Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.08.2004. Die NZZ empfiehlt der kleinen Europa einen Ritt zurück nach Asien. Die SZ schildert, wie Francis Fukuyama mit einem Zeitschriftenbeitrag eine Sensation auslöste. Die FR beschleicht bei den Anti-Hartz-Demos ein Panikgefühl. Für die taz besucht Gabriele Goettle eine Wirtschaftsethikerin. Die FAZ war dabei, als deutsche McKinsey-Beamte die Berliner Mitte besetzten.

NZZ, 30.08.2004

Der Ostasien-Korrespondent Urs Schoettli beleuchtet informativ und ausführlich das Verhältnis von Europa und Asien. Zu viel Abgrenzung und zu wenig Osmose zwischen den Kontinenten hat er dabei ausgemacht. Seine Forderung: "Über die Gelehrtenstuben von Indologen, Sinologen und Japanologen hinaus müssen die Europäer verstärkt Asien als Hort der bedeutendsten Hochkulturen der Menschheit wahr- und ernst nehmen. So Europa den Ritt zurück nach Asien wagt, so muss sie dies im Bewusstsein dessen tun, was ihr von ihren vorderasiatischen Eltern vor der Entführung durch Zeus auf den Lebensweg mitgegeben worden sein dürfte, nämlich den Älteren stets den ihnen gebührenden Respekt zu zollen."

Weitere Artikel: Marja Turowskaja stellt die Forschung russischer Soziologen über den "Homo sovieticus" vor, deren Grundthese lautet: "Der Kollaps des Sowjetsystems sei nicht wegen wirtschaftlicher Krisen oder politischer Ausweglosigkeit erfolgt, sondern weil der Homo sovieticus anthropologisch nicht zu reproduzieren war." Carsten Hueck unterhält sich mit dem israelischen Schriftsteller David Grossman über das Gefühlsleben der Israelis und die Chancen für Frieden mit den Palästinensern: "Man muss einsehen, dass es in einer Realität, in der einem menschliche Organe um die Ohren fliegen, sehr schwer ist, Menschen davon zu überzeugen, dass es eine Möglichkeit zur Veränderung der Situation gibt." Fritz Schaub berichtet über einen "Fassadendramen-Wettbewerb" am Theater Luzern. Besprochen wird der Dokumentar-Film "Memoria del saqueo" vom argentinischen Filmemacher Fernando Solanas.

FR, 30.08.2004

Ursula März hat sich unter die Berliner Anti-Hartz-Demonstranten gemischt und ist zunächst etwas verwirrt: "Ist man überhaupt auf der richtigen Demonstration? Diese Frage erweckt ein lebensgeschichtlich sehr lang zurückliegendes Panikgefühl: versehentlich bei der falschen Demo, beim KBW anstatt bei der KPD/ML oder umgekehrt mitzulaufen, bei irgendeinem maoistischen Splittergrüppchen, obwohl man zu den Autonomen wollte, sie aber augenblicklich nicht findet."

Louise Brown leidet mit den jungen Designern, die Souvenirs für die KZ-Gedenkstätte Buchenwald entwerfen sollen. Im Kino wird das Mittelalter gerade wiederbelebt, bemerkt Morgan Powell, "genauer gesehen, das ausgehende zwölfte Jahrhundert". "Nach Disneyland zu reisen heißt auch, unseren Überfluss an Zeit zur Schau zu stellen", erkennt Martina Meister in der Warteschlange für die größte Touristenattraktion Frankreichs. Hans-Jürgen Linke stellt in Times mager eine Typologie des deutschen und amerikanischen Anglers auf. Und auf der Medienseite verrät Melanie Amann die gar nicht so konsumkritischen Anfänge des McDonalds-Dokumentarfilmers Morgan Spurlock.

Besprochen werden zwei Sachbücher, Mike Davis' politische Ökologie des Hungers in Bezug auf die "Die Geburt der Dritten Welt" sowie Thomas Ramges Familiengeschichte der "Flicks" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 30.08.2004

Auf den Kulturseiten unterhält sich Sebastian Sigler mit dem Philosophen Rüdiger Safranski, der "pünktlich zur Frankfurter Buchmesse und den Feiern zum 200. Todestag Friedrich Schillers 2005" eine Schiller-Biografie vorlegt. Für Safranski ist Schiller der "deutsche Shakespeare", dem das heutige Theater aber nicht gerecht werden kann: "Wenn wir nicht eine so verwahrloste Theaterszene hätten, wenn wir mehr gute Regisseure hätten, die auch wirklich einen Autor inszenieren können und nicht nur sich selbst, würde man auch auf deutschen Bühnen merken, dass Schiller der größte ist."

TAZ, 30.08.2004

Gabriele Goettle besucht in diesem Monat eine Wirtschaftsethikerin, eine studierte Philosophin auf vermeintlich verlorenem Posten im Kampf gegen Korruption und Bestechung. Informanten werden aber mit High-Tech geschützt. "Das ganze funktioniert dann so - ich hoffe, ich stelle das in aller Kürze deutlich dar: Der Hinweisgeber geht auf die Homepage: www.business-keeper.de, da wird er dann über jeden Schritt erst mal genau informiert, da kann er dann seine Meldung machen und seinen anonymen Postkasten einrichten, denn, im Unterschied zu allen anderen anonymen Hinweissystemen, können Sie hier einen Dialog führen, wenn Sie das möchten. Und die Meldung, wie auch die Verbindung, von der sie abgegeben wurde, das ist eben alles in einem superspezialisierten und patentierten Verschlüsselungsverfahren geschützt.."

In der zweiten taz gratuliert Jenny Zylka dem japanischen Phänomen Hello Kitty zum Dreißigsten, "ein Spiel mit dem Titel 'Kindfrau', das eigentlich längst ausgespielt sein sollte". Steffen Grimberg berichtet auf der Medienseite von den Plänen der nun gesundgeschrumpften SZ, die FAZ zu attackieren und eine "unterhaltsam-intellektuelle Zeitung für Deutschland" zu werden. Andrea Böhm präsentiert im Meinungsteil eine Auswahl der oft recht ausgefallenen Protestaktionen gegen den heute beginnenden republikanischen Parteitag in New York. Auf der Tagesthemenseite berichtet Michael Streck von den diesbezüglichen Aufwärmübungen am vergangenen Wochenende. Und Gabriele Lesser reist nach Lodz, wo man beginnt, sich des jüdischen Ghettos und dessen Liquidierung vor sechzig Jahren zu erinnern.

Schließlich Tom.

SZ, 30.08.2004

Andrian Kreye resümiert einen Essay des Politologen Francis Fukuyama, der in der Vierteljahresschrift The National Interest eine "Sensation" ausgelöst hat (hier ein Exzerpt): Darin kritisiere er mit "ungewohnter Schärfe" die Außenpolitik der USA und ihre neokonservativen Vordenker, insbesondere seinen "Freund und ideologischen Mitstreiter" Charles Krauthammer, der in einem Vortrag seine These weitergeführt hatte, "nach der die Welt seit 1989 von einem demokratischen Globalismus bestimmt wird, dessen einziger Protagonist die USA ist". Fukuyama wundert sich, dass Krauthammer mit keinem Wort die gescheiterte Irakpolitik der amerikanischen Regierung erwähnt hat. Er lässt, so Kreye, in seiner Antwort an Krauthammer "keine Zweifel an seiner grundsätzlichen Treue zum Neokonservativismus aufkommen. Nur seien eben dessen unipolare, alarmistische und missionarische Aspekte zu revidieren." Das ist noch nicht alles: In The National Interest (Inhaltsverzeichnis) debattieren weitere 18 Publizisten, vom britischen Historiker Niall Ferguson bis zum iranischen Exil-Intellektuellen Amir Taheri, über den Wendepunkt im Irak. Amerikas Rechte hat sich "im Diskurs der amerikanischen Politik die Debattenhoheit bewahrt", stellt Kreye fest.

Weitere Artikel: Thomas Urban berichtet, dass der Papst höchstpersönlich dafür gesorgt hat, dass Czeslaw Milosz in Polens "Pantheon der Verdienten", der Krypta des Krakauer Paulinerklosters beerdigt werden konnte. Die polnischen Nationalkatholiken wollten dies nicht zulassen, weil Milosz in ihren Augen kein Patriot war. Im Interview erklärt Hannah Hurtzig, was es mit ihrer "Mobile Academy" zum Thema "Fakelore" auf sich hat: 100 Studenten aus aller Welt werden sich in Berlin in Seminaren und Vorträgen mit der "Konstruktion und Erfindung urbaner Folklore" beschäftigen. Siegfried Stadler porträtiert den begeistert in den Ersten Weltkrieg ziehenden Dichter Walter Flex (sein Gedicht an die "toten deutschen Soldaten finden Sie hier). Ralf Berhorst berichtet über eine Tagung in Neuhardenberg zum EU-Beitritt der Türkei. Moshe Zimmermann stellt den "collageartigen" Dokumentarfilm "Hitlers Hitparade" vor, die heute Abend auf Arte läuft. Petra Steinberger widmet sich in der Reihe "Verblasste Mythen" dem Araber.

Besprochen werden eine Ausstellung über "Women Travellers" in der National Portrait Gallery in London, der Metallica-Film "Some Kind of Monster" und Bücher, darunter Werke von und über Karl Mannheim und John Bergers Essayband "Gegen die Abwertung der Welt" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 30.08.2004

Im Feuilleton berichtet Christian Bommarius über einen Kompromiss der Akademie für Sprache und Dichtung, der heute durch den emeritierten Professor für Romanistik und Sprachwissenschaft, Hans-Martin Gauger, vorgestellt werden soll: "Das Angebot, das Gauger im Namen der Akademie unterbreitet, ist jedenfalls sehr übersichtlich (es steht auf 141 Seiten) und - sollte es am Ende angenommen werden - ein Meilenstein in der Geschichte des Kompromisswesens. Einerseits würden, wie seine Autoren versprechen, damit alle gravierenden Einwände gegen die Neuregelung gegenstandslos, andererseits würden Schulbuchverlage und Steuerzahler vor den befürchteten Kosten für Neudrucke bewahrt." Die Vorschläge sind nicht ganz neu, doch gestehe Gauger: "'Wir haben geschlafen'...Um so heftiger sei dann die Erkenntnis des schweren Versäumnisses gewesen: 'Sie müssen bedenken, Schreiben ist für jeden eine der ersten Kulturtechniken, die er im Leben erlernt. Das kommt gleich nach dem Töpfchen.'"

FAZ, 30.08.2004

Zweimal Berlin.

Eleonore Büning durfte erleben, wie Simon Rattle und die Philharmoniker im Eröffnungskonzert der Berliner Saison mit Schönbergs Orchestervariationen brillierten: "Deutlich heben Rattles feinzeichnend fordernde Hände die in der Nebenstimme versteckte Verbeugung vor Kontrapunktväterchen B-A-C-H heraus."

Mark Siemons schickt ein scharf beobachtendes Feuilleton von den Selbstfeiern der deutschen McKinsey-Beamten, die am Wochenende die gesamte Berliner Mitte besetzten. Höhepunkt war der Tanz am historischen Ort, dessen symbolische Dimension Siemons so beschreibt: "Darauf war der ganze Tag zugelaufen: Der asbestgereinigte Palast der Republik präsentierte sich mit seiner entkernten, von aller Geschichte und Bedeutung befreiten Struktur als das perfekte Abbild der McKinsey-Welt und deren Abstraktionen."

Weitere Artikel: Aufmacher ist der Nachdruck eines Vortrags von Paul W. Schroeder (den die FAZ als "weltweit wohl angesehensten Historiker der internationalen Beziehungen" vorstellt) über den fatalen Unilateralismus von Bushs Außenpolitik. In der Leitglosse feiert Hubert Spiegel den Beitrag Walter Jens' für die Frankfurter Anthologie am Samstag als Ereignis von literarhistorischer Bedeutung, da Jens und Marcel Reich-Ranicki, der Redakteur der Anthologie, seit Jahren verfeindet waren und nun als versöhnt gelten wollen (als nächstes bitte eine Gedichtinterpretation von Martin Walser!) Stephan Wackwitz (Chef des Goethe-Instituts von Krakau, mehr hier) berichtet über den Trauergottesdienst für Czeslaw Milosz in Krakau und erinnert sich an Milosz' liberalen Katholizismus. Heinrich Wefing berichtet über ein Treffen der International Commission of Jurists in Berlin, die die weltweiten Menschrechtsverstöße im Namen des Kriegs gegen den Terror kritisierte (hier ihre Deklaration). Ingeborg Harms liest deutsche Zeitschriften, die sich mit zeitgeschichtlichen Themen der deutschen Geschichte auseinandersetzen. Hubert Spiegel ernennt Thomas Bernhards "Macht der Gewohnheit" zu seinem Lieblingsbuch. Zhou Derong deutet das erstaunliche Phänomen, dass Chinesen in Mannschaftssportarten nur dann reüssieren, wenn sie von japanischen oder südkoreanischen Trainern angeleitet werden.

Auf der Medienseite kritisiert Michael Hanfeld den Bundeskanzler, der das vom Straßburger Gerichtshof gefällte Urteil zum Schutz Prominenter vor aufdringlichen Pressevertretern nicht anfechten will.

Auf der letzten Seite erinnert Frank-Rutger Hausmann an die Buchgeschenke, die Hitler machte und sich machen ließ. Jürg Altwegg meldet, dass sich eine historische Versöhnung zwischen den Sankt-Gallenern (oder sagt man Sankt Gallern?) und den Zürchern anbahnen könnte - nach langwierigen Verhandlungen scheinen die Zürcher bereit, Raubgut aus dem Zweiten Villmergerkrieg von 1712 an die Stiftsbibliothek Sankt Gallen zurückzugeben. Dirk Schümer erinnert an den Komponisten Nino Rota, der international vor allem durch seine Filmmusiken für Fellini berühmt wurde und dessen Nachlass jetzt in Venedig gehegt wird.

Besprochen werden Martin Wuttkes "Solaris"-Inszenierung in Neuhardenberg und Sachbücher.