Efeu - Die Kulturrundschau

Hauptsache très chic

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.08.2017. In der SZ sorgt sich Stuttgarts Schauspielintendant Jossi Wieler um den von den russischen Behörden drangsalierten Regisseur Kirill Serebrennikow. Euphorisch resümieren die Kritiker das Filmfestival von Locarno, das mit Goldenen Leoparden für Wang Bings Dokumentation "Mrs. Fang" zu Ende ging. In der FAS ächzt Zadie Smith über linke Debattenkultur. Die Welt erkennt die Schönheit einsamer tanzender Trinker in der österreichischen Fotografie. Der Tagesspiegel bewundert Speed und Spirit der eklektizistischen Kinshasa Collection. Im Perlentaucher betrauert Thekla Dannenberg Maigrets Verschwinden vom deutschen Buchmarkt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.08.2017 finden Sie hier

Design


Die "Kinshasa Collection". Foto: Goethe Institut

In Berlin wurde die Webserie "Kinshasa Collection" (mehr dazu hier) zusammen mit einer Modenschau vorgestellt. Caroline Fetscher vom Tagesspiegel hatte am umbekümmert farbenfrohen Eklektizismus der zur Schau gestellten kongolesischen Mode sichtlich Freude:  Die Webserie habe "Speed und Spirit, ist transkontinentale Docufiction, investigative Tropenkomödie und aufklärende Kritik in einem. Westliche Modehäuser wirken wie gestrickte Einfallslosigkeit, blickt man auf Kinshasas explosive Modefantasie, den Charme der Improvisation. Hier ist alles kombinierbar, Hauptsache très chic. In sämtlichen Farben leuchten die Stoffe, kubistisch oder floral, besetzt mit Pailletten, glitzerndem Strass."

In der taz berichtet Brigitte Werneburg von dem Abend. Sie fand es "ein wenig schade, aber im Kontext von Goethe-Institut und HKW verständlich, dass die Luxusmarkenlogos, die in der gefälschten Form gerne noch ein bisschen größer sein dürfen als in echt, fehlten. Denn damit analysieren und feiern die afrikanischen Designer höchst ironisch die Mode als eine durch und durch säkulare wie unabdingbar mit der Entstehung und Geschichte des Kapitalismus verbundene Angelegenheit."
Archiv: Design

Film


Still aus Wang Bings "Mrs. Feng"

In den teils euphorischen Kritiken hat es sich bereits angekündigt, dass Wang Bings "Mrs. Fang", ein intimer, ursprünglich für die Documenta produzierter Dokumentarfilm über das Sterben einer an Alzheimer erkrankten Frau, zu den Highlights des Festivals von Locarno zählt: Jetzt hat die Jury um Olivier Assayas nachgezogen und Film samt Regisseur mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet. Wenn Ihnen der Name Wang Bing nichts sagt, erfahren Sie das Allerwichtigste in aller Kürze aus Bert Rebhandls kleinem Porträt im Standard. Dass man dem Film, in dem das Gesicht der sterbenden Frau mehrere Minuten in Großaufnahme zu sehen ist, mit auch mit Nachfragen nach dem dokumentarischen Ethos begegnen kann, belegen Susanne Ostwald (NZZ) und Daniel Kothenschulte (FR) in ihren Festivalresümees. Lukas Foerster neigt diesbezüglich in der taz zu einem eindeutigeren Urteil: "Schwer zu sagen, warum das nicht für einen Moment obszön oder auch nur aufdringlich wirkt. Vielleicht, weil sich der Film gleichzeitig für die physischen und sozialen Bedingungen des Sterbens interessiert. Er zeigt die Verwandten der Sterbenden, wie sie sich in aufmerksamer Fürsorge im Zimmer der Frau drängen; und er begleitet sie auch gleich mehrmals bei Angelausflügen, deren beiläufige Alltäglichkeit einen Gegenpol bilden zur intimen Konzentration am Krankenbett." Die Auszeichnung gehe "völlig zurecht" an den chinesischen Filmemacher.

Für Dominik Kamalzadeh vom Standard besticht Locarno auch weiterhin als Festival der Entdeckungen: Insbesondere "Valérie Massadians roh-poetisches Drama 'Milla' um den Daseinskampf einer 17-jährigen Frau" und Ilian Metevs "3/4" hebt er hervor. Anke Leweke vom Tagesspiegel begegnete bei dem Filmfestival vielen Männern auf Sinnsuche.

Weiteres: Auf  Movieaachen.de unterhält sich Alex Klotz mit dem 90-jährigen Filmemacher Bruno Sukrow, der im Rentenalter den Computer für sich entdeckt hat und seitdem seine Vorliebe für naive Groschenroman-Stoffe mit Animationsprogrammenen filmisch umsetzt - ein klassischer Fall von "Learning by Doing": "Das Programm kann natürlich wesentlich mehr wie ich, das ist ein Problem. Wenn ich alles das könnte, was das Programm kann, dann könnte ich auch sagen: So ist das Leben! Ist nicht alles gelogen." Jenni Zylka spricht im Tagesspiegel mit den Filmemachern Uli Edel und Ute Wieland über Wielands Film "Tigermilch", für den sie sich von Edels "Christiane F." inspirieren ließ. Adrian Daub resümiert auf ZeitOnline die bislang gesendeten Episoden der neuen Staffel von "Game of Thrones". Felix Stephan freut sich in der Welt über filmfriend.de, das neue Streamingangebot der Berliner Bibliotheken.

Besprochen werden "Blood Orange" mit Iggy Pop (SZ), die Serie "Fleabag" (Freitag), Cédric Klapischs "Der Wein und der Wind" (SZ) und die BBC-Serie "New Blood", die das ZDF leider nur im On-Air-Betrieb versendet (FR, FAZ).

Außerdem: David Lynch ist mit der MacDowell-Medaille ausgezeichnet worden. Hier seine ziemlich fantastische Dankesrede:


Archiv: Film

Literatur

Die FAS hat Anne Ameri-Siemens' gestern im Print veröffentlichtes Gespräch mit der Schriftstellerin Zadie Smith zügig online gestellt. In dem Interview geht es unter anderem um die Debattenkultur und die jüngere Linke, die sich in erster Linie um Empfindsamkeiten und Identitätsnischen zankt, statt politisch tatkräftig zu intervenieren. So bleibe denn auch beispielsweise Theresa May nach einer Katastrophe wie dem Brand der Grenfell Tower unwidersprochen im Amt: "Ich verstehe einfach nicht, wie man politische Schriften von der Fläche ganzer Kornfelder und die zahllosen Arbeitsstunden, die damit einhergehen, in Belange wie Toiletten für Transgender investieren kann, die wahrscheinlich ein Prozent der Gesellschaft ausmacht. Und dabei geht es mir gar nicht um die moralische Frage, ob es solche Toiletten geben sollte oder nicht - ich bin mit Zahlen aufgewachsen, mit der Vorstellung von der Linken als Massenbewegung, die für alle eintreten will."

Kathrin Ohlmann spricht in der Jungle World mit dem südafrikanischen Schriftsteller Niq Mhlongo über Leben und Arbeiten in der Apartheids- und Post-Apartheids-Ära. Er selbst nehme eine Zwischenposition ein, sagt er. "Nach uns kommt die Generation, die wir die 'frei Geborenen' nennen, die um 1985 geboren wurden und nichts mehr von der Apartheid mitbekommen haben. Sie sind im Kindergarten mit weißen, indischen und schwarzen Kindern aufgewachsen. Wenn man von Rassismus spricht, fragen diese jungen Leute: '?' Sie wissen nichts davon. Das ist die zukünftige Genera­tion Südafrikas."

Im Perlentaucher betrauert Thekla Dannenberg Maigrets Verschwinden vom deutschen Buchmarkt: Der Diogenes Verlag hat die Rechte Georges Simenons Romanen abgeben müssen, der Markt ist komplett leergefegt, selbst antiquarisch bekommt man einzelne Exemplare nur noch zu Fantasiepreisen: "Geht das überhaupt? Simenon nicht bei Diogenes? Nicht mehr neben Raymond Chandler und Dashiell Hammett, Friedrich Glauser und Martin Suter, Patricia Highsmith und Margaret Millar und all den anderen Klassikern der Kriminalliteratur? Und ein Maigret ohne die Schweizer Weltläufigkeit und den Sinn für feines Handwerk?"

Weiteres: Für die Berliner Zeitung unterhält sich Suanne Lenz mit Tal Hever-Chybowski vom Pariser Haus der Jiddischen Kultur über das Jiddische in der Gegenwart, das derzeit eine starke Erneuerung erlebe, um mit den digitalen zeitenmithalten zu können. Thomas Gull erinnert in der NZZ an die biografisch jeweils einschneidenden Urlaubstage, die der Physiker Erwin Schrödinger, aber auch der Schriftsteller Thomas Mann in Arosa verbrachten. Achim Engelberg trifft sich für die NZZ mit dem Politiker Eerik-Niiles Kross, der der Sohn des estnischen Schriftstellers Jaan Kross ist. In der Zeit berichtet Marie Schmidt von ihrer Begegnungen mit dem aus Vietnam stammenden US-Schriftsteller Viet Thanh Ngyuen, der für seinen Thriller "Der Sympathisant" den Pulitzer-Preis gewonnen hat (mehr über Viet Thanh Ngyuen in unserer Kulturrundschau vom vergangenen Samstag). Die FAZ bringt Auszüge aus Briefwechsel zwischen Arthur Schnitzler und Alfred Kerr - mehr aus dieser Korrespondenz wird für die kommende Ausgabe der Literaturzeitschrift Sinn und Form angekündigt.

Besprochen werden Jürgen Beckers "Graugänse über Toronto" (taz), Néjibs Comic "Stupor Mundi" (Tagesspiegel) und Linda Boström Knausgårds Erzählung "Willkommen in Amerika" (FR).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Mathias Mayer über Gustav Mahlers "Der Abschied":

"Die Sonne scheidet hinter dem Gebirge.
In alle Täler steigt der Abend nieder
Mit seinen Schatten, die voll Kühlung sind.
..."
Archiv: Literatur

Bühne



Ismael Ivo/Biblioteca do Corpo: Oxygen. Foto: Alvise Nicoletti, Impulstanz

Helmut Ploebst bilanziert im Standard recht euphorisch das Impulstanz Festival in Wien, wo er den Tanz als eine der "hyperprogressiven Kunstformen der Gegenwart" erlebt hat: "Damit soll kein Ranking herbeigeplaudert oder gar behauptet werden, der Tanz wäre das ultimative Gesamtkunstwerk. Aber er hat sich zu einer Kunstform entwickelt, in der sich die Verbindungen zwischen der Körperkunst Tanz und anderen Genres verselbstständigen. Das heißt, wenn etwa Choreografen wie Philipp Gehmacher oder Ivo Dimchev auch als bildende Künstler arbeiten, schaffen sie zwischen Tanz und bildender Kunst etwas Eigenes und Neues."

Im Interview mit der SZ sorgt sich der Intendant der Stuttgarter Oper, Jossi Wieler, um den Regisseur Kirill Serebrennikow, dem die russischen Behörden mit immer mehr Vorwürfen zusetzen (unsere Resümees). Jetzt wird er beschuldigt, Fördergelder veruntreut zu haben, sein eh schon eingezogener Pass gar auf Echtheit überprüft. Wieler meint kategorisch: "Alle Vorgänge gegen ihn sind politisch: die Durchsuchung seiner Wohnung und seines Gogol-Zentrums im Mai, seine Vernehmung als Zeuge, bei der er neun Stunden warten musste, die Absage der Uraufführung seines Balletts 'Nurejew' im Bolschoi-Theater drei Tage vor der Premiere. Vor Jahren wollte er einen Film über Peter Tschaikowski machen, aber die staatliche Förderung wurde gestrichen, weil er auch Tschaikowskis Homosexualität zum Thema machen wollte. Man will ihn als Künstler gängeln, kriminalisieren, marginalisieren."

Tagesspiegel-Kritiker Frank Herold erkennt im Fall Serebrennikow auch, wie sich Putins Zensur von der berechenbar brutalen Zensur zu Sowjetzeiten unterscheidet: "Gegen die Zensur unter Putin ist List hingegen kein wirksames Mittel, denn sie ist unberechenbar und subtil, funktioniert nicht über ideologische Grundsätze und erkennbare Exekutoren."

Weiteres: Humanistische Werte schön und gut, aber Welt-Autor Björn Hayer würde im Theater gern mal wieder was anderes sehen als Flüchtlinge und Entrechtete. In der NZZ betont Christian Wildhagen dagegen, wie stark die eminent politischen Festivals in diesem Jahr sind, in Salzburg oder in Luzern, würde sich allerdings jüngeres und breiteres Publikum wünschen. Till Briegleb berichtet in der SZ vom Hamburger Sommerfestival auf Kampnagel, das mit seinem Programm den Beweis antreten will, dass "das Spiel mit der Realität besser in der Kunst als in der Politik aufgehoben" sei.
Archiv: Bühne

Musik

Die NZZ begleitet den Auftakt des Lucerne Festivals weiterhin mit einer Vielzahl von Artikeln (mehr dazu im Efeu vom vergangenen Samstag). Christian Wildhagen bespricht das Eröffnungskonzert mit Kompositionen von Richard Strauss. Außerdem befasst er sich mit der Frage, wie die Festivals ein jüngeres Publikum gewinnen können. Im begleitenden, sehr feinteiligen Essay geht Michael Stallknecht Fragen nach Musik und Identität nach. Peter Hagmann, langjähriger Musikredakteur der NZZ, erinnert sich an die besten Konzerte der Berliner Philharmoniker in Luzern und schreibt damit zugleich eine Geschichte des Berliner Orchesters samt seiner Dirigenten. Robert Jungwirth spricht mit dem Flötisten James Galway. Martina Wohlthat freut sich auf John Eliot Gardiners halbszenische Aufführungen von Monteverdis Opern. Marco Frei rät zu einem von Riccardo Chailly dirigierten Strawinsky-Konzert.

In der FAZ würdigt Moritz von Bredow Branka Musulin und deren "wahrhaft musikantisches Klavierspiel". Die Pianistin wäre am 6. August 100 Jahre alt geworden: "Zwei Mozart-Konzerte zeigen die klanglich und rhythmisch beglückende Synthese aus analytischem Durchdringen des Werkes und einer vergeistigten Deutung Mozarts, die allein mit dem Intellekt nicht zu fassen ist. Auch ohne die Dämpfung durch das linke Pedal vermag sie leise zu spielen: singend und leuchtend, selbst noch im Hauchen."

Hier spielt sie Ravel:



Weiteres: Christian Werthschulte resümiert in der taz das Fuchsbau Festival bei Hannover, wo unter anderem bei Ace Tee und DJ Sarah Farina teils ekstatische Stimmung herrschte. Die am besten bezahlten DJs im Business sind allerdings immer noch durchweg Männer, stellt Donna Schons in der taz fest: Es bestehe "ein Repräsentanzproblem, das sich durch die gesamte Clubszene zieht."

Besprochen werden das Berliner Konzert des äthiopischen Soul- und Jazzsängers Alemayehu Eshete (Tagesspiegel), das Berliner Konzert von Pink (SZ, Tagesspiegel, Berliner Zeitung), das neue Album von Grizzly Bear (FAZ) sowie Auftritte bei den Salzburger Festspielen, nämlich von Placido Domingo (SZ, FAZ), Matthias Goerne und Daniil Trifonov (NZZ, SZ) und Igor Levit (SZ).
Archiv: Musik

Kunst


Seiichi Furuya, Rattersdorf, 1981 (aus der Serie Staatsgrenze). Bild: Albertina Wien.

Unwahrscheinliche Schönheit und einen umcodierten Heimatbegriff entdeckt Welt-Kritiker Richard Kämmerlings in der großen Schau zur Fotografie in Österreich in der Wiener Albertina: "Zu den stärksten Eindrücken der Wiener Schau gehört - neben Manfred Willmanns Wahrnehmungsblitzen - die 'Weinhaus'-Serie von Leo Kandl, die zwischen 1977 und 1984 entstand, teilweise aufgenommen mit einer Polaroid-Kamera, um die Distanz zum Porträtierten zu überwinden. Vor allem unter den Schwarz-Weiß-Aufnahmen finden sich hier meisterhafte Bilder eines Wien von unten, fernab aller gekünstelten Wirtshausurigkeit. Das wirkt wie ein fotografisches Pendant zu Heinz Strunks 'Goldenem Handschuh', was auch zeitlich beinahe passt: ein einsam tanzender Trinker, die halbstarke 'Boxgeste', der sensationelle Augenblick eines 'Kniekusses' zweier junger Männer."

Besprochen wird außerdem die große Wolfgang-Tillmans-Schau in der Fondation Beyerle (FR).
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