Vorgeblättert

Monika Geier: Stein sei ewig. Teil 4

03.11.2003.
Teil 4

"Nein", gab Bettina zu.
"Valerie Ötting." 
"Hm", machte Bettina und versuchte sich an einer passenden Miene. Interessiert? Wissend? Betroffen?
"Brauchen Sie vielleicht ein Aspirin?", fragte Dr. Rothfuß darauf. "Sie sehen aus, als hätten Sie Kopfschmerzen."
"Nein, danke. - Es tut mir Leid, aber ich kenne diese Frau nicht."
Wieder ein Punkt abgezogen. Dr. Rothfuß hob ganz leicht die Brauen, dann begann er sacht seine Schläfe zu massieren. Es sah aus, als hätte er sich dieses Gespräch anders vorgestellt. "Wissen Sie was", sagte er endlich, "da gab es doch neulich diesen Indizienprozess in Niedersachsen. Haben Sie das verfolgt? Ging durch zwei Instanzen. Der Ehemann, der als Mörder verurteilt wurde, obwohl die Leiche bis heute nicht gefunden werden konnte. Das müssen Sie mitbekommen haben."
Hatte Bettina. Sie nickte.
"Nun", sagte Dr. Rothfuß, "von Valerie Ötting gibt es seit anderthalb Jahren keine glaubwürdigen Lebenszeichen mehr. Frau Ötting war - nein, ich muss ja sagen: ist mit Thomas Armbrust verheiratet."
Bettina nahm den Karton zur Hand und sah das Bild genauer an. Die Frau strahlte eine gewisse Stärke aus. "Sie sieht gar nicht aus wie die typische unterdrückte und irgendwann totgeprügelte Ehefrau." 
"Nein", sagte Dr. Rothfuß. "In der Tat nicht." Er machte keine Anstalten weiterzusprechen.
"Was, glauben Sie, ist geschehen?", fragte Bettina.
"Sie kommt aus einer bekannten, sehr vermögenden Familie, Ötting - ihr Großvater ist mit Kugellagern reich geworden." Ein fragender Blick; wieder musste Bettina bedauernd den Kopf schütteln. 
"Nun, das Geschäft haben Onkel oder Cousins von ihr übernommen, inzwischen ist es auch verkauft, aber Valerie Ötting war trotzdem versorgt und erbte außerdem noch ein in den entsprechenden Kreisen sehr berühmtes Haus. Es ist eine Villa außerhalb von Lautringen, ein Denkmal im Stil der klassischen Moderne." Der graue Blick des Kriminalrats streifte erneut ihre Knie. "Egal. Ein schönes und wertvolles Haus, jedenfalls. Der Traum eines jeden historisch einigermaßen interessierten Architekten."
"Und Thomas Armbrust ist so ein Architekt."
Dr. Rothfuß verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. "Wissen Sie, Valerie Ötting ist eine bekannte Autorin. Sie schreibt Reiseberichte." Sein eben noch scharfer Blick schweifte wieder ab. "Und ihr Mann ist Architekt, in der Tat."

* * * 

Eine kleine, sehr zarte Studentin stand nun vorne, neben ihr eine mannshohe, rostige Stahlplatte, die in Augenhöhe ein rechteckiges Loch hatte. Die Studentin, die Ella nur vom Sehen kannte, zitterte. Es konnte Aufregung sein oder einfach Kälte. Das Licht von einer Laterne der angrenzenden Straße beleuchtete die junge Frau; auf der anderen Seite des Fahrwegs begann der Forst. Kilometerweit Wald, bis zur nächsten Ortschaft, zur nächsten Stadt, ja wahrscheinlich Wald bis zur französischen Grenze und darüber hinaus. Nasser Dunst hing tief über dem aufgeweichten Boden, fing die Helligkeit aus der Laterne und löste die Konturen auf; das neblige Grau fraß Gesichter und Farben und Zweige und die düstere Weite des Waldes, die trotzdem überdeutlich zu spüren war. Nur Frau Raisch mit ihrem hellen Schirm trotzte orangegelb der Gleichmacherei. Zuvor hatte ihr Outfit schrill gewirkt; nun schien sie die Normalste, die Sicherste zu sein. 
"Diese Stele heißt 'Edward Hopper findet die Blaue Blume'", sagte die kleine Studentin. Ihre Stimme war ganz heiser vor Erkältung. "Man kann es trotz des Nebels erkennen, Gott sei Dank." Sie kicherte nervös, was zu einem Hustenanfall führte. "Sehen Sie, ich fand den Blick an dieser Stelle des Grundstücks bemerkenswert. Wenn man in die eine Richtung blickt -" sie stellte sich vor den rostigen Stahl und wies durch das ausgeschnittene Fenster, "dann sieht man unsere Art-deco-Bushaltestelle von hinten." Sie flüsterte mit einem großen jungen Mann, der neben ihr stand und sich jetzt in Bewegung setzte. "Bushaltestellen", fuhr sie fort, "erinnern mich immer an Bilder von Hopper."
"Oh! Das ist wahr!", stimmte Frau Raisch zu, es folgte eine der üblichen Pausen. Ella fiel ein bisschen zurück, sie überlegte heimzugehen. 
"Menschen an Bushaltestellen sehen haargenau so aus wie die Menschen auf seinen Gemälden", fuhr die Studentin mit einem Blick auf den jungen Mann, der nun an der Haltestelle stand, fort, "genauso selbstverloren und einsam -"
"Na, endlich hat dieses Ding seinen Rahmen gekriegt", sagte eine Stimme direkt neben Ella. Zuerst glaubte sie gar nicht, dass sie angesprochen war, dann erschrak sie und sah nochmals hin: Thomas! Er lächelte sie an, seine dunklen Haare hingen ihm eine Spur lässiger als zuvor in die Stirn, sein sommersprossiges Gesicht sah vom Regen entzückend feucht aus. "Unsere bunte Bushaltestelle, meine ich. Jetzt ist sie Art deco, Hopper, und keiner kann sich mehr aufregen." 
Das fragliche Bauwerk bestand aus geschwungenem Plastik in Bonbonfarben und war ohne Billigung der wichtigsten Dozenten der Architekturfakultät "in einer Nacht-und-Nebelaktion", sprich in den Semesterferien, aufgestellt worden und daher in den einschlägigen Kreisen arg umstritten (Kitsch!). 
"Also ich", hörte Ella sich von ferne sagen, "fand die schon immer ziemlich witzig." Oh Scheiße, dachte sie dann sofort, jetzt hast du dich selber rausgekickt, dein Geschmack ist einfach -
"Ich auch", sagte Thomas lächelnd. "Und die Stele ist interessant, ich hab sie betreut, von der anderen Seite sieht man den Winterturm, ganz wildromantisch. Caspar David Friedrich, Novalis und so weiter. Aber überleg mal, das muss eine Tonne Stahl sein. Das soll sie uns jetzt gleich mal erzählen: wie sie die in den Wald gekriegt hat."
"Mit dem Tieflader?" Ella lächelte vorsichtig. Thomas duzte sie! Und sprach so ein Dozent mit einer zufällig neben ihm stehenden Studentin? Die er gleich auch noch zu bewerten hatte? Ja, entschied Ella leicht bedauernd, doch. Trotzdem müsste sie diese Chance nun wirklich nutzen: Sieh mich an, bitte, ich bin eine gute Architektin, eine talentierte Entwerferin, ach was, eine gefügige Praktikantin! Ich koste wenig und steige in Gullischächte, wenn du willst! Ich möchte den Wiederaufbau des Friedhofs mitmachen! Ja, ich hab mich schon mal bei dir beworben, und ja, wurde abgewiesen, aber das war, bevor wir uns persönlich kannten ? 
"Jedenfalls hat es drei Mark fuffzig gekostet", sagte Thomas, mit den Augen wieder bei der Gruppe. "Auf deine Arbeit bin ich auch gespannt. Wer hat dich korrigiert?"
"Keiner", gab sie zu. 
Er lächelte wieder. "Du bist Ella, oder?"
Sie nickte schwach. Jetzt! Sag?s! Stell mich ein! Ich will Arbeit! Ich bin gut ? 
Thomas ging weiter. Du liebe Zeit, dachte Ella dann beunruhigt, wenn der die blöden Himbeersträucher sieht, stellt er mich nie ein. Nie.

* * *

"Thomas Armbrust", sagte Dr. Rothfuß, "hat seine Frau vor drei Jahren gemeinsam mit einem Freund nach Frankfurt zum Flughafen gefahren. Seither ist Valerie Ötting hier in Deutschland nicht mehr gesehen worden. Sie wollte nach Indien, um dort ein bestimmtes6 kastenloses Nomadenvolk aufzuspüren. Das sollte ein Jahr dauern."
"Das heißt, sie ist 2000 aufgebrochen?"
"Genau. Im xyz. In Indien war sie, dafür gibt es Zeugen. Zurückgekommen ist sie jedoch offiziell nie. Sie wurde nicht gleich vermisst."
"Da müsste man doch eher in Indien suchen", gab Bettina zu bedenken. "Wenn sie so ein abenteuerliches Leben geführt hat, dann könnte ihr auch leicht unterwegs etwas passiert sein."
Dr. Rothfuß nahm eine dünne Aktenmappe vom Tisch. "Indien ist keine solche Wildnis, wie Sie vielleicht meinen." Er blätterte. "Im Gegenteil, in vielen Bereichen ist es ein hochmodernes Land. Wenn Valerie Ötting da einen Unfall gehabt hätte, wäre das längst bekannt. Sie war eine erfahrene Reisende. - Übrigens laufen dort Nachforschungen. Es wurden mehrere Zeugen gefunden, unter anderem der Mann, der Valerie zu den Nomaden brachte, für sie ein Jahr lang als Begleiter und Dolmetscher arbeitete und sie anschließend in dem Glauben verließ, sie führe nun wieder nach Hause. - Es ist natürlich alles sehr vage." 
"Aber verdächtig." Valerie, dachte Bettina. Nur der Vorname?
"Ja. Wissen Sie, von hier aus ist es einfach zu behaupten, eine Frau wie Valerie Ötting sei in Indien verschollen. Bei dem Beruf." 
"Aber wie kommen Sie dazu, nach ihr zu suchen? Ihr Mann wird sich ja kaum an die Polizei gewandt haben, wenn er sie wirklich ermordet hat."
"Nein. Ihre Tante hat das getan. Zu dieser Tante, Ada Ötting, hielt Valerie ziemlich regelmäßigen Kontakt. Frau Ötting erwartete ihre Nichte schon vor anderthalb Jahren zurück." Dr. Rothfuß schloss die Akte und reichte sie Bettina. "Diese Aussage ist unsere einzige und im Grunde zu schwache Ermittlungsgrundlage. Die Tante behauptet nämlich, dass sie tatsächlich vor anderthalb Jahren einen Anruf ihrer Nichte erhalten hat. Aus Deutschland."
"Deutschland."
Dr. Rothfuß nickte. "Frau Ötting erwartete dann mehr Kontakt, Anrufe, Briefe, einen Besuch. So wie immer, wenn ihre Nichte in Deutschland war. Doch es tat sich nichts, und darauf wandte sie sich, nach einem halben Jahr etwa, an Mona Beyer, eine Staatsanwältin und alte Freundin Valeries. Das war letztes Jahr um die Zeit." Er breitete die Arme aus. "So kamen wir an den Fall. Natürlich können wir nur verdeckt ermitteln." Er sah Bettina jetzt sehr genau ins Gesicht. "Es läuft ein bisschen unter der Hand, Sie wissen ja, dass es im normalen Dienstbetrieb für solche Fälle kein Budget gibt. Es könnte wohl um Mord gehen, aber wir werden nur aktiv, wenn sich eine günstige Gelegenheit zum Handeln ergibt, und die haben wir jetzt, Frau Boll. Dass wir so leicht an den Armbrust rankommen, müssen wir ausnutzen. - Die genaue Aussage der Tante können Sie in der Akte nachlesen. Sie lebt auf Mallorca. Wir haben sie dreimal befragt." Ein winziges Lächeln stahl sich auf Dr. Rothfuß? Lippen. "Sie noch einmal zu besuchen, wird, fürchte ich, nicht nötig sein."
"Schade."
Sofort war das Lächeln verschwunden. "Nun, Frau Boll, wie beurteilen Sie das Problem bisher?"
"Hm." Bettina sah auf Valerie Öttings Bild. Die dunkel gelockte Frau blickte kühl zurück. Ob der Fotograf versucht hatte, sie zum Lächeln zu bringen? Einer, der so einen altmodischen Hintergrund gewählt hatte, bestimmt. Und Ötting hatte wohl umso hochnäsiger dreingeschaut. Bettina meinte fast, durch all den Weichzeichner hindurch ihre Augen blitzen zu sehen. "Ich denke", sagte sie, "dass die Aussage ihres indischen Begleiters und die der Tante beunruhigend sind, falls sonst tatsächlich niemand mehr von ihr gehört hat." 
Dr. Rothfuß nickte, da hatten sie endlich eine gemeinsame Basis. Zwei Polizisten, ein Verdacht. "Leider nein. Wir haben fast die ganze Familie befragt, vielmehr, die Staatsanwältin und die Tante haben diese Nachforschungen betrieben. Als besorgte Freundin und Verwandte. Sie haben auch mit Armbrust gesprochen, alle beide. Er behauptet, Kontakt zu seiner Frau zu haben. Telefonanrufe. Sie sei noch in Indien, sagt er. Frau Beyer, der Staatsanwältin, hat er auch eine E-Mail gezeigt. Eine indische Adresse. Das kann echt sein." 
"Muss aber nicht?"
"Nein, ganz und gar nicht. Jeder könnte die geschrieben haben."
"Jeder, der dort war und Armbrusts Adresse kannte."
"Oder der so etwas fälschen kann. Das macht ihn zwar zusätzlich verdächtig, erschwert aber leider auch die Ermittlungen." 
"Ist sie vermisst gemeldet?"
"Nein." Der Doktor beugte sich vor. "Die beiden Frauen sind dagegen, weil sie fürchten, dass Armbrust dann überhaupt nicht mehr mit ihnen reden wird. Jetzt ist er wenigstens noch höflich. Im Grunde haben sie Recht, diese Verbindung könnte noch ganz wertvoll sein, während eine Vermisstmeldung wahrscheinlich nicht viel bringt. Leider hatten wir nur die ganze Zeit niemanden vor Ort. - Das ist jetzt ist unsere Chance, Frau Boll. Wir müssen das Grab finden, dann haben wir ihn sicher."
"Das Grab."
"Ja, irgendwo muss er sie gelassen haben. Es kann ja nicht immer ohne Leiche abgehen, nicht wahr? - Und hier kommen Sie ins Spiel, Frau Kollegin. Natürlich müssen Sie sehr vorsichtig vorgehen."
Bettina schluckte. Sollte sie sich wirklich als Polizistin, mit nur den Plakaten als dürftigem Vorwand, bei einem Mörder einschleichen? Der würde sie ohne Zweifel mit offenen Armen empfangen und ihr auch gleich die geheimen Ecken im Keller zeigen. 
"Wie haben Sie sich das vorgestellt?" 
"Es ist nicht ganz einfach", gab Dr. Rothfuß zu. "Lassen Sie es mich so sagen, Sie haben meine volle Unterstützung. Sie können im Notfall auf alle Ressourcen unseres Kommissariats zurückgreifen. Wie Sie es aber genau machen - da muss ich Sie bitten, selbständig zu arbeiten." Einen Moment lang ruhte Dr. Rothfuß? Blick auf Bettinas roten Haaren, dann sah er zur Seite. "Möglicherweise wird es leichter für Sie, als Sie glauben, eventuell haben Sie ja einen Draht zu dem Mann." 
Und wenn nicht? 
"Aber -", Bettina schüttelte ihren Kopf etwas frei und wählte dann sorgsam ihre Worte, "wo ist eigentlich das Motiv? So wie ich das verstanden habe, hat Armbrust sowieso meistens allein in Öttings schöner Villa gelebt. Wo sie doch immer auf Reisen war. Vielleicht hat er sogar noch ein kleines Taschengeld von ihr bekommen. Wieso hätte er diese Frau ermorden sollen?"
Dr. Rothfuß erhob sich, einen Moment wirkte er alt, so alt wahrscheinlich, wie er war. Seine Stirn war hoch und vornehm, seine Haare kurz geschnitten, aber eben doch schon dünn, ja sie sahen fast weich aus, die Züge um seinen Mund dagegen waren scharf. Etwas schwerfällig setzte er sich auf die Kante seines ordentlichen und leeren Schreibtischs, blickte auf seine Hände und verschränkte dann die Arme. "Ötting und Armbrust sind seit fünf Jahren verheiratet. Es ist wahrscheinlich für beide eine Zweckehe gewesen. Valerie hatte dieses Haus. Armbrust war ein junger Architekt. Irgendwie ist er an sie rangekommen. Und für die Villa hat er gern in Kauf genommen, dass seine Ehefrau zehn Jahre älter als er selbst und so gut wie nie zu Hause war."
"Und Frau Ötting", Bettina konnte nicht anders als den Nachnamen zu benutzen, "was hatte die von der Zweckehe?"

Mit freundlicher Genehmigung des Argument-Verlages

Informationen zum Buch und zur Autorin hier