Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.05.2003. In der taz erklärt die Konfliktforscherin Mary Kaldor, was ein Spektakel-Krieg ist. In der FR fordert der irakische Dichter Fawzi Karim die USA auf, noch ein bisschen im Irak zu bleiben. SZ und taz widmen sich der Matrix-Reloaded. Die FAZ findet Lars von Trier glaubhaft als Bürgerschreck. Die NZZ weist nach, das Albert Einstein kein Autist war.

TAZ, 21.05.2003

Auf der Tagesthemenseite erklärt die Konfliktforscherin Mary Kaldor im Interview den Unterschied zwischen alten und neuen Kriegen: "In der Vergangenheit war mit Krieg einen Erneuerung des Gesellschaftsvertrages verbunden. Es bedeutete, dass die Bevölkerung Steuern zahlen musste und sich dazu bereit fand, getötet zu werden. Dies war Teil der Übereinkunft, die einen zum Bürger machte. Aber im Spektakel-Krieg braucht man keine Steuern zahlen - im Gegenteil: Die US-Amerikaner bekommen gerade große Steuerreduzierungen. Und man muss sich auch nicht umbringen lassen: Nur sehr wenige US-Amerikaner sterben in den Kriegen der USA. Alles, was man heute tun muss: den Krieg im Fernsehen anschauen - und applaudieren. Das sind die Charakteristika von Spektakel-Kriegen."

Auch das taz-Feuilleton entkommt der Matrix nicht. Jan Distelmeier vermutet den Erfolg des Projekts im austarierten Pendeln zwischen offenem Selbstbedienungskino und übergreifendem Absolutismus: "Wer den Wachowski-Brüdern vorwirft, mit dem 'Matrix'-Prinzip samt allen erdenklichen Synergie-Effekten ihr eigenes Markt-'System' ähnlich machtvoll auszubauen wie eben jenes 'System', gegen das wir im Film/Internet/Videospiel mit Neo & Co anzutreten aufgerufen werden, bekommt mit 'Matrix Reloaded' die passende Antwort. Neo, der Gesalbte der Rebellion, entpuppt sich hier selbst als eine Funktion der Matrix, als direktes Geschöpf des großen 'Architekten'. Die Spirale der Selbstreflexivität dreht sich weiter und integriert den Vorwurf: Kritik außerhalb der 'Matrix'-Bedingungen, so viel soll klar sein, läuft nicht."

Jan Engelmann meditiert über den Zustand des Kontinents, alteuropäische Operettenpolitik und die Geburt Europas aus dem Geiste der Grand-Prix-Musik: "Sind die Vorsänger der vereinigten Misstöner von Europa wirklich dazu bereit, den frechen Newcomern aus Osteuropa eine faire Chance einzuräumen (Modell Karel Gott)? Werden sie nicht zwangsläufig auf ihr angestammtes Recht pochen, die Leitmotive der Melodien für Millionen vorzugeben (Modell Ralph Siegel)? Oder werden die Brüsseler Technokraten einmal mehr jene widerstreitenden "Euro-Visionen" nach der anfangs noch nationalstaatlichen Imprägnierung zu einem Minimalkonsens zu verschmelzen wissen (Modell Vicky Leandros)?"

Weitere Artikel: Sebastian Handke erkennt im aktuellen Stand der Kriegsführung die Erzählweise der Computer-Strategiespiele wieder. Christian Broecking bedauert, dass die Jazz-Times Stanley Crouch gefeuert hat, wo er doch der "umstrittenste Jazzkritiker weit und breit" war. Aus Cannes berichtet Cristina Nord, dass sich auf dem Festival die Filme häufen, "in denen Blut und andere Körpersäfte eine nicht unerhebliche Rolle spielen".

Schließlich Tom.

FR, 21.05.2003

Der in London lebende irakische Dichter Fawzi Karim erklärt im Interview mit Fridolin Furger, dass die USA eigentlich ganz richtig damit liegen, die Geschicke des Irak noch etwas länger in ihren Händen zu behalten: "Die Iraker haben unter Saddam Hussein eine schreckliche Zeit erlebt. Nun glauben viele, dass sie den einzig richtigen und guten Weg kennen und sind auch bereit, dafür mit Gewalt zu kämpfen. Deshalb ist es wichtig, dass die Amerikaner diese schwierige Situation für eine gewisse Zeit kontrollieren. Die Iraker hatten nie die Möglichkeit, mit der Demokratie Erfahrungen zu machen und müssen nun ganz am Anfang beginnen. Mann muss realistisch sein, das braucht Zeit."

Weitere Artikel: Bei Heike Kühn hat "Matrix Reloaded" noch einige Fragen offen gelassen: "Wie verselbständigt sich ein Rechenfehler? Wie emanzipiert sich der Mensch im Gottesprogramm?" Christian Thomas beklagt, dass die entmündigten Kommunen auf ganz legale Weise in den Ruin getrieben werden. In der Kolumne Times mager staunt Nikolaus Merck nicht schlecht darüber, wie Gregor Gysi und Fank Castorf, die beiden "Matadore des schönen Scheins", es schaffen, sich zu Rebellen der ersten und letzten Stunde zu stiliseren.

Besprochen werden die Ausstellung "Azteken" im Berliner Martin-Gropius-Bau, Wolfgang Mitterers Mordsspektakel "massacre" bei den Wiener Festwochen, Hansgünther Heymes Abschiedsvorstellungen bei den Ruhrfestspielen, "Lear" und "Der Theatermacher", sowie Ralf Rothmanns neuer Roman "Hitze" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 21.05.2003

Morgen läuft nun endlich "The Matrix Reloaded" an, und Fritz Göttler bemerkt halb erleichtert, halb enttäuscht, dass die Wachowski-Brüder Baudrillard den Rücken gekehrt haben: "Es ist nicht mehr der spekulative Eklektizismus, der den zweiten Matrix-Film antreibt, der ganze erkenntnisphilosophische Hokuspokus um Sein und Schein, der nicht nur die Actionfans ein wenig genervt hat. Die Philosophie der Matrix ist weiter virulent, die Fragen von Solipsismus und Simulation, aber die entsprechenden Dialoge kommen inzwischen mit einer Schnelligkeit, die an Geschwätzigkeit grenzt - und sie den Actionszenen angleicht: ein Powerplay. Man sehnt sich nach der Bedächtigkeit, den Schlendrian von Barthes, Bradbury, Borges zurück." Außerdem gibt Göttler einige Lesetipps zum Film. Und Bernd Graff hat bereits das Computerspiel zum Film ausprobiert, das ganz ohne "Proseminaristen-Geschwurbel zur Realität der Wirklichkeit" auskommt.

Weitere Artikel: Thomas Steinfeld freut sich über die Bruchlandung der Bahn. Karl Lippegaus unterhält sich mit der griechischen Sängerin Savina Yannatou (mehr hier), deren hohe Schreikünste ihn ein wenig an das Saxofon von Evan Parker erinnern. Ulrich Kühne feiert das Einstein-Archiv, das seit Montag online ist und mit hübschen Memorabilien aufwarten kann, etwa dem "Tintenschnörkel des ersten E=mc²". Früher war gar nicht alles besser, seufzt Susan Vahabzadeh, nachdem sie in Cannes Kenneth Bowsers Dokumentation "Easy Riders, Raging Bulls" über die Ära des New Hollywood gesehen hat. Alexander Menden freut sich, dass das keltische Book of Lindisfarne jetzt als Faksimile in der Britischen Nationalbibliothek zu sehen ist.

Auf der Medienseite erzählt Bernd Dörries, wie Blätter wie TierBild oder Ein Herz für Tiere für eine Welt des Kuschelns und um den großen Markt kämpfen.

Besprochen werden Bill Violas Video-Arbeit "Five Angels for the Millennium" im Gasometer Oberhausen, die erste Wagner-Oper beim Glyndebourne-Festival, nämlich "Tristan und Isolde", Matthew Herberts neue Platte "Goodbye Swingtime", eine Anthologie von Rhys Chatham sowie Daniel Lanois neue CD "Shine".

Und Bücher, darunter Laszlo Darvasis Erzählband "Die Hundejäger von Loyang", Arthur Millers Essays "Widerhall der Zeit", Jürgen Kluges Schrift "Schluss mit der Bildungsmisere" und Charles Bukowskis Gedicht "Fuck Machine", von Martin Semmelrogge gelesen (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 21.05.2003

Sehr ablehnend begegnet Andrea Köhler der These, Albert Einstein habe unter einer speziellen Form des Autismus, dem Asperger Syndrom, gelitten, die es ihm unmöglich gemacht habe, einen Smalltalk zu führen. (Vorgebracht wurde diese These jüngst von dem Cambridge-Professor Simon Baron-Cohen.) Dies ist eine Erkenntnis, zu der man nach dem Besuch einer Einstein-Ausstellung des Natural History Museum in New York kommen müsse."Die Briefe und Bilder, Originalmanuskripte oder Zeitungsausschnitte entwerfen vielmehr das Porträt eines humorvollen, leidenschaftlich engagierten, charismatischen und eigensinnigen Menschen. Gut vorstellbar, dass ihn Smalltalks tödlich gelangweilt haben." Als besonders gelungen empfindet sie, dass nicht nur die Theorien Einsteins dargestellt werden, sondern "dass noch hinter den abstraktesten Formeln der Welterklärung das Profil einer Persönlichkeit kenntlich wird".

Weitere Berichte: Einen Zwischenbericht zur Halbzeit der Internationalen Filmfestspiele in Cannes gibt uns Martin Walder. Diesen bescheinigt er einen Klassentreffencharakter, da einem die Gesichter der Anwesenden über Jahre hinweg vertraut geworden seien. Victoria von Schirach bezeichnet die internationale Buchmesse in Turin als literarischen Salon. "fs" stellt die nächste Spielzeit des Theaters in Basel vor.

Besprochen werden ein Konzert von Vladimir und Dimitri Ashkenazy in Zürich und Bücher, darunter Amon Elons Studie "Zu einer anderen Zeit - Porträt der jüdisch-deutschen Epoche 1743-1933" (mehr hier), desweiteren mehrere Kinder- und Jugendbücher, darunter Paula Fox' "Paul ohne Jacob" (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 21.05.2003

Glaubt man Andreas Kilbs Bericht aus Cannes, dann bleibt Lars von Trier mit seinem neuen Film "Dogville", in dem immerhin Nicole Kidman und Ben Gazzara mitspielen, ein glaubhafter Bürgerschreck. "'Dogville' ist alles das, was das Publikum und die Kinoleute in Nicole Kidmans Wahlheimat Hollywood hassen werden: eine amerikanische Allegorie, gedreht von einem Regisseur, der noch niemals in Amerika war (und darauf sogar stolz ist); ein Theaterfilm mit minimalem Dekor und langen, tiefsinnigen Dialogen, aufgenommen in einer einzigen Kulisse; und ein Starfilm, der keine einzige Star-Einstellung hat, kein ruhiges Tableau, keine malerische Großaufnahme, obwohl von Trier neben Miss Kidman Schauspieler wie Lauren Bacall, Ben Gazzara, James Caan, Chloë Sevigny, Stellan Skarsgard und Harriet Anderson aufgeboten hat, um seine Geschiche zu erzählen. Es ist, für amerikanische Augen, der Albtraum eines europäischen Films. Und genau das möchte 'Dogville' sein."

Der serbische Autor Dragan Velikic denkt über die Lage in seinem Land nach der Ermordung des Premiers Zoran Djindjic nach und findet durchaus auch Anlass zu Hoffnung: "Man täusche sich nicht: Für Djindjic als Visionär und als Staatsmann gibt es heute in Serbien keinen adäquaten Ersatz, aber ebenso war seine Demokratische Partei zu seinen Lebzeiten nie so stark wie jetzt nach seinem Tod. Während des Ausnahmezustands ist das Rating der Politik, für die sich Zoran Djindjic einsetzte, kräftig gestiegen. Erstmals zeigen die Umfragen, dass zwei Drittel der Bürger Jugoslawiens den Weg nach Europa als einzig richtigen für ihr Land ansehen." Hoffen wir, das die Europäer das begreifen.

Weitere Artikel: Klaus Eck von Random House antwortet auf die Polemik (Resümee) des Hanser-Chefs Michael Krüger gegen die Fusion von Random House mit Ullstein Heyne List - dabei stellt sich heraus, dass es Random House, ganz genau so wie dem Hanser Verlag, ausschließlich um das einzelne Buch geht. Richard Kämmerlings gratuliert dem Literarischen Colloquium Berlin zum vierzigsten Geburtstsag. Gemeldet wird, dass Orhan Pamuk für seinen Roman "Rot ist mein Name" den mit 100.000 Euro dotierten Impac-Literaturpreis erält,

Auf der letzten Seite porträtiert Regina Mönch den Rektor der Berlin-Moabiter Heinrich-von-Stephan-Oberschule, Jens Großpietsch, der für seine pädagogische Arbeit in diesem nicht gerade bevorzugten Stadtteil ausgezeichnet wurde. Michael Gassmann berichtet, das sich der dänische Musikrat einer grundsätzlichen Reform unterzieht. Auf der Medienseite meldet Heinrich Wefing, dass George W. Bushs Pressesprecher Ari Fleischer abtritt. Und Zhou Derong stellt die Historienserie "Weg zur Republik" vor, die zur Zeit im chinesischen Fernsehen läuft. Auf der Stilseite stellt Erwin Seitz den Koch Guy Martin des Pariser Restaurants "Le grand Vefour" vor. Und Heinrich Wefing bespricht eine Ausstellung in Oakland, die sich mit den kalifornischen Beiträgen zur Weltmode (also immerhin zum Beispiel der Jeans) befasst.

Besprochen werden die große, von Harald Szeemann kuratierte Ausstellung "Blut und Honig" in Wien, die die aktuelle Kunst des Balkans präsentiert, Luis de Pablos Komposition "Chiave di Basso", die in Mailand uraufgeführt wurde, eine Ausstellung über den Architekten der Jahrhundertwende Friedrich Ohlmann in Leipzig und neue Choreografien von Maurice Bejart in Paris.