9punkt - Die Debattenrundschau

Von der Gegenwart abgehängt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.12.2020. Im Perlentaucher antwortet der Antisemitismusbeautragte des Bundesregierung Felix Klein auf den "Weltoffen"-Aufruf und verteidigt den BDS-Beschluss des Bundestags. In der FAZ versteht Hanno Loewy überhaupt nicht, warum man BDS eine solche Bedeutung zuschreibt. In der NZZ staunt Hubertus Knabe über die Wiederkehr des politischen Plakats. Heute wird das Urteil gegen den Halle-Attentäter erwartet. Zeit online lobt die Prozessführung der Richterin. In der FAS fragt sich der  "Latino" Hernán D. Caro, warum 32 Prozent der amerikanischen Latinos für Trump stimmten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.12.2020 finden Sie hier

Ideen

Im Gespräch mit Thierry Chervel vom Perlentaucher reagiert der Antisemitismusbeautragte des Bundesregierung Felix Klein auf den Aufruf der "Initiative 5.3 GG Weltoffenheit" und verteidigt den BDS-Beschluss des Bundestags: "Auch nach dem Beschluss zu BDS kann jeder Theaterchef, jede Chefin einer Institution, jede Rednerin, jeden Künstler einladen, aber man muss mit den Konsequenzen leben, die eine Debatte mit sich bringt. Die Debatte um Mbembe hat ja gezeigt, dass da einige Narrative über Holocaust und Kolonialismus kollidieren, und das ist ja auch gut so. Solche Debatten sind gut und wichtig in einer Demokratie."

Im Deutschlandfunk Kultur wird eine Stimme gegen die "Initiative gg 5.3 Weltoffenheit" zitiert. "Selbstverständlich lassen sich die Deutschen ihre Kritik an Israel nicht verbieten", sagt die deutsch-jüdische Schriftstellerin Mirna Funk im Gespräch mit Vladimir Balzer, das auf der Website des Senders resümiert wird. "Aber noch schlimmer wird es für sie offensichtlich, wenn sie für diese Kritik nicht mehr bezahlt werden, denn darum geht es ja eigentlich in dem Bundestagsbeschluss", so Funk weiter.

In der FAZ kritisiert Hanno Loewy vom Jüdischen Museum Hohenems, einer der Urheber des "Weltoffenheit"-Aufrufs, den BDS-Beschluss des Bundestags. Überhaupt versteht er die ganze Aufregung um den BDS nicht so ganz, dem er kaum eine Wirkung bescheinigt: "Als Herausforderung Israels ist BDS eine gescheiterte Bewegung. Ihre zweifelhaften Wirkungen erzielt sie auf dem Feld des kulturellen und wissenschaftlichen Boykotts, vor allem aber in der Einschüchterung palästinensischer und arabischer Künstler und Wissenschaftler. Es gibt allerdings einen Unterschied. BDS ist eine Bewegung von NGOs, die in Deutschland mit zumeist zahnlosen Mitteln Veranstaltungen stört und ab und zu ein Festival unter Druck setzt. Der vom Bundestag beschlossene 'Kampf gegen BDS' in Deutschland ist hingegen eine machtvolle Geste des Staates. Paradoxerweise trifft er oft die gleichen Menschen, die auch die BDS-Kampagne trifft: kritische Juden, nicht zuletzt jüdische Israelis, die mit der 'anderen Seite' reden wollen."

Auch die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger bekräftigt in der FAZ nochmal ihre Unterstützung für den "Weltoffen"-Aufruf: "Der gutgemeinte BDS-Beschluss des Deutschen Bundestages hat eine Atmosphäre der Rechtsunsicherheit und vorauseilenden Selbstzensur geschaffen, die kein Freund liberaler Rechtsstaatlichkeit ernsthaft gutheißen kann."

In der NZZ blickt Hans Ulrich Gumbrecht zurück auf das Jahr 2020 und eine politisch wie von Covid gespaltene Gesellschaft, die ihr Verhältnis zum Staat neu definieren muss: "Der explosivste aller Gegensätze zum bestehenden Staat existiert unter jenen Bürgern, die sich von der politischen Praxis der bestehenden politischen Institutionen nicht mehr vertreten fühlen. Denn den Affekt des gebrochenen Vertrauens teilen die radikalen Kritiker des 'systemisch' genannten Rassismus in den Vereinigten Staaten ausgerechnet mit denjenigen Landsleuten, die sie selbst bedenkenlos als 'Rassisten' abqualifizieren, weil diesen das eigene Gefühl, von der Gegenwart 'abgehängt' zu sein, wichtiger ist als die Identitätsansprüche vielfältiger Minderheiten."

In der Hitparade der weltzuständigen Dampfplauderei erobert Nachhaltigkeitsforscherin Maja Göpel so nach und nach einen ehrenvollen dritten Platz nach Slavoj Zizek und Markus Gabriel und noch vor Richard Precht. Heute redet sie im Gespräch mit Elisabeth von Thadden von der Zeit über "neue Solidarität und neues Wirtschaften" nach Corona: "Erinnern Sie sich an die Berichte über das buddhistische Königreich Bhutan und das dortige Wohlstandsmaß des Bruttonationalglücks? In dieser asiatischen Kultur wird Wohlergehen nicht als Glücklichsein im westlichen Sinne eines Dauergrinsens verstanden, das immer nur sagen soll: 'Ich bin gut drauf!' Es wird eher als Zuversicht verstanden, als eine Haltung, die widerstandsfähig macht. Als ein glückliches Leben gilt dort nicht eines..." Wir blenden aus.

In der NZZ staunt Hubertus Knabe über die Renaissance des politischen Plakats auf den Straßen. Allein die Bundesregierung hat ihren Etat dafür im Jahr 2023 auf 200 Millionen Euro verdoppelt (Scholz & Friends werden begeistert sein). Und sie ist damit nicht allein: "'Bei uns ist Klimaschutz mehr als Fassade', verkündeten zum Beispiel Deutschlands Wohnbaugenossenschaften auf mannshohen Plakaten. 'Berlin sagt Ja zum CO2-Ausgleich', behauptete der Shell-Konzern auf einem riesigen Fassadentransparent. Und die Stadtregierung forderte von ihren Bürgern auf Hunderten von Werbetafeln: 'Berliner: Tragt, was ihr wollt. Hauptsache, Maske.' So viel politische Agitation auf den Straßen der Hauptstadt kennt man sonst nur aus Wahlkampfzeiten. Ehemalige DDR-Bürger fühlen sich zunehmend an alte Zeiten erinnert. Im Sozialismus gehörte die 'Sichtagitation' - wie das Anbringen politischer Botschaften im öffentlichen Raum hieß - zum Alltag. 'Je stärker der Sozialismus, desto sicherer der Frieden', war da am Straßenrand in großen Lettern zu lesen." Hat am Ende aber wenig genutzt, wie wir wissen.
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Gesellschaft

Heute wird das Urteil im Prozess gegen den Halle-Attentäter Stephan Balliet gesprochen, berichtet auf Zeit online Martin Nejezchleba, der die Prozessführung der Vorsitzenden Richterin Ursula Mertens lobt, die die Opfer in den Mittelpunkt des Prozesses gestellt habe: "Ein Überlebender, eine Überlebende nach der anderen tritt in den Zeugenstand. Sie wollen eine Botschaft kundtun: nicht für Stephan Balliet, nicht für die Richterin, nicht für Halle, sondern für die Welt. Der Attentäter hat verloren. Und: Wir lassen uns nicht einschüchtern. Es gibt Tage, da gleicht das Verfahren eher einer Bewältigung, da dient es wirklich mehr der Aufarbeitung als der Aufklärung - und die Richterin lässt es zu."

Viele würden es sicher nicht so vermuten, aber Online-Bestellungen sind oft klimafreundlicher als der Einkauf im stationären Handel, sagt Till Zimmermann, Experte für das Thema Kreislaufwirtschaft, im Interview Svenja Bergt von der taz. Das gilt natürlich vor allem, wenn man mit dem Auto in die Stadt fahren würde: "Da wäre dann ein Online-Einkauf vorzuziehen. Wer jetzt aber statt mit dem Auto mit dem Fahrrad fährt oder läuft, verbessert die CO2-Bilanz deutlich. Der öffentliche Nahverkehr liegt dazwischen, aber deutlich näher am Auto als am Fahrrad. Und je länger die mit dem ÖPNV zurückgelegte Strecke, desto besser würde in der Bilanz eine Onlinebestellung abschneiden."

Der in Berlin lebende Amerikaner und "Latino" Hernán D. Caro denkt in der FAS darüber nach, warum etwa 32 Prozent aller Latino-Wähler für Trump stimmten. Als einen der Faktoren nennt er das "sehr amerikanische Bedürfnis, die eigene Zugehörigkeit zu überschreiben. Wenn man einmal 'draußen' gewesen war, nun aber 'drinnen' ist oder es zu sein glaubt, kann man vergessen, wer man einst gewesen ist. In meiner kolumbianischen Kindheit nannte man das: sich auf einmal für ein 'Mitglied einer besseren Familie' zu halten. Doch es steckt auch der Impuls darin, kein Außenseiter mehr sein zu wollen, sich nicht als Opfer sehen zu wollen. Ein heikler, aber auch nachvollziehbarer Impuls der Integration."
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Politik

Auch in Israel sind Gesellschaft und politische Parteien in fast allen wesentlichen Fragen zutiefst gespalten. In einem Punkt jedoch "herrscht Konsens", erklärt Christine Kensche in der Welt: Die Gefährlichkeit des iranischen Atomprogramms. Weshalb auch das israelische Attentat auf den iranischen Atomwissenschaftler Mohsen Fachrisadeh kaum verurteilt wird: "Das Atomprogramm des Iran ist eine existenzielle Bedrohung für den jüdischen Staat. Die Ajatollahs selbst lassen daran keine Zweifel aufkommen. Ali Khamenei wiederholt bei jeder Gelegenheit, dass es die Mission der Islamischen Republik sei, 'Israel von der Landkarte zu radieren'. Am diesjährigen 'Al-Kuds-Tag' verwendete das religiöse Oberhaupt Nazi-Vokabular und sprach von der 'Endlösung'. Seine Getreuen verweisen gern auf ihr Raketenarsenal, mit dem sie Israel einen 'Holocaust' bereiten würden. In Brüssel mag man das als Rhetorik abtun - Jerusalem nimmt die Drohungen des schiitischen Regimes ernst."
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Internet

Da wir Timo Daums ersten Artikel über die deutsche Autoindustrie und das Thema "Autonomes Fahren" zitiert haben (Resümee), verweisen wir auch auf die heutige Fortsetzung. Im ersten Artikel konstatierte Daum, dass die deutsche Industrie hinterhinkt. Heute erläutert er, dass es zwei Ansätze des autonomen Fahrens gibt: das Aufrüsten von Autos mit immer neuen Assistenzsystemen für die Fahrer (der deutsche Weg) und Robo-Taxis, wo der Fahrer nur noch Passagier ist (China und Amerika): "Bereits im April 2017 ging unter dem Namen Waymo One der weltweit erste Selbstfahr-Taxidienst im Stadtgebiet von Austin, Texas, an den Start - die Wüstenstadt ist bekannt für gleichbleibend gute Wetterbedingungen und ein übersichtliches Straßennetz. Das Fahrzeug wird wie bei einer Taxi-App bestellt und ein Aufnahmepunkt, meist die nächste Straßenecke oder etwa ein Supermarktparkplatz, gewählt. Das Fahrzeug kommt, per App wird die Tür geöffnet und der Kunde kann Platz nehmen."
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Medien

In seiner Kolumne in Meedia beschreibt Stefan Winterbauer recht präzise das aktuelle Problem von Medien mit ihren Geschäftsmodellen: "Während Digitalkonzerne an der Finanzierungsgrundlage privater Medien knabbern, bremst der umfassend finanzierte ÖR womöglich bei dem einen oder anderen die Neigung, ein Digital-Abo abzuschließen. Hinzu kommt ein breites und breiter werdendes Angebot an Klein- und Kleinst-Medien, die spezielle Interessen bedienen und sich häufig über Spenden finanzieren. Hier eine allgemeine Abgabe wie der Rundfunkbeitrag, dort Inhalte gegen eine milde Gabe. Dazwischen wird es für jene, die Journalismus als Business betreiben enger und enger."

Im Gespräch mit Le Monde blickt Riss, Chefredakteur von Charlie Hebdo, auf den Charlie-Prozess zurück, wo letzte Woche Komplizen der Attentäter verurteilt wurden. Den Islamismus betrachtet er als eine rechtsextreme Bewegung und zeigt sich bestürzt, "dass ein Teil der Linken, die immer gegen das Reaktionäre gekämpft hat, nicht sieht, dass diese fundamentalistischen Bewegungen reaktionär und rückschrittlich sind, und das hat nichts mit Islamophobie oder Hass auf den Islam zu tun."
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