Vorgeblättert

Leseprobe zu Necla Kelek: Himmelsreise. Teil 3

08.03.2010.
Tricky Tariq

Sein Großvater mütterlicherseits Hassan al-Banna war der Gründer der Muslimbruderschaft in Ägypten, sein Vater Said Ramadan kam 1954 als ihr Repräsentant nach Deutschland, war im ersten Moscheebauverein in München aktiv und versuchte, von Genf aus die Islamisierung Europas zu organisieren. Sein Bruder Hani - Nachfolger des Vaters als Leiter des Islamischen Zentrums in Genf - bekam als Lehrer Probleme mit der Schweizer Schulaufsicht, weil er in einem Artikel für eine französische Zeitung die Steinigung von Frauen in der islamischen Welt verteidigt hatte.
     Tariq Ramadan, 1962 in Genf geboren, scheint sich von dieser etwas dubiosen Verwandtschaft auf den ersten Blick wohltuend abzuheben. Der "freischaffende Theologe"(89) ist ein gern gesehener Gast bei europäischen Politikern und interreligiösen Kongressen, sein Rat wurde von der britischen Regierung, zeitweilig auch von der EU-Kommission gesucht, als Lehrbeauftragter und Stipendiat wurde er in die USA, nach Großbritannien und in die Niederlande eingeladen. Gelegentlich aber nahm sein Ruf Schaden: Die Holländer waren wenig erfreut, als 2009 bekannt wurde, dass er zeitweilig als Moderator für einen vornehmlich von der iranischen Regierung bezahlten Fernsehsender arbeitete, in den USA wurde er als mutmaßlicher Unterstützer der Hamas zur persona non grata erklärt und hält das laut eigener Aussage für "eine Ehre".(90)
     Aber das aufgeklärte Europa sucht nach Brückenbauern zwischen den muslimischen und den modernen Gesellschaften. Und so gilt Ramadan als einflussreicher Muslim trotz gewisser Zweifel an seiner Reputation auch weithin als Vertreter eines reformfähigen Islam. Dafür scheint der geschmeidige Prediger, der als Missionar durch die Welt reist, auch einiges herzugeben: So zitiert er zuweilen auf seinen Veranstaltungen einen gewalttätigen Vers aus dem Koran, kritisiert solche Textstellen auch, aber nur, um gleich die rhetorische Frage nachzuschieben, ob man etwa deswegen schon glaube, der Islam plädiere "per se für Gewalt"?
     Er scheint das zu verkörpern, was Multikulturalisten so gern in einem muslimischen Intellektuellen sehen wollen: einen kritischen Geist, der mit ihnen gegen Kapitalismus und Unterdrückung kämpft. Ramadan bedient sie, ist aber im Grunde aber nur ein Gestriger im neuen Anzug. Er spricht davon, dass der Islam "die Lösung" und für die europäischen Muslime "die Phase der Integration vorbei" sei. Er verspottet die Europäer, die auf ihren Werten und der Integration bestehen, denn der Islam sei längst Teil Europas.


Ramadans Reformzauber


Unerschrocken steigt Ramadan auch für die Rechte der Frauen auf die Barrikade - wenngleich wohldosiert: Als er vor einiger Zeit auf einer Veranstaltung zum Thema Zwangsheirat seinen Diskussionsbeitrag mit farbenreichen Geschichten aus dem Leben Mohammeds auszuschmücken wusste und ich ihn mit dem Hinweis auf Aisha unterbrach, die Lieblingsfrau des Propheten, die noch ein Kind war, als Mohammed mit ihr die Ehe vollzog, tat Ramadan diesen Kindesmissbrauch als unbedeutende "Anekdote" ab. Angeblich hat er aber erkannt, dass die islamische Community in Fragen der Gleichberechtigung in einer tiefen Krise steckt - ohne die Frauen wird der Islam im "Kontext" westlicher Zivilisationen keine bedeutende gesellschaftliche Kraft werden. "Der Islam steht für die Befreiung der Frau", sagt er, "aber nicht auf Kosten der Kinder."(91)
     Wer allen gefallen möchte und am liebsten das sagt, was die Leute hören wollen, verwickelt sich leicht in unlösbare Widersprüche. Es arabischen Islamisten wie aufgeklärten säkularen Europäern gleichermaßen recht zu machen, ist ein Spagat, der nicht gelingen kann. Ramadan beherrscht den "Doublespeak" in Perfektion.
     Ramadans Kritik am Islam ist eher eine Zaubernummer, die mit schönen Worten eine Fata Morgana vorzutäuschen weiß - wer näher herantritt, entdeckt, dass hier doch nur wieder die Wüstenreligion des Propheten gepredigt und alter Wein in neue Schläuche gegossen wird. So kritisiert er zwar die islamischen Fundamentalisten, die das "Modell Medina" "idealisieren". Damit, rügt unser aufgeklärter Prediger, könne der Weg in die Moderne nun wirklich nicht mehr beschritten werden. Heute, so schreibt er in seinem 2009 erschienenen Buch "Radikale Reform - Die Botschaft des Islam für die moderne Gesellschaft", gehe es nicht mehr darum, "das historisch erzielte Ergebnis zu imitieren, sondern den ethischen Anspruch und die menschlichen Bemühungen zu reproduzieren, mittels derer es erreicht wurde".(92) Das lässt aufmerken, scheint hier einer doch endlich einmal das Prinzip der "Nachahmung", die "Kopie als Ideal", infrage zu stellen. Der Leser wird allerdings schnell eines Besseren belehrt.
     Der "Text" bleibt auch für Ramadan die unbezweifelbare Autorität, er bedürfe in seiner jeweiligen Auslegung aber einer "Anpassung" an den "Kontext" - ein zentraler Begriff in seinem verschlungenen Denkgebäude -, an die Moderne. Denn auch wenn die koranischen Gebote und Verbote, die Empfehlungen der Rechtsgelehrten in ihren Fatwas, den religiösen Rechtsgutachten, "als solche in der Tat absolut und unveränderlich" seien, so müsse ihre "konkrete Umsetzung" doch immer "den Umständen entsprechend notwendigerweise verschiedene und sich wandelnde Formen" annehmen. Das klingt wie ein Versprechen auf aktive Integrationsbereitschaft, gäbe es da nicht den kleinen, aber doch unübersehbaren "Schönheitsfehler", dass Ramadan die "große Medina" durch viele "kleine Medinas" ersetzt sehen möchte. Jeder Muslim, fordert er, möge seinen eigenen Weg zur "Rechtleitung", idschtihad, finden, damit realisiere sich die auf "Anpassung ausgerichtete Reform".
     Nun soll damit nicht etwa dem schnöden Individualismus Tür und Tor geöffnet werden; was "das Unveränderliche" und "das Veränderliche" sei, habe sich vielmehr streng an der "islamischen Methode" zu orientieren. Und die geht laut Ramadan so: "Man passt sich dem globalen System an, indem man Schutzbereiche schafft, in denen die islamische Ethik bewahrt wird."(93) Da platzt die schimmernde Integrationsseifenblase, zurück bleibt das altbekannte Plädoyer für die Schaffung von Parallel- oder Gegengesellschaften. In ihnen gilt es durchzuhalten, zu überwintern, bis der zweite Teil von Ramadans "Reformprogramm" greift: Die auf "Veränderung ausgerichtete Reform" zielt darauf, "im Namen der Ethik die Ordnung der Dinge zu ändern"(94), was nichts anderes heißt als: die unveränderlichen islamischen Gesetze zur Norm zu erheben.
     Hier lässt der Prediger denn auch die Katze aus dem Sack: Eine Reform des Islam, schreibt er, "ist eine bedeutungslose Formel: Es geht darum, herauszufinden, was Muslime mittels einer Reform ihres Denkens - ohne Dogmatismus und in Zusammenarbeit mit anderen Traditionen - zur ethischen Reform der heutigen Welt beitragen können".(95) Auch das hört sich weltoffener an, als es gemeint ist: Denn wie Al-Ghazali oder andere Dogmatiker lehnt Ramadan die Einflüsse der griechischen Vernunft wie auch den Beweis ab; "maßgeblich" seien allein der "Text" und der "Kontext", womit die "heiligen Schriftquellen (Koran und Sunna)" gemeint sind. Jegliche Forderung nach ihrer Historisierung sei nichts als eine "christliche" Methode. Mögen die Christen ihr Heiliges Buch historisiert haben, als sie den "menschlichen Ursprung des Neuen Testaments anerkannten"(96), so seien die Muslime, verpflichtet auf die "islamische Methode", doch weit davon entfernt, ihnen in einer solchen Torheit zu folgen: Der Koran sei "ewig und offenbart" und könne deswegen auch nicht historisch-kritisch betrachtet werden. So schlicht wird hier der Überlegenheitsanspruch einer Religion formuliert.
     Der vom Spiegel als einer "der wichtigsten Vordenker des Islam" gefeierte Missionar erweist sich in Wahrheit als Orthodoxer, von dessen aufgepumpter "Botschaft des Islam für die moderne Gesellschaft" nichts als trockene Brosamen einer Kultur der Innerlichkeit übrig bleiben, geht es doch nicht um Rechte, sondern um die "Wiederbelebung des Glaubens und der Religion durch einen Ansatz des beständig reformierten Verstehens des Textes"(97) - eingesperrt in das autoritative Gehäuse des Islam, in dem die maßgeblichen Instanzen der offenbarte Koran und die Sunna sind.(98)
     Um nun aber nicht mit den Islamisch-Orthodoxen in einen Topf geworfen zu werden, greift unser Prediger zum reformerischen Joker: der These von den "zwei Offenbarungen" oder den "zwei Büchern", anhand derer eine eigene islamische Ethik zu entwickeln sei. Die erste Offenbarung erstreckt sich auf den Koran, die ­Hadithe und die Scharia und die darin enthaltenen Vorschriften, Gesetze und Prinzipien; die zweite Offenbarung bezieht sich auf das "Buch des Universums", also auf die reale Welt, die aus Natur und Geschichte abzuleitenden "Naturgesetze". Ähnlich unterscheidet er zwischen "Text-" oder "Schriftgelehrten" einerseits und "Kontextgelehrten" - damit sind die Wissenschaftler gemeint - andererseits. Da beide nach denselben Grundsätzen für das höhere Ziel einer islamischen Ethik arbeiten, erübrigt sich eine explizit "islamische Wissenschaft". Jede Erkenntnis wird sich ohnehin in das "Buch des Universums" einschreiben. Während Gülen noch versucht, im Koran die Bauanleitung für das Handy zu finden, sackt Ramadan die Erkenntnisse der Wissenschaft, an denen die "Ungläubigen" sich abarbeiten, über den "Kontext" ein: Alles ist unser - was immer geschrieben, erdacht oder erforscht wird, ist doch alles längst im "Buch des Universums" notiert. Wenn aber beide, das Universum wie der Koran, "offenbart und ewig" sind, dann sind auch beide unveränderlich. Also keine Evolution? Wozu? Ramadan ist damit ganz nebenbei ein weiterer Mitstreiter des Kreationismus.


Islamischer Chauvinismus

Die Brücke zwischen Islam und Moderne, die Ramadan beredt verspricht, bleibt eine Bauruine mit lediglich zwei Pfeilern: dem orthodoxen "Text"- oder Scharia-Islam einerseits, dem Glauben an die Universalität der "letzten" Religion andererseits. Das ergibt in der Summe einen islamischen Chauvinismus, von dem die Europäer nichts zu erhoffen haben. Nicht um Bürger- und Menschenrechte geht es diesem Reformer, nicht um Säkularität, nicht um die Trennung von Staat und Religion, sondern um den auf Sunna und Koran verpflichteten Glauben. Der Prediger und Missionar Tariq Ramadan hat weder Europa noch den um Aufklärung und Reform ringenden Muslimen etwas zu bieten.
     Bei seinen westlichen Freunden an den interkulturellen Instituten kommt der vermeintliche Brückenbauer trotzdem gut an, versucht er doch, wie krude auch immer, eine eigene islamische Identität, eine Art muslimischer Selbstbehauptung zu definieren, nach der vor allem westliche Migrationsforscher dürsten. Und Ramadan geht sogar noch einen Schritt weiter: Er setzt "westlich" mit "christlich" und "imperialistisch" gleich, er versucht, als Kritiker des Kapitalismus zu punkten, und findet damit Sympathisanten bei jenen, die seit je ein Faible für Kollektivgesellschaften haben. Er versteht sich darauf, Begriffe umzudeuten, er spricht nicht mehr vom "Djihad", sondern von "Widerstand". Das hört sich revolutionär an und kommt sicherlich bei vielen gut an, scheint es doch den Auftakt einer neuen Zeit zu versprechen. Die hat er auch durchaus im Auge, allerdings verbirgt sich dahinter dann doch wieder nur die Ermunterung zur Erweiterung des islamischen Einflusses, nicht etwa eine Modernisierung der Religion.
     Tariq Ramadan mobilisiert, wie der Islamwissenschaftler und Politologe Ralph Ghadban zu Recht bemerkt, "das gesamte Repertoire von Argumenten, die auf das schlechte Gewissen des Westens zielen". Kritisch-rationales Denken diskreditiert er als "westlichen" Ausdruck einer "gottlosen Kultur", der wir Kolonialismus, Faschismus und eigentlich alles Schlechte in dieser Welt verdanken. Davon müssen die Europäer befreit werden. Wie? Mit dem Islam.
     Indem er sich und die Muslime zugleich als "Europäer" definiert, möchte er den Christen gern den Anspruch auf Europa streitig machen - und damit zugleich die innerhalb des Christentums entstandene Aufklärung als Kern des europäischen Selbstverständnisses infrage stellen. Alles nach der schlichten Logik: Ich, ein Muslim, bin Europäer, also kann Europa nicht christlich sein.
     Nun war es gerade das als "Menschenwerk" historisierte Neue Testament, das dem christlichen Europa einen Prozess der Säkularisierung ermöglichte. Nicht mehr "ewige", sondern von den Menschen in ihrem jeweiligen "zeitlichen" Kontext formulierte Gesetze bestimmten die Gesellschaft - ein ungeheurer Freiheitsraum eröffnete sich damit. Der Mensch war nicht mehr einem Fatum, einem Schicksal, ausgeliefert, sondern konnte sein Leben selbst bestimmen und verändern. Die westlichen Gesellschaften sind durch die Aufklärung nicht "entchristlicht" und auch nicht "gottlos" geworden, so wenig wie die Muslime "entislamisiert" werden würden, wenn sie sich der Aufklärung stellten. Das scheint aber nicht in Ramadans Weltbild zu passen, denn dann müsste er das "Ewige", die göttliche Offenbarung des Koran, selbst infrage stellen. Für ihn aber stehen Koran, Sunna und Scharia als aus der Offenbarung kommend über den von "Menschen gemachten" Gesetzen und rechtfertigen damit auch einen Überlegenheitsanspruch des Islam. Der aufklärerische Gedanke der Toleranz dürfte in einem solchen Denken keinen Platz haben.
     Der Islamwissenschaftler Tilman Nagel rückt nüchtern zurecht, auf welcher Basis auch die Muslime Teil der europäischen Gemeinschaft werden können: "Nur, weil die europäischen Gesellschaften von einer religiösen Selbstdefinition abzusehen gelernt haben, vermögen sie die Muslime in ihrer Mitte als ihre gleichberechtigten Glieder zu betrachten. Darum ist es eine Bringschuld der Muslime in Europa, ihre Religion von Grund auf zu durchdenken und deren Verhältnis zu Staat und Gesellschaft so zu definieren, dass es mit den Prinzipien eines freiheitlichen Gemeinwesens vereinbar ist."(99)
     Ein aufgeklärter Islam aber, der für die Trennung von Staat und Religion eintritt, dürfte Ramadan, dem Verfechter der Scharia, und seinem orthodoxen Glaubensideal nicht entsprechen. Seine "Ethik der Befreiung"(100) bedeutet nichts anderes als die Befreiung von westlichen Werten. Er ist auch heute ganz bei Mohammed, der vor über 1400 Jahren einer Überlieferung zufolge gesagt haben soll: "Die übelsten Dinge sind die Neuheiten. Jede Neuheit ist eine Neuerung, jede Neuerung ist ein Irrtum, und jeder Irrtum führt ins Höllenfeuer."
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Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Kiepenheuer & Witsch


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