die Musiker mit Sorge in die Zukunft: "Sie fürchten sich vor dem Jahr 2014, wenn die ausländischen Truppen das Land verlassen. Es werde, so ihre Angst, das Jahr ihrer Apokalypse sein. Schon heute bereitet sich die Stadt vor. Neu erbaute Wohnhäuser werden mit blickdichten Fenstern versehen, Immobilienpreise fallen. Die Angst vor einer neuen Taliban-Ära ist allgegenwärtig. Man führt seit Monaten Verhandlungen mit ihnen, im Parlament werden extrem konservative Stimmen laut."

Der politische Anstrich der Berlin Biennale ist, Ingo Arend zufolge, "in seiner dürftigen Performativität mehr als eine Bankrotterklärung der politischen Kunst, es ist die Abdankung der Kunst an sich."

Weiteres: Julian Weber berichtet von einer Podiumsdiskussion in Berlin zum Thema Urheberrecht. Alem Grabovic unterhält sch mit dem Architekt Josef Hohensinn, der humane Gefängnisse gestaltet. Esther Slevogt ärgert sich über die Berliner Politik, die sich beim Deutschen Filmpreis zwar gern im Licht der Absolventen der Schauspielschule Ernst Busch sonnt, die Ausbildungsstätte im Alltagsbetrieb aber stiefmütterlich behandelt. Detlef Kuhlbrodt erinnert sich zum 25. Jubiläumsjahr des Berliner Lokals "Kumpelnest" an viele Szene-Anekdoten. Jan Scheper war bei der Berliner Lesung von Francis Spufford. Franziska Seyboldt glaubt, dass eine Katzen- oder Eulenpartei sogar noch erfolgreicher wäre als die Piratenpartei. Martin Reichert informiert seine Eltern über Skype, dass am 30. April das analoge Satellitenfernsehen abgestellt wird. Für "Die Wahrheit" lernt Christian Bartel in einer Salafistenschule, wie man bei der Missionierung von "westlichem Abschaum" höflich bleibt.

Außerdem werden Guy Delisles Comic "Aufzeichnungen aus Jerusalem", ein Fotoband von Mischa Kuball über den Ruhrpott und ein Buch von Hanno Beck und Aloys Prinz über die "Staatsverschuldung" besprochen (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

FR/Berliner, 28.04.2012

Tobi Müller fragt sich, wo eigentlich die Pop- und Theaterkritik im deutschsprachigen Internet bleibt. Vorweisbare Projekte wie nachtkritik seien personell, finanziell und formell jedenfalls nur als Verlängerungen des Printfeuilletons denkbar, von eigenständigen Online-Medien wie den im Ausland etablierten Popmagazinen Pitchfork und The Quietus fehle jede Spur. Immerhin interessant am bemerkenswerten Erfolg der "Abgehört"-Kolumne beim Spiegel sei aber zweierlei: "Erstens hat man in internetaffinen Kreisen nun jahrelang von der Abschaffung des Gate Keepers gesprochen, vom Ende des professionellen Kritikers, der seine Deutungshoheit an den Liebhaber abgeben müsse. Und siehe da: "Abgehört" ist reinstes Gate Keeping. Zweitens haben sich konventionelle Breitbandmedien in den letzten zehn Jahren sprachlich stark 'normalisiert', auch in einigen Feuilletons orientiert man sich ängstlich an jenem Leser, der sich gerade nicht für Kultur interessiert. Wigger und Borcholte schmeißen dagegen mit Namen und Wissen nur so um sich."

Weiteres: Ein Gespräch habe sich zwischen Martin Walser und Mathias Döpfner vergangenen Mittwoch im Journalistenclub im Springer-Haus in Berlin zwar nicht entwickelt, berichtet Arno Widmann, dafür ließ es ihn über Rolle und Funktion von Intellektuellen für die Zeitungen nachdenken. Nach dem Besuch der umstrittenen Berlin Biennale fragt sich Ingeborg Ruthe mit Fassbinder: "Wut und Angst essen hier Kunstseele auf?" Besprochen werden außerdem die Schattentanz-Performance "Shadowland" in der Jahrhunderthalle Frankfurt und die Friederisiko-Ausstellung im Neuen Palais in Potsdam.

NZZ, 28.04.2012

In Literatur und Kunst erklärt Christian Saehrendt, warum die Documenta - eigentlich ein Grimmsches Märchen - so gut nach Kassel passt, einer "der hässlichsten Städte westlich Sibiriens", wie der Kunsthistoriker Benjamin Buchloh einst erklärte: "nur wenigen ist bewusst, dass das Wunder der modernen Kunst nur vor einem vergleichsweise grauen Hintergrund möglich ist, nur dann kann sie eine unvergleichliche Strahlkraft entwickeln. Kassel ist der Sockel, der Wechselrahmen, der White Cube, der Alltagsgegenstände in märchenhafte Kunstwerke zu verzaubern vermag. Die Institution Documenta hat einen ebenso märchenhaften Aufstieg hinter sich. Sie ist untrennbar verbunden mit der Sage vom totalen Neubeginn Deutschlands. ... Die karge Ruinenästhetik, in der die Kunstwerke 1955 inszeniert wurden, illustrierte den Mythos der 'Stunde null' auf meisterhafte Weise."

Außerdem: Andrea Gnam stellt deutsche Dokumentarfotografinnen der Kriegsgeneration vor: Sibylle Bergemann, Barbara Klemm, Helga Paris, Erika Sulzer-Kleinemeier, Abisag Tüllmann und Angela Neuke, Tata Ronkholz, Herlinde Koelbl, Angela Neuke, Hilla Becher und Inge Rambow. Roman Bucheli schreibt zum 200. Geburtstag von Kaspar Hauser. Benno Schubiger schreibt zum 100. Todestag des Begründers der Schweizer Denkmalpflege, Johann Rudolf Rahn.

Fürs Feuilleton hat man aus der NYRB Charles Simics kleinen Text über Toiletten-Bibliotheken übersetzt: "Haben unsere Gründerväter gelesen, während sie auf ihren Nachttöpfen saßen? - Ich bin in Serbien aufgewachsen, wo Plumpsklos auf dem Land noch häufig waren und Toilettenpapier von der einfacheren Bevölkerung als dekadenter Luxus angesehen wurde. Der Stapel alter Zeitungen auf dem Häuschen war nicht nur zweckdienlicher Ersatz für die Klorolle, sondern auch willkommener Lesestoff, der mir ebenso viel Weiterbildung wie Vergnügen verschaffte."

Weiteres: Uwe Justus Wenzel philosophiert über Arbeit und Müßiggang ("Schon die alten Griechen schätzten das Rackern, Chrampfe und Malochen nicht sonderlich; sie erachteten diese Tätigkeiten als eines freien Menschen unwürdig".) In der Reihe "When the music's over" widmet sich Manfred Schneider dem Rock'n'Roll der Fünfziger. Geri Krebs berichtet von einem herausragenden Jahrgang beim Dokumentarfilmfestival Visions du réel in Nyon. Und Barbara Villiger Heilig besucht den 26. Salon international du livre et de la presse im Genfer Palexpo. Besprochen wird Christina Maria Landerls Wien-Buch "Verlass die Stadt" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 28.04.2012

Wenn von Künstlern in Berlin die Rede ist, dann nur von jungen Hipstern, die hinter ihrem Laptop keinen Dreck und keinen Lärm machen. Was aber ist mit den älteren? fragt in der Literarischen Welt die Schriftstellerin Annett Gröschner in einem schönen Text über den Maler Konrad Knebel und seine Situation: "Wenn vor 30 Jahren ein Künstler in Prenzlauer Berg gesagt hat, ich verlasse das Land, weil ich das Mittelmeerlicht sehen will, ich brauche das als Maler, dann sagten alle, ja, das verstehen wir. Sagt heute ein Maler, ich kann nicht einfach woanders hinziehen, ich brauche das Licht hier, an diesem Ort, dann bekommt er von anderen solventeren Zeitgenossen zu hören, die Stadt sei nun mal in Bewegung, auch in LondonNewYorkParisZürich sei das nicht anders, Berlin hole da nur auf, und wenn man sich ein Viertel nicht mehr leisten könne, dann müsse man eben woanders hinziehen. Das sei normal und die Entwicklung nicht aufzuhalten. Als Künstler sei man doch für Veränderung, da könne man sich doch jetzt nicht einfach als Besitzstandswahrer in den Weg stellen."

Außerdem porträtiert Peter Stephan Jungk Dan Sperber, den Sohn von Manes Sperber und einen der Wortführer des Pariser Mais. Besprochen werden unter anderem Ralf Bönts Streitschrift "Das entehrte Geschlecht" und Alain de Bottons Buch "Freuden und Mühen der Arbeitswelt".

In der Kultur: Zum bevorstehende Piratenpartei widmet sich Ulf Poschardt dem Phänotyp des Nerds und seinen Sonderwelten: "Die Grundenergie des Nerds bleibt aber eckensteherisch."

Weiteres: Andrea Backhaus meldet Empörung unter Kunsthändler, die künftig volle 19 Prozent Mehrwertsteuer zahlen sollen. In einem weiteren Artikel erzählt Backhaus von ihrem Mittagessen mit Marek Dutschke. Besprochen werden die große Ausstellung zu Friedrich II. "Friederisiko" im Neuen Palais in Potsdam ("überwältigend opulent", schwärmt Tilman Krause), Olivier Pys Inszenierung von Ambroise Thomas' "Hamlet"-Oper in Wien und Norah Jones' neues Album "Little Broken Hearts"

FAZ, 28.04.2012

Dirk Schümer hat eine hinreißende Aufführung von Ambroise Thomas' sogar von Verdi als frivol geschmähter Hamlet-Oper gehört. Es spielten die Wiener Philharmoniker unter Mark Minkowski, Olivier Py inszenierte: "Die illusionslose Härte der Dialoge - die Librettisten Carré und Barbier sind gar nicht weit vom Original entfernt - wird von den mal schwülstigen, mal fahlen Orchesterfarben geisterhaft untermalt, am effektvollsten gar mit einem balladesken Saxophonsolo, das zu Coltrane hinübergrüßt. Passend zu dieser kalten Pracht dann der orakelnde Vatergeist mit Silbermaske und die Schauspieler, die am Ende jedem Protagonisten den Todes-Doppelgänger stellen. Könige sterben, Mimen bleiben."

Weitere Artikel: Jürgen Dollase schlägt in der Küche eine differenziertere Behandlung der Aromen vor. Sahra Wagenknecht macht die Finanzindustrie verantwortlich für die Krise in Griechenland: "Wenn der griechische Staatsbankrott schließlich kommt, wird von verlorenem Steuergeld und verbrannten Milliarden die Rede sein. Aber diese Milliarden sind nicht verbrannt. Sie haben nur den Besitzer gewechselt." Dirk Liesemer erzählt in einer Reportage von Bulgaren, die nach Deutschland ausgewandert sind. Außerdem gibt es heute eine Beilage, in der Redakteure des Feuilletons "ihre schönsten Festivalerlebnisse" schildern.

Ulrich Raulff sah noch das Pferdezeitalter zu Ende gehen. Im Aufmacher von Bilder und Zeiten würdigt er den Pakt des Menschen mit dem Pferd: "Das Pferd war im selben Atemzug praktisches Dasein und lebendige Metapher. Es gab dem Menschen die Macht, Herrschaft zu erlangen und zu sichern, und lieferte ihm gleichzeitig die adäquate Darstellung der Herrschaft. Dergestalt, dass die Repräsentation der Herrschaft nicht mehr umzusatteln brauchte: Das Pferd war gleichsam schon von Natur aus die absolute politische Metapher."

Weitere Artikel: Jan Brachmann hörte zu, als das Leipziger Gewandhausorchester im Vatikan Mendelssohns protestantischen Lobgesang probte. Bernd Noack besucht die armenisch-apostolische Gemeinde im 3. Wiener Bezirk, die wie jedes Jahr am 24. April des Massakers an Armeniern in der Türkei gedachte. Andreas Platthaus unterhält sich mit dem Fotografen Anton Corbijn, der gerade eine Ausstellung im Dresdner Albertinum hat.

Besprochen werden die Ausstellung "Friederisiko" im Neuen Palais in Potsdam, Kathrin Wehlisch als Mishimas "Patriotin" an der Berliner Volksbühne, eine CD des Folksängers Loudon Wainwright III., ein Kammermusikalbum mit dem Oboisten Albrecht Mayer, zwei Anthologien mit Aufnahmen der englischen Altistin Kathleen Ferrier und Bücher, darunter Gerbrand Bakkers Roman "Der Umweg" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Frieder von Ammon ein Gedicht von Goethe vor:

"An den Geist des Johannes Sekundus

Lieber, heiliger, großer Küsser,
Der du mir's in lechzend atmender
Glückseligkeit fast vorgetan hast!
Wem soll ich's klagen? klagt ich dir's nicht!
Dir, dessen Lieder wie ein warmes Küssen
Heilender Kräuter mir unters Herz sich legten,
..."

SZ, 28.04.2012

Lothar Müller stellt das am Wochende seine Pforten öffnende "Museum der Unschuld" in Istanbul vor, das parallel zu Orhan Pamuks gleichnamigem Roman entstanden ist. Dokumentiert wird aus diesem Anlass auch Orhan Pamuks "Museumsmanifest", das sich für die Zukunft Museen über einzelne Menschen statt über Nationen wünscht. Stephan Speicher war auf einer Tagung im Berliner Kammergericht über personelle Kontinuitäten des "Dritten Reiches" im Bundesjustizministerium. Karin Steinberger hat in London den Tierfilm-Regisseur Martyn Colbeck getroffen, dessen neuer Film "Chimpanzee" gerade mit viel Erfolg in den USA angelaufen ist. Susi Wimmer berichtet, wie das BKA über eine Online-Auktion auf einen bis dahin 20 Jahre im Schrank eines Kölner Arztes liegenden Bauziegel aus dem antiken Mesopotamien stieß, der irakische Historiker in helle Begeisterung versetzt. Jens Bisky informiert über den Stand der Dinge beim Humboldtforum in Berlin. Karl Lippegaus gratuliert dem Jazzmusiker Jean-Baptiste Thielemans zum 90. Geburtstag.

Für eine Reportage für die SZ am Wochenende hat Tim Neshitov Dörfer ohne Wasserversorgung in Afrika besucht. Janek Schmidt erinnert an den schwierigen Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan. Maria Golia schaut sich Fotos von ägyptischen Präsidenten im Laufe der Geschichte an. Alex Rühle unterhält sich mit Marina Weisband. Für die Seite 3 begibt sich unterdessen Holger Gertz unter die Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus und kommt dabei zu dem Schluss, dass sich eigentlich nur Christopher Lauer gut in dieser Position eingerichtet hat.

Besprochen werden das neue Album von Jack White, die Ausstellung "Friederisiko" im Neuen Palais in Potsdam und Bücher, darunter die von Felix Denk und Sven von Thülen aufgeschriebene Oral History der frühen Keimzelle der späteren Berliner Techno-Szene (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).