Efeu - Die Kulturrundschau

Das Gezische, die verschämten Lacher

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04.03.2021. SZ und Zeit starren auf die Bytes einer neuen Kunst, deren Hauptmerkmal ein digitaler Eigentumsnachweis ist. Im Standard meint Christoph Thun-Hohenstein vom Wiener MAK: Warum noch Originale zeigen? Reproduktionen sind auch sehr schön und viel klimafreundlicher. Die Filmkritiker sahen auf der Online-Berlinale Filme von Radu Jude und Céline Sciamma. Eine niederländische Weiße soll die Gedichte Amanda Gormans nicht übersetzen, in Deutschland hofft der Verlag Hoffmann und Campe mit einem Dreier-Team aus Kübra Gümüşay, Hadija Haruna-Oelker und Uda Strätling die Identitätsfrage umgehen zu können, berichtet die Zeit. Die Erben des Kinderbuchautors Dr. Seuss haben gleich sechs seiner Bücher zurückgezogen, meldet die FAZ, wegen typisierender Stereotypen. Die taz hört smoothen Souljazz von Adrian Younge.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.03.2021 finden Sie hier

Kunst

Für die Daten dieser Bilder von Beeple wurden bei Christie's schon dreieinhalb Millionen Dollar geboten (die Auktion läuft noch bis 11. März) 


Es ist einfach fantastisch, wie es manchen Leuten immer wieder gelingt, reichen Menschen, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld, selbiges abzuknöpfen. Das Internet bietet da ganz neue Möglichkeiten. Man kann jetzt nämlich statt Kunst Daten kaufen, erzählt Kolja Reichert in der SZ. "Die Technologie, die es möglich macht, heißt NFT, Non-Fungible Token, etwa: nicht austauschbare Zeichen. Bitcoin und andere Kryptowährungen basieren auf Token, die so austauschbar sind wie Bargeld. NFTs basieren auf Token, die so einzigartig sind wie ein Pass. Oder ein Kunstwerk. Obwohl sie Daten sind, kann man NFTs nicht kopieren. Dafür sorgt der nicht manipulierbare Code der Blockchain, in dem jedes Element mit allen anderen zusammenhängt. NFTs sind also digitale Eigentumsnachweise, die von keiner zentralen Stelle beglaubigt werden müssen. Ihren Besitzern steht es offen, ob sie sich hinter der Zahlenkette ihrer digitalen Geldbörse verstecken oder sich ihrer Verkäufe öffentlich brüsten. Die meisten entscheiden sich für Letzteres." Aber klar.

In der Zeit geht Hanno Rauterberg dem Phänomen NFT anlässlich einer Versteigerung bei Christie's nach. Das ganze erinnert ihn an die Zeit als man Kunst aus den Kirchen in die neuen Museen holte. Das veränderte die Kunst, Gott blieb zurück, die ästhetische Bedeutung trat in den Vordergrund: "Begreift man die Blockchain als ein Museum unserer Gegenwart, kehrt sich der Vorgang um: Die Bilder, die im Internet vor allem als Symbole fungierten, gewinnen hier, in der digitalen Sonderzone, eine Eigentlichkeit und Aura, die sie auf einem Instagram-Account nicht besitzen. Diese Eigentlichkeit liebäugelt mit der Idee des Ewigen, und diese Idee ist es wohl, die manche Menschen dazu bewegt, für ein virtuelles Werk sehr reale Dollarmillionen zu bezahlen. Mit ihrem Geld partizipieren sie an der verheißenen Ewigkeit, das ist der eigentliche Clou der neuen Technik. Als Käufer werden sie ebenso in der Blockchain eingeschrieben wie der Künstler und erscheinen damit wie Mitschöpfer, auf immer gebunden, an die Chain gekettet, könnte man sagen."

Um das Klima zu schonen überlegt Christoph Thun-Hohenstein, Direktor des Wiener Museums für angewandte Kunst, weniger Originale zu zeigen, erzählt er im Interview mit dem Standard: "Ich habe nichts gegen Blockbuster-Ausstellungen, aber sehr wohl etwas gegen ein System, in dem einige Objektstars dauernd in der Welt mit teuren Kurierbegleitungen herumreisen. In einer digitalisierten Welt muss man sich fragen, ob man bei jeder Retrospektive unbedingt die Originale aus zwanzig verschiedenen Ecken der Welt zeigen muss. Reproduktionen sind heute von einer sensationellen Qualität. Das bestimmende Thema unserer Zeit ist die von mir so genannte 'Klimamoderne', daran müssen wir uns auch im Museumsbereich orientieren."

Weitere Artikel: Susanna Koeberle stellt in der NZZ die Künstlerin Monster Chetwynd vor. Besprochen werden die Berliner Plakataktion "Miss You" der Ostkreuz-Fotografen (taz, FAZ), eine Beuys-Ausstellung im Wiener Belvedere (Standard) und Okwui Enwezors letzte Ausstellung "Grief and Grievance: Art and Mourning in America" mit ausschließlich schwarzer Kunst im New Museum in New York (FAZ)
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Literatur

Nachdem ein Streit um die niederländische Übersetzung von Amanda Gormans Gedichten entbrannt ist (unser Resümee), diskutiert das Feuilleton über Fragen der Legitimität von Übersetzung. Catrin Lorch betrachtet den Fall in der SZ aus Perspektive der Quotierungen im Kunstbetrieb, die die Entdeckung und Diskussion heute geschätzter Künstlerinnen und Künstler überhaupt erst möglich gemacht hatte. Doch "was wirkt wie eine konsequente Fortsetzung der aktivistischen Avantgarden, läuft im Fall Amanda Gorman auf eine Entmündigung hinaus" und "letztlich trifft es auch Amanda Gorman, die - ungefragt - dazu verurteilt wird, vor allem als Schwarze wahrgenommen zu werden. Dass ihre Poesie sich aus schwarzen amerikanischen Traditionen speist, war schon beim Vortrag während der Amtseinführung von Joe Biden als Präsident unüberhörbar. Aber eben nur unter anderem - eine solche Poetin tritt mit ihren Gedichten der gesamten Geschichte der Lyrik gegenüber."

Wie sieht es in Deutschland aus? Der Verlag Hoffmann und Campe hat angekündigt, die Arbeit einem dreiköpfigen Team, bestehend aus Kübra Gümüşay, Hadija Haruna-Oelker und Uda Strätling, an die Hand zu geben. "Ob eine dieser drei Kind einer alleinerziehenden Mutter ist oder gern Präsidentin würde, wie Gorman selbst, ist nicht bekannt", schreibt Elisabeth von Thadden in der Zeit und wünscht sich, "dass dieses Gedicht aus allen Farben in alle Farben übersetzt werden möge." Wenn sich die Aktivistinnen und Aktivisten in den Niederlanden da mal kein Eigentor geschossen haben, schreibt Florian Coulmas in der NZZ: "Nun wird der Verlag eine neue Übersetzerin finden müssen, die nicht nur jung, schwarz und weiblich, sondern in der Logik der Aktivisten auch 'skinny', dünn, sein muss."

Der amerikanische Verleger der Kinderbücher von Dr. Seuss hat angekündigt, sechs der ungebrochen populären Bücher des vor 30 Jahren verstorbenen Autors nicht mehr aufzulegen, weil ihre Illustrationen auf typisierenden Stereotypen basieren (und sich die restlichen dann umso besser verkaufen lassen). Stein des Anstoßes ist unter anderem die Darstellung eines Chinesen mit viel Klischeekolorit und überdies noch japanischem Schuhwerk. Ohne plakative Anschaulichkeit ist die Geschichte der Kinderbücher allerdings nicht denkbar, schreibt Andreas Platthaus in der FAZ. "An den gleichfalls karikaturesk-stereotypischen Erscheinungsbildern von Honoratioren, Musikern und des Zauberers in derselben Zeichnung hat sich bislang noch niemand gestört. ... Art Spiegelman nimmt den faschismusfeindlichen Karikaturisten Dr. Seuss vor einer Aburteilung als Rassist in Schutz: 'Er war kein Ideologe, sondern ein Humanist.'" Im Gespräch mit Dlf Kultur legt Platthaus seine Position ebenfalls dar.

Weitere Artikel: Auch in diesem Jahr sagen wieder viele Comicveranstaltungen ihre Termine ab, muss Lars von Törne im Tagesspiegel melden.

Besprochen werden unter anderem Christian Krachts "Eurotrash" (taz, NZZ, Standard), Ottessa Moshfeghs "Der Tod in ihren Händen" (Zeit), Taiyo Matsumotos Manga-Reihe "Sunny" (taz), Harald Martensteins "Wut" (FR), Dmitrij Kapitelmans "Eine Formalie in Kiew" (online nachgereicht von der FAZ), Matthias Jüglers "Die Verlassenen" (FR), Callan Winks "Big Sky Country" (ZeitOnline), Christina Pareigis' Biografie über Susan Taubes (SZ) und Alissa Ganijewas "Verletzte Gefühle" (FAZ).
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Architektur

In der FAZ stellt Klaus Englert ein Projekt des Architekturbüros Roldán + Berengué vor, das Sozialwohnungen in eine Textilfabrik bei Barcelona gebaut hat: "Für die Community hinter Fabrikmauern entwarfen sie 'rues intérieures': Die einen führen zu den im Erdgeschoss eingerichteten Gemeinschaftsflächen, die anderen weisen zu den vor der historischen Klinkerfassade eingefügten 'Laubengängen' und Wohnungen. Roldán und Berengué entwarfen die Gemeinschaftsflächen als offene Zwischenräume, die auf diese Weise als Wärmepuffer funktionieren. Durch Querlüftung - so errechneten die Architekten - steigt die Zimmertemperatur selbst in den heißen Sommermonaten nie über 21 Grad."

Außerdem: Der Architekturtheoretiker Stephan Trüby spricht im Interview mit der Jungle World über sein neues Buch "Rechte Räume".
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Film

Kleinod der Filmkunst: Céline Sciammas "Petite Maman"

Große Filmkunst gibt es in diesem Wettbewerb der Berlinale fürs Erste zumindest für die Fachwelt zu sehen, schreibt Thekla Dannenberg im Perlentaucher: Radu Judes Lockdown-Farce "Bad Luck Banging or Loony Porn" zum Beispiel ist als "Exerzitium des Überdrusses" der "ultimative Film" dieser Wohnzimmer-Berlinale und Céline Sciammas "Petite Maman" daneben ein "magisch funkelndes Kleinod": Mit gerade einmal 70 Minuten Laufzeit belegt der Film eindrücklich, was das Kino auch mit begrenzten Mitteln zu leisten imstande ist. Es geht um eine Tochter, eine Mutter, eine verstorbene Großmutter und eine imaginierte Freundin. "Als die Mutter überraschend abreist, imaginiert sich Nelly die fremde Erwachsene als Freundin in ihrem Alter. Und während die beiden Kinder ... spielen, beginnen sie sich Fragen über sich, die andere und ihr gemeinsames Leben zu stellen. Sie verraten sich Geheimnisse und ergründen ein fantastisches Paradox: 'Bist Du die Zukunft?', fragt Marion Nelly. 'Nein, ich bin die, die Dir folgt.'"

Radu Judes Wettbewerbsfilm: Schade um die Zischer im Berlinale-Palast

Aber nochmal zurück zum rumänischen Auteur Radu Jude: Der beginnt seinen Film schon mal gleich mit einer Handyporno-Szene, was die Online-Berlinale in diesem Jahr schon mal gleich als Fehlentscheidung erkennbar werden lässt, schreibt Joachim Kurz bei kino-zeit.de: Es ist schade, "diesen Film nicht in einer Pressevorführung oder einer Galapremiere am Potsdamer Platz gesehen zu haben - man hat das Gezische, die verschämten Lacher und Zwischenrufe, die der Film mit seiner Eröffnungssequenz provoziert, förmlich in den Ohren."

Taz-Kritiker Tim Caspar Boehme sah in diesem Film "eine krasse Gesellschaftssatire", mit "einigen analytisch kühl-bitteren Kommentaren zur nicht allein in Rumänien verbreiteten Neigung, die unerwünschten Seiten der eigenen Geschichte zu verdrängen". Jonas Nestroy von critic.de hingegen wirft spätestens im letzten Drittel des Films das Handtuch: "So unmöglich wie müßig, dieser 45-minütigen Shitshow noch irgendwie zu folgen. Was von Judes Film übrig bleibt, sind keine Argumente, die abgewogen werden könnten, dafür ist hier jede Haltung zu sehr eine Karikatur ihrer selbst. Übrig bleibt vielmehr ein Gefühl der Leere: Nichts scheint die in Judes Film stets nebeneinanderliegenden Diskurse verbinden zu können, kein hier anwesender Standpunkt diese Figuren als verschiedene Seiten ein und desselben Problems zu begreifen. "

Sofia Glasl wirft für die SZ einen Blick in die Nebenreihen der Berlinale, wo Natalie Morales' Regiedebüt "Language Lessons" sie sehr begeistert hat. Nadine Lange geht für den Tagesspiegel auf Entdeckungsreise im Forum und im Panorama der Berlinale.

Außerdem: Claudius Seidl gratuliert in der FAZ dem Filmregisseur Adrian Lyne zum Achtzigsten. Besprochen werden Ric Roman Waughs von Aufbruchsstimmung getragener Apokalypsenfilm "Greenland" (Perlentaucher), Amy Poehlers auf Netflix gezeigter Film "Moxie", der der toxischen Männlichkeit den Marsch bläst (FAZ), und der Disney-Animationsfilm "Raya und der letzte Drache" (Standard).
Archiv: Film

Musik

Adrian Younges von Multimedia-Inhalten unterlegtes Soulalbum "The American Negro" sieht der Musiker in erster Linie eher als eine Geschichtsstunde als ein Angebot zum Musikgenuss, schreibt Jan Paersch in der taz. Dabei mangelt es nicht an Fertigkeiten, zu hören gibt es "smoothen Souljazz mit leicht angerauten Breakbeats. Männerchöre, die nach 70er-Jahre-Soul klingen, pluckernde Harfen, cineastisch inszenierte Streicher. Man fühlt sich manchmal an die orchestrale Musik von David Axelrod erinnert, im HipHop vielgesampelt. Younge-Sound klingt homogen, aber auch ereignisarm. ... 'Ein musikalisches Manifest für Black Empowerment', will ein Kritiker gehört haben. Ist es schon empowernd, sein Publikum zu ermahnen, Kinder liebevoll zu erziehen?" Wir hören rein:



Weitere Artikel: Daniel Schieferdecker plaudert für ZeitOnline mit Alice Cooper, der gerade sein 28. Album (hier die Besprechung in der FR) veröffentlicht hat. Arno Lücker spricht für VAN mit John Roberts zum Stand der Händel-Forschung. Außerdem schreibt Lücker in seiner VAN-Reihe über Komponistinnen über Lindsay Cooper. Harry Nutt schreibt in der FR einen Nachruf auf den Reggae-Musiker Bunny Wailer. Nachrufe auf den britischen Jazzposaunisten Chris Barber schreiben Andrian Kreye (SZ), Wolfgang Sandner (FAZ) und Manuel Brug (Welt).

Besprochen werden Masha Qrellas auf Gedichten von Thomas Brasch aufbauendes Album "Woanders" (Jungle World, mehr dazu bereits hier) und das neue gemeinsame Album "Todesliste" von Audio88 & Yassin (taz).
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Bühne

In der SZ beschreibt Alexander Menden die miserable Lage von Künstlern, Orchestern und Theatern im coronagebeutelten Britannien. Besonders Theatern und ihren Mitarbeitern geht es sehr schlecht: "Diese Theater saßen, was Hilfsleistungen anging, zwischen allen Stühlen, weil sie keinen Anspruch auf Zahlungen aus dem umgerechnet 1,82 Milliarden Euro umfassenden Kulturhilfspaket der britischen Regierung hatten, dem Culture Recovery Fund. Der stand zunächst nur solchen Organisationen zur Verfügung, die auch vorher schon subventioniert worden waren. ... Die Strukturen des britischen Kulturbetriebs, vor allem in den darstellenden Künsten, erschwerten es Einzelpersonen noch mehr als Institutionen, sich Hilfszahlungen zu sichern: 70 Prozent der Künstler und Techniker im Theater und noch mehr Orchestermusiker sind offiziell selbständig. Nur wenige von ihnen kamen daher für Kurzarbeit infrage."

In der nachtkritik antwortet Sibylle Berg auf eine Kolumne von Michael Wolf, der bedauert hatte, dass Dramatiker sich heute kaum noch Regieanweisungen trauen. So streng möchte Berg das nicht sehen:  "Natürlich kann man als DramatikerIn seine Stücke von oben bis unten mit Anweisungen über die Laufrichtung von Hühnern (Peta-Shitstorm) anreichern. Man kann auch Ersatz-Hühner aus Styropor in den Text schreiben - die Chance, dass irgendeines der Bilder, die man beim Schreiben eines dramatischen Textes vor sich hat, umgesetzt wird, ist verschwindend gering. Wenn viele DramatikerInnen heute keine Rollen- oder Szenenideen in ihre Stücke schreiben, dann, weil sie durch die Realität dazu erzogen wurden, dass diese eh fast immer gestrichen werden. Und das manchmal eventuell sogar zu Recht, weil die Ideen, die man beim Schreiben hat, einfach Mist sind."

Weiteres: In ihrer Gesprächsreihe Neue Dramatik in zwölf Positionen unterhält sich die nachtkritik diesmal mit Wolfram Lotz. Außerdem streamt die nachtkritik noch heute bis 18 Uhr die Performance "OK, GOOGLE" der Costa Compagnie 2018 im Hamburger Kunstverein Harburger Bahnhof. Besprochen wird "Teatro de Guerra" von Lola Arias im Mousonturm-Stream (FR).
Archiv: Bühne