Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.10.2001. Noch immer beschäftigt der Literatur-Nobelpreis einige Feuilletons. So druckt die FAZ einen Essay von V.S. Naipaul über Pakistan und den Islam, die NZZ beschreibt zwiespältige Reaktionen in Großbritannien und Indien. Die SZ dagegen hat in Paris Mode als Terror gesehen.

TAZ, 13.10.2001

Christian Semler kommentiert die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Jürgen Habermas, indem er dessen Einfluss "bis hinein in die Begriffe der Alltagssprache" verfolgt. Nicht nur habe der Begriff des Diskurses heute, bis in Familienauseinandersetzungen hinein, den des Streits überlagert, Habermas habe auch bewirkt, dass der Anspruch der Aufklärung hochgehalten wurde und damit die Möglichkeit, sich überhaupt politisch zu engagieren. "Virtuos erkennt er den richtigen Zeitpunkt für seine politischen Interventionen, ordnet die Fronten, zieht Hilfstruppen heran, kümmert sich um die publizistische Logistik."

Ferner: Bernard Imhasly schildert das Erstaunen, das die Verleihung des Literaturnobelpreises an den indischstämmigen Islamkritiker V. S. Naipaul in Indien ausgelöst hat. Es gibt ein Gespräch mit Leonard Cohen über seine Jahre im buddhistischen Kloster sowie sein neues Album "Ten New Songs." Auf der Buchmesse sucht Gerrit Bartels verzweifelt die Autoren. Und besprochen werden Arbeiten von Wolfgang Tillmans und Elizabeth Peyton in Hamburgs Deichtorhallen.

Das tazmag hat ein Berlin-Dossier zusammengestellt. Michael Rutschky gibt da Tipps zur Hauptstadterkundung, zu lesen ist ein Beitrag über U-Bahn-Philharmoniker sowie eine Liebeserklärung an die Glücksritter des Ostens, die Berlin erst zur Metropole machen, wie es heißt.

Und Tom.

NZZ, 13.10.2001

Georges Waser schildert zwiespältige Reaktionen in Großbritannien auf die Verleihung des Literaturnobelpreises an V.S. Naipaul: "Der Telegraph übrigens recht kritisch; so pries eine Überschrift wohl Naipauls 'freudlose Ehrlichkeit', doch stand in zwei von vier Artikeln, dass der Autor dieser Eigenschaft wegen einzig auf Bewunderer und kaum auf Freunde zählen könne. Der Independent schilderte den Nobelpreisträger als 'interessant sogar dort, wo er äusserst provokativ ist, und unerreicht, wenn in Hochform' seine tragische Vision halte ein Instinkt für Komödie im feinen Gleichgewicht. Im Guardian, der im September erst ein zweiseitiges Porträt Naipauls veröffentlicht hatte, wurde das Wahrnehmungsvermögen des Autors gelobt: 'and his prose' ... Die Times schliesslich befasste sich mit Naipauls Position eines extraterritorialen Autors: aus dieser Position der 'erhabenen geographischen Verrückung' habe der Nobelpreisträger ein vielleicht komplexeres und anspruchsvolleres Oeuvre als irgendein britischer Autor der Nachkriegszeit geschrieben." Und Bernard Imhasly beschreibt indische Reaktionen.

Weitere Artikel: Uwe Justus Wenzel würdigt den diesjährigen Friedenspreisträger Jürgen Habermas. Heinz Hug schreibt zum Tod des kamerunischen Schriftstellers Mongo Beti. Joachim Güntner berichtet von der Frankfurter Buchmesse, und gü. berichtet, dass Arno Schmidt jetzt bei Suhrkamp erscheint (früher Haffmans).

Besprochen werden Shakespeares "Kaufmann von Venedig" in München, der "Einstand" von Richard Wherlocks Ballett Basel.

Die Beilage Literatur und Kunst ist heute vor allem Büchern gewidmet, darunter der neuen Übersetzung des Moby Dick (siehe auch unsere Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr). Weitere Artikel widmen sich griechischen Göttern im Kaleidoskop neuzeitlicher Rezeption (von Cornelia Isler-Kerenyi), Dantes "vermessenem Odysseus" (von Karlheinz Stierle) und einer Ausstellung mit Schweizer Zeichnungen im Kunstmuseum Basel.

SZ, 13.10.2001

Angesichts der Wiederkehr der Friedensbewegung, die wir gegenwärtig erleben, plädiert Jens Bisky für eine Revision der alten antikapitalistischen bzw. "gepflegt unpolitischen" Ausrichtung: "Eine Friedensbewegung, die nicht in die überschwängliche Misere flüchtet, vom Dialog schwatzt und alles Tatsächliche, auch den Krieg ignoriert, gehört zu den wünschenswerten Dingen. Sie müsste bereit und sachkundig sein, jeden Schritt der Militärs zu kontrollieren. Der Krieg, den der Westen gegenwärtig führt, scheint kein Gesetz zu kennen, das festlegt, was erlaubt ist und was nicht. Ein solches Gesetz muss die kritische Öffentlichkeit des Westens installieren."

Raphael Honigstein prüft die Pret-a-Porter-Schauen in Paris auf ihre Zeitgeist-Kompatibilität: Bei Dior liefen "urbane Guerillakämpfer (...) mit Patronenhalftern über die Bühne, Las-Vegas-Americana wurde mal eben mit arabischen Turbanen und anderen Ethno-Versatzstücken durcheinander geworfen und dem Publikum aggressiv um die Ohren geknallt." Und Alexander McQueen präsentierte Mode als Terror: "Ein Kleid, das an zwei Baudrillas-Schwertern aufgehängt war, die sich durch den Körper der Trägerin bohrten."

Außerdem: Reinhard J. Brembeck über Simon Rattle, die Wiener Philharmoniker und die Gesamtaufführung der Neun Sinfonien von Ludwig van Beethoven, Roswitha Budeus-Budde über die Verleihung der Jugendliteraturpreise in Frankfurt. Es gibt ein Interview mit Jan Philipp Reemtsma über neueste Pläne der Arno-Schmidt-Stiftung. Und W. H. Audens Gedicht "September 1, 1939": I sit in one of the dives / On Fifty-Second Street / Uncertain and afraid / As the clever hopes expire / Of a low dishonest decade: / Waves of anger and fear / Circulate over the bright / And darkened lands of the earth, / Obsessing our private lives; / The unmentionable odour of death / Offends the September night ...

Besprochen werden: Dieter Dorns "Kaufmann von Venedig" am Bayerischen Staatsschauspiel, die Ausstellung "Dora Maar & Picasso" im Haus der Kunst in München, ein Symposium über Fotografie, Kunst und Natur in Weimar, Joe Roths Filmkomödie "America's Sweethearts", David Hockneys Buch über "Verlorene Techniken der Alten Meister" und ein "Kleines Islam-Lexikon" (siehe auch unsere Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr).

Und in der SZ am Wochenende schreibt Klaus Podak über den recht umtriebigen Friedenspreisträger, Weltgeist und "obersten Leitartikler der Republik" Jürgen Habermas und dessen Begriff von Kommunikation. Gert Sautermeister erinnert an die "Buddenbrooks", die vor hundert Jahren erschienen. Und Cathrin Kahlweit kümmert sich um "die Karriere-Frau und ihre besondere Midlife-Crisis."

FR, 13.10.2001

Das Feuilleton gehört heute der Literatur. Ursula März ist ziemlich geladen, weil sich, wie sie erklärt, literarische Werke neuerdings daraufhin befragen lassen müssen, ob sie zum Thema Islam, westliche Zivilisation, Kulturkampf, Hochhäuser, Terrorismus etc. etwas zu sagen haben. Besonders hinweisintensive Werke, meint sie, erklimmen jetzt auf der Skala der literarischen Relevanz von einem Tag auf den anderen eine Höhe, "von der sie ohne den 11. September nicht einmal zu träumen gewagt hätten." Bei dieser Variante von Gesinnungsästhetik, platzt März hörbar der Kragen.

Wladimir Kaminer hat einige kafkaeske Erinnerungen an seine erste Frankfurter Buchmesse im vergangenen Jahr: "Ganz oben unter einer Glaskuppel saßen die Literaturagenten. Sie wickelten dort ihre Termine mit wichtigen Leuten ab. Vor der Glaskuppel standen aufgeregte Menschen mit Aktentaschen - noch unentdeckte Autoren. Sie warteten auf Agenten, um sie mit einem Manuskript zu überraschen. Aber die Agenten waren nicht dumm und gingen den unentdeckten Autoren aus dem Weg. Dazu ließen sie sich noch von Sicherheitskräften bewachen und verließen ihre Glaskuppel nur in äußerster Not."

Weitere Beiträge: Der Romancier Wilhelm Genazino entwirft eine Typenlehre des Wünschens, Jörg Taszman schreibt über die sieche Filmkunst Polens, es gibt ein Gespräch mit dem griechischen Lyriker Michalis Ganas über Kavafis und das Volkslied, Jean-Philippe Toussaint erzählt, wie er als junger Mensch nach dem ersten Treffen mit seinem zukünftigen Verleger Jerome Lindon beinahe in Ohnmacht gefallen wäre. Und im FR-Magazin berichtet der brasilianische Bestseller-Autor Paulo Coelho von seinen nicht ganz ungefährlichen Wanderungen.

Besprochen werden Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig" als Eröffnungs-Premiere am Münchner Residenztheater, ein Band mit Fotografien von Todd Hido, Josef Winklers römische Novelle "Natura morta" sowie der erste Band der kleinen Schriften von Michel Foucault (auch in unserer Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr).

FAZ, 13.10.2001

Gerhard Stadelmaier hat in München einen "großen Endkampf" gesehen: Shakespeares "Kaufmann von Venedig" in der Inszenierung von Dieter Dorn. Frühere Shylocks hat Stadelmaier noch gut in Erinnerung. Doch Dorn "fügt dem Stück von 1595, das nur eine Figur zu kennen scheint, wundersam eine zweite hinzu, die schon immer da war. Das kann er, weil er die beiden größten, bewegendsten und beweglichsten Altmännerspieler der deutschsprachigen Welt im Ensemble hat. Das Duellduett oder Duettduell zwischen Antonio und Shylock wird zu gewaltiger Mimenmusik. Sein Antonio, den Thomas Holtzmann spielt, ist wohl der erste ganz und gar unvergessliche. Weil er ganz und gar funktionslos ist. Ein Mensch. Kein Beweis. Dorns unvergesslicher Shylock, den Rolf Boysen spielt, hat von allen Shylocks zum ersten Mal kein 'und' bei sich." - 'Und' wie: "Shylock und die Verkommenheit der Christen. Shylock und der Kapitalismus. Shylock und der Antisemitismus. Shylock und das Böse. Shylock und die Gesellschaft. Shylock und die Spaßgesellschaft."

Abgedruckt ist ein ganzseitiger Essay aus V.S. Naipauls Buch "Beyond Belief. Islamic Excursions Among the Converted People", in dem Naipaul einen kritischen Blick auf Pakistan und den Islam wirft: "Seinem Ursprung nach ist der Islam eine arabische Religion. Jeder Moslem, der kein Araber ist, ist ein Konvertit. Der Islam ist nicht einfach eine Frage des Bewußtseins oder des persönlichen Glaubens. Er stellt Herrschaftsansprüche. Die Sicht eines Konvertiten auf die Welt ändert sich..."

In einem weiteren Artikel hat Martin Kämpchen indische Reaktionen auf den Nobelpreis für V.S. Naipaul zusammengestellt.

Zwei Artikel zum "Bioterror": Joachim Müller-Jung fragt reichlich melodramatisch: "Sind wir darauf vorbereitet? Lassen sich die Festungen halten, wenn die Schergen mit ihrem biologischen Arsenal anrücken?" Das Lachen vergeht einem, wenn er am Ende aus einer Liste des Robert-Koch-Instituts die Impfstoffe aufzählt, die alle fehlen: "Milzbrandimpfstoff oder Antiserum vom Pferd? Im Westen nicht verfügbar, 'möglicherweise' in Russland, doch in welchen Mengen ist, ungewiss. Pestimpfstoff? 'Nicht verfügbar, möglicherweise in Russland'. Botulismus-Bakterien? 'In geringen Mengen in Deutschland verfügbar'. Pocken? 'Zulassung lief 1991 aus. Eine Wiederaufnahme der Produktion ist grundsätzlich möglich'. Maburg-, Ebola- und Lassaviren? 'Keine Impfstoffe verfügbar'." Peinlich.
Robert Jütte schildert in einem zweiten Artikel die Scheußlichkeiten einer Pockenerkrankung.

Weitere Artikel: Andreas Obst gratuliert Paul Simon zum Sechzigsten. Josef Oehrlein schreibt über Architektur und Design in Sao Paolo. Jürg Altwegg berichtet, wie Jürgen Habermas in den letzten Jahren Nietzsche und Heidegger bei den Franzosen verdrängte. Verena Lueken hat amerikanische Zeitschriften gelesen, die sich mit Sicherheit und Bürgerfreiheit beschäftigen.

Besprochen werden die Tanzaufführung "Greenspans Aktentasche" mit dem Ensemble Neuer Tanz in Düsseldorf, ein Depeche-Mode-Konzert in Frankfurt, Verdis "Aida" in Hannover und Lübeck, eine Ausstellung von Anne Katrine Dolven in der Kunsthalle Nürnberg, die Eröffnungsausstellung des schweizerischen Literaturarchivs in Bern, die die Symbiose von Dichter und Haustier vorführt, Heinz Bennent in zwei Tschechow-Stücken im Berliner Renaissance Theater.

In Bilder und Zeiten schreibt Verena Lueken über New York nach dem 11. September und das Ende der Ära Giuliani. Martin Sabrow schildert am Beispiel von Jacob Paul Gundling und Voltaire das Gelehrtenschicksal als epochalen Grenzfall. Stephan Leibfried schreibt über Frankfurt und die Handels- und Sozialwissenschaften. Helga Hirsch liefert eine Reportage über die Polin Zoja Perelmutter, die 1968 nach Israel auswanderte. Und Susanne Schaber schreibt über den Budapester Szobor-Park und seine Monumente.

In der Frankfurter Anthologie stellt Eva Demski ein Gedicht von Erich Kästner vor mit dem Titel "Das letzte Kapitel":Am 12. Juli des Jahres 2003 / lief folgender Funkspruch rund um die Erde: / dass ein Bombengeschwader der Luftpolizei / die gesamte Menschheit ausrotten werde ...