Efeu - Die Kulturrundschau

Mit einem 'yeaaah, nice'-Hauchen

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09.03.2021. In der FR geht die Autorin und Filmemacherin Merle Kröger der Frage nach, wie wie ein politisches Subjekt entsteht. In der Debatte um die Amanda-Gorman-Übersetzung fragt Marion Kraft zurück, ob man nicht doch eher weiß sein müsse, um im Betrieb als Übersetzerin infrage zu kommen. Der Standard erlebt mit Pretty Yende in der "Traviata" die Verschmelzung von Dramatik, Koloratur, Überschwang und Todesangst. Die taz blickt auf die Erschütterungen in der griechischen Theaterlandschaft. Die Zeit verliert sich mit Salka Tizianas Film "For the Time Being" im spanischen Nichts.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.03.2021 finden Sie hier

Literatur

In der FR spricht Merle Kröger über ihren Politthriller "Die Experten" (unsere Kritik), der davon erzählt, wie Ägyptens Präsident Nasser in den 60ern deutsche Ingenieure ins Land lockt, um seine Rüstungsindustrie aufzubauen - ein Roman, für den sie viel recherchierte und die literarische Form stets ausbalancierte, sagt sie. Der Stoff kam ihr mit jeder Seite politischer vor: "Ich dachte, oh wow, das wird ja jeden Tag aktueller, es gibt so viele Anknüpfungspunkte an Dinge, die mich heute beschäftigen, an Fragen, die mich heute beunruhigen. ... Wer macht Machtpolitik und wie wird gesprochen in der Politik? Aber auch im Sinne von: Wie entsteht ein politisches Subjekt? Es hat mich sehr beschäftigt die Frage nach der Vorgeschichte der 68er:innen, speziell der Frauen. Wie hat sich jemand politisiert, wie haben die Frauen und Mädchen sich politisiert, die Ende der 50er, Mitte der 60er Jahre erwachsen wurden? Ich habe schon früh gemerkt, dass diese Geschichte weltpolitisch spannend ist, ich aber keine Lust habe, mich mit den Ingenieuren selber als Zentrum meiner eigenen Identifikation zu beschäftigen. Sondern, dass ich lieber aus der nächsten Generation und aus feministischer Perspektive draufgucken würde."

Die SZ hat bei zahlreichen Übersetzerinnen und Übersetzern im Eindrücke gebeten, die sie aus der Debatte um die Amanda-Gorman-Übersetzung mitnehmen. Auch Marion Kraft hat geantwortet. Die Debatte unter der Fragestellung, ob man schwarz sein müsse, um Schwarze übersetzen zu können, findet sie "aufgebauscht". Eher sollte man fragen, ob man vielmehr weiß sein müsse, um im Betrieb als Übersetzerin infrage zu kommen. Unter anderem hieß es, "die neue Übersetzerin Gormans müsse dann auch dünn sein, weil die Lyrikerin sich als 'skinny black girl' bezeichnet. Nein, Gorman evoziert hier Phillis Wheatley, die erste in Buchform veröffentlichte Lyrikerin Nordamerikas überhaupt, die als abgemagertes, kleines, versklavtes Mädchen dorthin verschleppt wurde und mehr als nur einen Hügel erklomm. Es geht hier bei 'skinny' genauso wenig um westliche Normvorstellungen des weiblichen Körpers, wie es bei schwarz um Hautfarbe geht. Dies zu wissen, ist nicht Voraussetzung für eine gute Übersetzung, kann aber dazu beitragen, den Ton und die Intention der Autorin genauer zu treffen. Dabei handelt es sich nicht um 'Identitätspolitik' und auch nicht darum, wer was darf, eher schon darum, wer was nicht darf."

Weitere Artikel: Für Intellectures spricht Thomas Hummitzsch mit Mithu Sanyal über deren Romandebüt "Identitti", in dem die Autorin ihre Erfahrungen als "mixed-race" verarbeitet. Das dem Titel nach zwar schon länger bekannte, aber jetzt erst in Textform aufgetauchte Nabokov-Gedicht "The man of To-morrow's Lament" ist tatsächlich eine Auseinandersetzung mit Superman-Comics, freut sich Andreas Platthaus in der FAZ (mehr dazu hier im Times Literary Supplement).

Besprochen werden unter anderem Sharon Dodua Otoos "Adas Raum" (Freitag), eine Neuausgabe von Marjane Satrapis Comicklassiker "Persepolis" (NZZ), Takis Würgers "Noah" (NZZ), Raphaela Edelbauers "Dave" (Dlf Kultur), Nanni Balestrinis "Der Verleger" (Tagesspiegel), Claudia Durastantis "Die Fremde" (SZ), eine von Jutta Lampe gelesene CD mit Gedichten von Michelangelo (Tagesspiegel), Benedict Wells' "Hard Land" (SZ) und Tove Ditlevsens Kopenhagen-Trilogie (FAZ).
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Bühne

Pretty Yende und Juan Diego Floórez in "La Traviata". Foto: Staatsoper Wien

Absolut stimmig findet Ljubiša Tošić im Standard Simon Stones Inszenierung von Verdis "La Traviata" als Influencer-Drama an der Wiener Staatsoper mit der Violeta als krebskrankem It-Girl: "Simon Stone verbindet in diesen Momenten starke Bilder mit seiner eigenen Erzählung. Zugleich schafft er es, Pretty Yende in die Bilderflut einzubinden, die als Violetta Valéry das energetische Zentrum der Inszenierung bildet. Ob als Celebrity oder als dahinsiechende Frau, die mit verzweifelter Wut gegen die Folgen der hoffnungslosen Diagnose ankämpft: Es kommt zur Verschmelzung von Dramatik, Koloratur (weitestgehend sicher) und der Darstellung von Überschwang, der zu Todesangst wird... An ihrer Seite Juan Diego Flórez (als Alfredo): Wenn es darum geht, Violetta anzuschmachten, ist der Tenorstar in seinem gefühlsprallen Element."

In einem Gespräch mit Astrid Kaminski in der taz sprechen die Schauspielerin Antriana Andreovits und der Regisseur Prodromos Tsinikoris über di die Eruptionen, gerade Griechenlands Theaterlandschaft erschüttern: Dimitris Lignadis, der bisherige Intendant des Athener Nationaltheaters, wurde nach Vergewaltigungsvorwürfen von männlichen Jugendlichen verhaftet (mehr hier). Andreovits zufolge gibt es "eine Tendenz, #MeToo herunterzuspielen und so zu tun, als existiere das Problem jenseits von Lignadis nicht." Und Tsinikoris sagt: "Mehr noch, dass Lignadis eine Art Opfer eines Missverständnisses war. Im Fernsehsender Skai hielt eine Journalistin es für möglich, dass er einfach zu viele antike Stoffe gelesen habe und sich daher gern mit jungen Männern umgab. Auf Alpha TV wurde vom 'Blick eines freien Mannes' gesprochen."

Besprochen werden die beiden Tanzabend-Streams "Gymnastik" von Gintersdorfer/Klaßen aus Köln und Marco Goeckes Ballett "Der Liebhaber" nach dem Roman von Marguerite Duras aus Hannover (Letzteres findet Dorion Weickmann in der SZ "bravourös", Manuel Brug attestiert ihr in der Welt "eine ungeheure, sinnlich vibrierende Spannung").
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Film

Wahrnehmungsraum für die Landschaft in der Hitze: "For the Time Being"

Salka Tizianas auf Mubi gezeigter Film "For the Time Being" ist eine "Sensation", schwärmt Katja Nicodemus in Zeit, auch wenn nicht so richtig klar wird, worin diese Sensation genau besteht. Es geht um eine Familie in der spanischen Einöde. Man wartet auf die Ankunft des Vaters. "So verweilen die Mutter und ihre Söhne (Jon Bader, Ole Bader) in einem Zustand des Wartens und der Unbestimmtheit. Ganz langsam entsteht ein Wahrnehmungsraum für die Landschaft, die hochsommerliche Hitze, die Sonne, die Dürre, das Zirpen der Zikaden." Die Bilder des Films "wirken zugleich gegenwärtig und entrückt. Das Weiß des Hauses inmitten der von braun-grünen Bäumen bewachsenen Hügel. Kühe, die auf der Straße nur zögerlich dem Dieselgeräusch eines alten Kleinlasters Platz machen. Unter einem Baum dösende Hunde. Vor der Tageshitze abgeschirmte schattige Innenräume."

Weitere Artikel: In der taz resümiert Tim Caspar Boehme die Berlinale. Besprochen werden die auf Amazon gezeigte Komödie "Der Prinz aus Zamunda 2" mit Eddie Murphy (Tagesspiegel) und Dieter Kosslicks Memoiren (SZ).
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Design

Haruki Murakami hat für die Bekleidungsfirma Uniqlo ein Set an T-Shirts entworfen - nur rasend viel lässt sich nicht darüber sagen, findet Tanja Rest in der SZ: "Ein Mann an der Bar, eine Katze am Schreibtisch, der Doppelmond aus '1Q84', die Krähe aus 'Kafka on the Beach' verweisen recht starrsinnig nur immer wieder auf den Autor und sein Werk zurück. Nicht mal einen klitzekleinen Styler-Komplex kann man Murakami andichten." Dabei war nach ersten Gerüchten auf Social Media ja von einer ganzen Murakami-Kollektion die Rede, was die Fantasien mächtig angeheizt hatte: Das müssten ja wohl Kleider sein, "deren Bedeutung sich erst beim zweiten Hinsehen erschließen würde. Sagen wir ein Mantel, der sich als Kleid entpuppt, das von vorne seriös hochgeschlossen daherkommt, rückseitig aber hinterntief geschnürt und sexy wäre; oder ein gedecktes Sakko, aber mit einem lodernd extravagant-fantastischen Stoff gefüttert, der vielleicht Katzenwesen beinhaltet und Schriftzeichen."

Besprochen wird die auf Arte gezeigte Doku "Fast Fashion" über Billigmode (taz).
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Kunst

In der FAZ freut sich Stefan Trinks über die noch andauernde Rekonstruktion von Anton von Werners Bismarckturm in Saarbrücken. Besprochen werden die Ausstellung "Hidden - Tiere im Anthropozän" im f³ - Freiraum für Fotografie in Berlin (Monopol) und Katharina Sieverdings Videoarbeit "Die Sonne um Mitternacht schauen" im Projektraum Open (Monopol).
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Architektur

In der Welt gratuliert Dankwart Guratzsch dem früheren Berliner Senatsbaudirektor Hans Stimmann zum Achtzigsten und lobt in allerhöchsten Tönen sein berühmt-berüchtigstes Werk der kritischen Rekonstruktion: "Er bestand auf der Traufhöhe und der Rehabilitation der Europäischen Stadt durch Blockrandbebauung." In der FAZ schreibt Matthias Alexander.
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Stichwörter: Stimmann, Hans

Musik

Gut abgehangen findet Andrian Kreye in der SZ die Kollaboration zwischen Iggy Pop und Dr. Lonnie Smith. Auf Smiths neuem Album haben die beiden zwei Songs gemeinsam aufgenommen, darunter eine Coverversion von "Sunshine Superman": "Pop sorgt mit seinem etwas subtiler gewordenen Aggro-Timbre dafür, dass dem Song jegliche Hippieseligkeit ausgetrieben wird. Dazu lässt Smith seine Blockakkorde aus den Tiefen der Magnetspulen aufbrodeln, als seien es Geysire. Der zweite Song, den die beiden aufgenommen haben, ist Timmy Thomas' Schmachtballade 'Why Can't We Live Together?'. ... Pop stellt die Frage eher zynisch-rhetorisch. Aber er genießt hörbar den Fluss des Grooves, stößt ein paar spitze Iggy-and-the-Stooges-Schreie aus, um dann mit einem 'yeaaah, nice'-Hauchen klarzumachen, dass er mit dem Mann an der Orgel sowieso alles singen würde." Der "Sunshine Superman" ist auf Youtube zu finden:



Weitere Artikel: In der Welt schreibt Jan Küveler Neill Young einen Brief. Christoph Wagner gratuliert in der NZZ dem indischen Musiker Zakir Hussain. Jan Brachmann schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Pianisten Dmitri Baschkirow.

Besprochen werden ein neues Album von Edie Brickell & The New Bohemians (FR) und ein neues Album mit Aufnahmen der Sopranistin Sonya Yonchevas (FAZ).
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