Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Glaserl Schaumwein und moderne Beatmusik

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23.04.2021. Was geschieht mit Uli Siggs Sammlung zeitgenössischer chinesischer Kunst, wenn auch in Hongkong Künstler jetzt wieder dem Sozialismus dienen sollen, fragen sich SZ und NZZ. Dienen die Rassismusvorwürfe am Düsseldorfer Theater wirklich nur der Aufklärung oder auch der Selbstpositionierung, fragt die SZ. Der Tagesspiegel begrüßt die diversesten Oscar-Nominierungen aller Zeiten. Und das ZeitMagazin geht vor den nachdrücklichen dominanten Frauen von Claudia Skoda auf die Knie.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.04.2021 finden Sie hier

Kunst

Wu Shanzhuan, Swearing in Front of the Flag with False Chinese Characters, 1988. Foto: M+, Hong Kong, © Wu Shanzhuan


Der ehemalige Schweizer Botschafter Uli Sigg hat während seiner Zeit in China eine große, umfassende Sammlung zeitgenössischer chinesischer Kunst zusammengetragen, die er 2012 dem M+-Museum in Hongkong geschenkt hat: 1463 Werke von 350 Künstlern. Eigentlich ein Grund zur Freude, aber seit die chinesische Regierung immer größeren Einfluss auf Hongkong nimmt, werden Künstler im Allgemeinen und Siggs Sammlung im Besonderen auf Linientreue abgeklopft, berichtet Kai Strittmatter auf der Seite 3 der SZ: "Mit Beklemmung hörten viele, als Xi Jinping 2014 die Künstler des Landes warnte, von nun an habe alle Kunst wieder 'dem Volk und dem Sozialismus zu dienen'. Die Attacken begannen im März. Die Zeitungen Ta Kung Pao und Wen Wei Po - beides Sprachrohre der Kommunistischen Partei in Hongkong - griffen die Sigg-Sammlung des M+ an und erklärten, manche ihrer Werke verletzten 'die Würde Chinas'. Als 'Verunglimpfung des Führers der Nation' wurde etwa ein Ölbild des Künstlers Shi Xinning ausgemacht. Mao Zedong ist da zu sehen, wie er die berühmte Skulptur 'Brunnen' - in Wirklichkeit ein einfaches Urinal - des französischen Künstlers Marcel Duchamp bestaunt. Die meisten Schlagzeilen aber machte Ai Weiweis Mittelfinger vor dem Tor des Himmlischen Friedens, es war die pekingfreundliche Abgeordnete Eunice Yung, die die Angriffe ins Parlament trug. Sie warf dem Werk vor, 'Hass gegen China zu verbreiten'."

Ein gefährlicher Vorwurf. "Wie vergiftet die Atmosphäre in der Stadt nach Inkrafttreten des Gesetzes über nationale Sicherheit Ende Juni vergangenen Jahres ist, zeigt der Umstand, dass niemand aus der Intellektuellen- oder der Kunstszene das Wort ergreift", bedauert Matthias Müller in der NZZ. Uli Sigg bereue seine Schenkung dennoch nicht. Er "hatte seit je das Ansinnen verfolgt, die Werke an China zurückzugeben. 'Es geht mir darum, dass Chinesinnen und Chinesen jene Kunst sehen können, die sie bis anhin nicht kennen', sagt er. Seinen Entscheid für Hongkong hatte er zu einer Zeit gefällt, als die lange Hand Pekings noch nicht so spürbar war wie nun. 'Der Entscheid ist dennoch richtig', betont er."

Weiteres: In der FAZ schreibt Freddy Langer zum Tod des Fotografen Erasmus Schröter, in der SZ schreibt Peter Richter. Der Tagesspiegel widmet der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama einen kleine Schwerpunkt: Neben der Besprechung ihrer Retrospektive im Martin Gropius Bau in Berlin zeichnet Birgit Rieger ein Porträt der Künstlerin, und Nicola Kuhn hat sich mit Stephanie Rosenthal, Direktorin des Gropius Baus, über deren Besuch bei Kusama unterhalten. Besprochen werden außerdem eine Ausstellung des Fotografen Fred Stein im Deutschen Historischen Museum (taz) und die Audioinstallation "Angst kommt vor dem Schrei" von Ute Friederike Jürß und Feridun Zaimoglu im Lübecker Behnhaus (taz)
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Bühne

Der Wirbel um rassistische Vorfälle - so sieht es jedenfalls der Schauspieler Ron Iyamu, der sie angeprangert hat - am Düsseldorfer Schauspielhaus nimmt immer absurdere Züge an. Ob Iyamus Vorwurf gegen die Schauspielkollegen und Regisseur Armin Petras gerechtfertigt ist, darüber verbietet sich laut einem Protestbrief (gegen einen Artikel von Bernd Stegemann in der FAZ, unser Resümee) von 1400 Theaterschaffenden jede Diskussion, berichtet Christine Dössel in der SZ. Inzwischen gibt es weitere Vorwürfe gegen das Schauspielhaus, schreibt sie: "Der junge Fivos Theodosakis etwa berichtet, wie er als Bühnenbildassistent in Düsseldorf vom Regisseur 'gemobbt, rassistisch beleidigt und diskriminiert wurde', unter anderem durch die Aufforderung: 'Verschwinde! Geh sofort zurück nach Griechenland!' Die junge Regieassistentin Saharr Rezaei führt in einem Videobekenntnis sogar 'starke Blutungen' und eine spätere Operation unter anderem auch auf ihren Leidensdruck bei Kafkas 'Bericht für eine Akademie' zurück, sie sei beteiligt gewesen an einem 'rassistischen Prozess'." Petras, der sich ebenso entschuldigt hat wie Intendant Wilfried Schulz, nimmt inzwischen an seinem zweiten Anti-Rassismus-Workshop teil, er fühle sich "mehrfach schuldig", zitiert ihn Dössel. Nützt aber nichts: Eine Gruppe schwarzer Schauspieler, die in Düsseldorf inzwischen ein eigenes Theater und gut drei Millionen Euro für die ersten vier Jahre fordert, weil sie durch die Vorfälle "retraumatisiert" sei, hat bereits erste Gespräche dazu mit Vertretern von Stadt und Land geführt.

In einem weiteren Artikel in der SZ fragt sich Peter Laudenbach, ob das alles eigentlich "ausschließlich der Aufklärung und Wahrheitsfindung dient - oder auch der Selbstpositionierung und Frontenverhärtung. Eher wenig trägt es zur Problemlösung bei, wenn die Welt derart übersichtlich in Täter und Opfer sortiert wird. Die binäre Codierung kennt keine Feinheiten: Opfer sind gut, Täter sind böse. ... Die versimpelten Täter-Opfer-Zuspitzungen lassen keinen Raum für Differenzierungen. Von der Unschuldsvermutung will man sich schon gar nicht aufhalten lassen. Die Anklage ist immer auch schon Urteil und öffentliche Vorverurteilung. So musste Klaus Dörr, der Intendant der Berliner Volksbühne, wenige Tage nach Erscheinen eines taz-Artikels mit geballten 'Me Too'-Vorwürfen zurücktreten. Die zu diesem Zeitpunkt seit Wochen laufende Untersuchung der zuständigen Kulturverwaltung war nicht abgeschlossen, aber darauf kam es nicht auch gar mehr an." Gerade, so Laudenbach, braut sich ein neuer Shitstorm zusammen, diesmal über Shermin Langhoff, Intendantin des Gorki-Theaters, die öfter laut geworden sein soll.

Weiteres: Andreas Kläui fasst in der nachtkritik den Streit um Abriss oder Erhalt des Pfauensaales im Zürcher Schauspielhaus zusammen. Die nmz gibt Streamingtipps für die nächsten Tage. Oliver Reese, Intendant des Berliner Ensembles, kritisiert im Interview mit dem Tagesspiegel das "Notbremse"-Gesetz, weil es keine Ausnahmen für die Kultur kennt. Für Empörung sorgen eine Reihe ironischer Videos von Schauspielern zum verschärften Lockdown, berichtet Gloria Geyer.
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Design

Martin Kippenberger, Ohne Titel (Claudia Skoda mit ihrer Strickmaschine im U-Bahnhof Kottbusser Tor, ca 1976/77) © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne

Im ZeitMagazin geht Jens Balzer auf die Knie vor Claudia Skoda, der das Berliner Kulturforum eine Ausstellung widmet (eine Online-Ausstellung gibt es übrigens in Kooperation mit Google):Sie "ist eine der großen Avantgardistinnen der deutschen Popkultur, eine Visionärin in jeder Beziehung. Sie hat in den Siebzigerjahren nicht nur das Genre der Modenschau neu erfunden. Mit ihren Kleidern und Inszenierungen hat sie damals ganz neue Bilder für selbstbestimmte, stolze, sexuell selbstbewusste, manchmal auch nachdrücklich dominante Frauen entworfen; sie hat sich von der schwulen Ästhetik ihrer Zeit inspirieren lassen und - vor allen anderen Designerinnen hierzulande - von Punk und New Wave, von der erblühenden Bondage-Kultur der späten Siebziger und von der hedonistischen, aber dabei auch hochpolitischen Feier der Diversität in der Disco-Kultur. Bei ihren Shows lief Techno, ein glattes Jahrzehnt, bevor dieser Begriff überhaupt in die Welt gesetzt wurde." Dlf Kultur hatte Skoda kürzlich für ein großes Gespräch auf Sendung.
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Literatur

Die Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse (hier die Bücher auf Eichendorff21) wird von einer Initiative in einem offenen Brief dafür kritisiert, keine Bücher von Menschen dunklerer Hautfarbe berücksichtigt zu haben, berichtet Felix Stephan in der SZ. Übersehen werde dabei, dass der Leipziger Buchmessenpreis schon immer eher Richtung Osteuropa geblickt hat, meint er. Der offene Brief habe nun seinerseits "Unwuchten". Die Unterzeichner bestehen "gut zur Hälfte aus Germanisten, die an amerikanischen und englischen Universitäten tätig sind. ... In diesem Sinne bewegt sich die Liste der Unterzeichner rein numerisch relativ genau entlang der rhetorischen Linie, mit der Emmanuel Macron seit einigen Monaten die Identitätspolitik in Frankreich zu bändigen versucht: Bei der Identitätspolitik, so der französische Präsident, handele es sich um einen amerikanischen Import, der es sich zum Ziel gesetzt habe, den französischen Universalismus abzuschaffen."

Außerdem: Mit viel Philosophie im Gepäck denkt die Schriftstellerin Olga Martynova in der NZZ über Gagarins Raumflug vor 60 Jahren nach.

Besprochen werden unter anderem Nozomi Horibes Comic "Der Trip" (Tagesspiegel), Steffen Kopetzkys "Monschau" (FR), Anton Bierls Übersetzung von Sapphos Liedern (NZZ), Viktor Martinowitschs "Revolution" (online nachgereicht von der FAZ) und Marina Zwetajewas Gedichtband "Lob der Aphrodite" (SZ).
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Film

Am Wochenende werden in Los Angeles die Oscars verliehen. Die Nominierungen sind "die diversesten aller Zeiten", stellt Sebastian Milpetz im Freitag fest und erzählt den langen Weg dahin. Auch Andreas Busche staunt im Tagesspiegel darüber, wie sehr sich die Academy in den letzten Jahren gewandelt hat: Es zeigt sich im aktuellen Jahrgang "ein frappierend realistisches Spiegelbild der amerikanischen Gegenwart zwischen dem gerade beendeten Prozess um die Ermordung des Afroamerikaners George Floyd und anhaltenden Diskussionen über Polizeigewalt, dem größten sozialen Konjunkturpaket seit Franklin D. Roosevelt und dem Ringen um eine moderne Einwanderungspolitik. ... Wenn es denn noch eines Beweises bedarf, dass Diversität wenig mit 'Identitätspolitik' zu tun hat, sondern schlicht ein Qualitätskriterium darstellt, liefert diesen die Liste der diesjährigen Kandidaten, die die spannendsten Oscars seit einer gefühlten Ewigkeit verspricht. Das Nominiertenfeld ist nicht nur vielfältig, sondern auch qualitativ so überzeugend wie schon lange nicht mehr."

Jens Balkenborg porträtiert im Freitag die in den USA lebende, chinesische Regisseurin Chloé Zhao, die es mit nur drei Filmen über Außenseiter geschafft hat, zur Oscarfavoritin und derzeit gefragtesten Filmemacherin zu werden: "Erstaunlich, wie Zhao den männlich dominierten Western in die Jetztzeit holt und mit ihrem dokumentarisch-empathischen Stil entmystifiziert. Ihre Filme strotzen vor Gegenwärtigkeit, ohne plump politisch zu werden."

Schwenk nach Deutschland: Eine Filmförderung, die allein von Gender und Diversität getrieben wäre, griffe zu kurz, meint Rüdiger Suchsland auf Artechock: "Diversität ist nicht nur 'Gender' und 'Hautfarbe' und 'Herkunft', sondern ebenso auch moralische Vielfalt, weltanschauliche, politische Vielfalt, ästhetische Diversität."

Außerdem: Im Filmdienst schreibt Margret Köhler zur Lage der Kinobetreiber und Filmverleiher. Jakob Maurer empfiehlt in der FR Filme des GoEast-Filmfestivals. Dominik Kamalzadeh schreibt im Standard zum Tod des US-Filmemachers Monte Hellman (weitere Nachrufe hier). In der SZ erinnert sich Uschi Glas an ihre Zusammenarbeit mit Werner Enke, der am 25. April 80 Jahre alt wird. In der FAZ gratuliert Uwe Ebbinghaus.

Besprochen werden die Serie "Para - Wir sind King" (ZeitOnline, FAZ), die belgische, auf Arte gezeigte Krimiserie "Salamander" (FR) und die auf Disney+ gezeigte Serie "A Teacher" (Presse).
Archiv: Film

Musik

Hingerissen berichtet Standard-Kritiker Christian Schachinger von der neuen Platte "Ententraum" des Essener Trios International Music. Deren "Spezialgebiet: einmal alles. Krachiger Stop-and-go-Nonsens wie 'Der Traum der Ente' oder die abgebrüht klingende, an die glorreiche Krautrock-Gruppe La Düsseldorf aus den 1970er-Jahren erinnernde Weltumarmungshymne 'Wassermann' stehen dafür. Im Opener 'Fürst von Metternich' treffen Lou Reed und The Velvet Underground auf ein Glaserl Schaumwein und moderne Beatmusik für die jungen Leute von heute. Im Hintergrund tschingeln und tschängeln die Gitarren." Die Band bewege sich bei all dem "fast schon kitschig gescheit auf dem schmalen und für Musik immer gefährlichen Grat zwischen Ernst und Blödelei." Wir hören rein:



Weitere Artikel: Die taz spricht mit dem Rapper Danger Dan über seinen "Kunstfreiheit"-Song und Erfahrungen mit der Gewalt von Nazis. Hanspeter Künzler spricht für die NZZ mit dem Singer-Songwriter Cathal Coughlan. In der FAZ erinnert Florian Amort an den vor 200 Jahren geborenen Komponisten Louis Lewandowski.

Besprochen werden Tom Jones' "Surrounded By Time" (FR) und das Album "Sketchy" der Tune-Yards (taz).
Archiv: Musik