Im Kino

Das Licht wird lichter

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Michael Kienzl
10.01.2018. Makoto Shinkais Animationsfilm "Your Name" verschreibt sich mit Haut und Haaren der Innenansicht einer jugendlichen Liebe. Eliza Hittmans Coming-Out-Drama "Beach Rats" ist stärker an den unaufgelösten Spannungen seiner Hauptfigur interessiert als am überfälligen Befreiungsschlag.


Lieben heißt, mit sich selbst nicht identisch zu sein. Wenn man sich verliebt, dann ist ein Teil von einem immer bei der geliebten Person, insbesondere nachts, im Traum. Und wenn man sich dann am nächsten morgen alleine wiederfindet, im eigenen Körper, wird der einem ein Stück weit fremd vorkommen. Vielleicht betastet man sich dann sogar selbst, so wie Mitsuha und Taki, die beiden Liebenden in "Your Name", das nach dem Aufwachen tun. Wobei der besondere Dreh, den der Regisseur Makoto Shinkai seiner Teenie-Romanze (die in Japan alle Kassenrekorde gebrochen hat) gibt, darin besteht, dass die beiden Liebenden ihr Selbst im Traum tatsächlich komplett aufgeben und mit dem / der Geliebten eins werden. Und das, obwohl sie von ihrer Liebe, oder auch nur von der realen Existenz des / der Anderen noch gar nichts wissen. Das Liebesgefühlt ist nicht etwas, das aus der Welt heraus entsteht, aus Handlungen und Wahrnehmungsprozessen, sondern es ist etwas, das in die Welt hineinknallt wie ein Meteor, und das sie mit einem Schlag verändert. Anders ausgedrückt: "Your Name" ist kein Film, der Liebe objektiviert; aber sehr wohl ein realistischer Film darüber, was es heißt, in der Liebe zu sein, und ganz besonders in einer jungen, adoleszenten Liebe.

Mitsuha ist also, wenn sie aufwacht, eigentlich Taki. Deshalb befühlt sie die für ihn ungewohnten, aber neugierig machenden Brüste. Während Takis Hand, die eigentlich die von Mitsuha ist, sich am Morgen vorsichtig in Richtung Schritt bewegt. Das ist dann aber auch schon fast der einzige Hinweis auf Geschlechtlichkeit, den der Film sich erlaubt. Es geht Shinkai nicht um peinlich-pubertäre body-switch-Tölperelein, sondern, eben, um die alles verändernde, aber noch nicht durch eine "naturalistische" Sexualität geerdete Kraft der Liebe. Um eine Liebe, die einen aus dem Selbst herausreißt und auch aus dem Raum und aus der Zeit. Mitsuha wohnt in einem kleinen Provinznest, Taki weit weg im hochglanzverspiegelten Tokyo. Später stellt sich außerdem heraus, dass Taki stets drei Jahre in die Vergangenheit reist, wenn er sich in Mitsuhas Körper einnistet. Die Liebe schafft also nicht nur eine eigene Identitätsform: eine fluide, hermaphrodite, nicht selbst-, sondern begehrensbezogene Mitsuha-Taki-Identität. Sondern sie schafft außerdem ihre eigene Raum-Zeit: eine gleißende, irreale, romantisch verformte Verliebtheits-Raum-Zeit. Einen imaginären Begegnungsraum, der einem aber das Liebesobjekt gleichzeitig immer schon entzieht, wie in einem Spiegelkabinett.

Lieben heißt, Dinge zu sehen, die andere nicht sehen. Zum Beispiel einen Meteorschweif, der am Himmel aufscheint und der droht, zahlreiche Menschenleben auszulöschen, sowie, vor allem, die Liebeswelt zu zerreißen, noch bevor sie sich voll realisiert hat (eines der schönsten Bilder des Films: Mitsuha rennt durch den Wald, über ihr glänzend der herabstürzende Stern, gleichzeitig Zeichen ihrer Liebe und Androhung der Apokalypse). Soll heißen: Mitsuha und Taki müssen, wenn sie zusammenfinden wollen, nicht nur ihre stabilen Selbsts aufgeben und raumzeitliche Barrieren überwinden, sondern auch noch eine Naturkatastrophe abwenden. Zuerst war ich mir nicht sicher, ob dem Film das gut tut, ob die vergleichsweise dichten, actionlastigen Szenen des Meteor-Handlungsstrangs nicht doch Gefahr laufen, vom Kern des Films, der Liebesgeschichte, abzulenken. Aber dann ist mir aufgegangen, dass beides gut zusammenpasst, weil diese Meteoritengeschichte genau die Art von Liebesfiktion ist, die sich junge, versponnene Liebende ausdenken könnten: Über uns wachen kosmische Kräfte und von meinem aktuell drängenden, mich fast zerbersten lassenden Gefühl - und vor allem von dessen Erwiderung - hängt das Schicksal der ganzen Welt ab.



Liebe verändert alles: Selbst, Zeit, Raum, Wahrnehmung. Deshalb ist kaum ein künsterisches Medium zur Darstellung der Liebe besser geeignet als der Animationsfilm, in dem mit einem schnell hingeworfenenen Pinselstrich ganze Weltreiche zusammenkrachen können. In "Your Name" gibt es eine schöne, selbstreflexive Szene, die diesen Gedanken gleichzeitig illustriert und ad absurdum führt: Bei einer ihrer Traumbegegnungen beschließen die beiden Liebenden, sich gegenseitig ihre Namen auf die Hände zu schreiben, auf dass sie sich auch während des Tages aneinander erinnern. Aber Mitsuha kann Taki nur einen einzigen, schwarzen Strich auf die Haut zeichnen, dann wacht sie auf. Die einsame, dunkle Linie, gewissermaßen die Grundform des Animationsfilms, ist dann alles, was von der Liebe bleibt, die enthält ein ganzes Universum. Für den Moment, jedenfalls - und für Liebende ist jeder Moment eine Ewigkeit.

Aber gleichzeitig ist Liebe ewige Veränderung, kontinuierliche Transformation. Shinkai setzt die Werkzeuge seines Mediums auch in dieser Hinsicht geschickt ein: Wieder und wieder kehren Mitsuha und Taki nicht nur zu- und ineinander zurück, sondern werden auch mit denselben Orten und Motiven konfrontiert. Die aber jedes Mal ein wenig anders gezeichnet sind. Mal verschwindet der See, an dem Mitsuhas Heimatort gelegen ist, im Nebel, mal wird er von glänzendem Sonnenlicht illuminiert. Nur um sich wenig später in eine unwirtliche Mondlandschaft zu verwandeln; die sich wiederum, aus einer etwas anderen Perspektive betrachtet, als eine romantisch entfärbte Schlafwandlerphantasie erweist.

"Your Name" ist in animationshandwerklicher Hinsicht ein Hybrid: Die Figuren und auch Teile des Hintergrunds sehen aus wie im klassischen japanischen Zeichentrickfilm, und auch die Sorgfalt im gestalterischen Detail verweist auf die glorreiche Tradition der handgefertigter Animes; etwa, wenn der Film die beiden Hauptschauplätze, das Dorf und die Großstadt, geschmeidig im Motiv einer auf die imaginäre Kamera hin zugleitenden Tür - hier eine Schiebewand der klassischen japanischen Architektur, dort ein automatisierter S-Bahn-Einstieg - verbindet. Aber gleichzeitig steckt jede Menge Computerpower in den Bildern. Vor allem die grandiosen Lichteffekte weisen über die Ghibli-Linie hinaus: überall leuchtet, flirrt oder reflektiert etwas, fast jedes einzelne Bild hat ein eigenes, spektakuläres Lichtschema (der einzig mögliche Vergleich, von Ferne: die neuen Filme von Terrence Malick mit ihrer entfesselten, impressionistischen Kameraarbeit). Das Digitale legt sich über das Analoge, erweckt es zu neuem, anderen Leben. Das ist manchmal auch anstrengend, das digitale Licht droht zum Gelee zu werden, das die Welt zuklebt und einbalsamiert, wie mich überhaupt zwischendurch Manches an "Your Name" genervt hat, vor allem die Popmusik, die immer wieder, gleich zu Beginn sogar, in den Film reinballert, und die der Liebe dabei eine unangenehme, warenförmige Gegenständlichkeit verleiht - zum Glück allerdings ebenfalls nur momenthaft, dann fließen die Bilder weiter, das Licht wird lichter, lockerer, verzaubert die Welt... und überhaupt: Eine Ode an die jugendliche Liebe, die sich nicht ab und an in kräftigen, wuchtigen Geschmacksverirrungen ergeht, würde ihrem Gegenstand meilenweit verfehlen.

Lukas Foerster

Your Name - Japan 2016 - OT: Kimi no na wa - Regie: Makoto Shinkai - Laufzeit: 106 Minuten.

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Mit einer als spontan getarnten Frage testet Frankie (Harris Dickinson) sein Date. Ob Simone (Madeline Weinstein) denn schon mal was mit einem Mädchen gehabt habe, will er wissen - und ist sichtlich erleichtert, als sie die Frage bejaht. Doch als er nach einem kurzen Zögern auch noch fragt, was ihn eigentlich interessiert, nämlich, wie sie es denn fände, wenn zwei Jungs miteinander rummachen, bekommt er nicht die Antwort, die er hören wollte. Mehrmals tastet sich der Protagonist aus Eliza Hittmans "Beach Rats" im Konjunktiv nach vorne und mustert dabei genau die Reaktionen seiner Freunde. Am Ende führt das so weit, dass er sogar seinen etwas dümmlichen Kumpels beichtet, sich mit Schwulen zu treffen - aber auch hier abgesichert durch eine Lüge: er wolle schließlich keinen Sex, sondern nur das Gras der Typen. Und obwohl Frankie sich in solchen Momenten sichtlich Mühe gibt, die Fassade zu wahren - spielerisch und souverän rüberzukommen, wo es für ihn doch eigentlich um alles geht -, zeichnet sich zunehmend die Verzweiflung darüber ab, inneres Begehren und äußere Erwartungen nicht miteinander in Einklang bringen zu können.

Hittman erzählt in ihrem zweiten Spielfilm von einem Jugendlichen, der sich seiner Sexualität bewusst wird, sich aber nicht von seinem Image als sympathischer Jedermann lösen kann. Frankie ist kein Außenseiter und auch kein effeminierter Junge, auf dessen Coming Out insgeheim jeder wartet. Mit seinen Sommersprossen und den leuchtend blauen Augen ist er zwar sehr viel hübscher als seine Freunde, aber in seinem Auftreten wiederum deutlich unscheinbarer. Wenn die Jungs abhängen, Basketball spielen, kleine Diebstähle begehen oder sich einfach nur zudröhnen, dann sticht er dabei als Individuum kaum heraus, fast, als wäre er unsichtbar. Und in dieser Normalität liegt auch das Dilemma der Hauptfigur, denn dass ein in jeder Hinsicht angepasster All American Boy derart große Hemmungen hat, sich zum Anderssein zu bekennen, hängt schlichtweg damit zusammen, dass er am meisten zu verlieren hat.



In "Beach Rats" sieht Brooklyn mit seinem Strand, den Bootspartys und dem Volksfest in Coney Island wie ein etwas prolliger, aber doch sehr relaxter Urlaubsort aus; auch wenn hier von der Freiheit und Unbeschwertheit der Sommerferien wenig zu spüren ist. Es ist das Paradoxe an Hittmans Film, dass sich Frankie ausgerechnet in einer so großen Stadt und weitläufigen urbanen Landschaft nicht entfalten kann. Seinem Begehren kann er nur innerhalb seines beengten Kinderzimmers ungestört folgen; in schwulen Chatrooms, in denen er nach Zuwendung und Druckabbau sucht. Wenn sich die älteren Männer dort entkleiden oder mit ihm ein Sexdate verhandeln, öffnet sich damit auch die Tür in eine virtuelle Parallelwelt.

Ähnlich wie sein Held zieht sich auch der Film immer wieder in eine andere Sphäre zurück. Die Kamera von Hélène Louvart schafft mit ihren Aufnahmen von schwitzenden Oberkörpern, offenen Gesichtern und verschwommenen Stadtansichten eine intime Ästhetik, die nah an den Figuren ist und zugleich betont, wie fern diese einander sind. Umhüllt von kindlich träumerischen Melodien und desorientiert von bunten Lichtreflexionen fühlt man sich beim Zuschauen selbst besoffen. Durch diese rauschhaften Momente entsteht ein imaginärer Zufluchtsort, in dem sozialer Zwang und Selbsthass für einen kurzen Augenblick vergessen sind.

Ähnlich wie in ihrem schönen Langfilmdebüt "It Felt Like Love" erzählt Hittman von einem mit sich hadernden jungen Protagonisten, der mit allerlei Lügen ein Leben konstruiert, das vor allem den Anderen gefallen soll. "Beach Rats" ist mit seiner zunächst klassisch wirkenden Coming-Out-Geschichte zwar linearer erzählt, ist aber letztlich stärker an den sich nie wirklich auflösenden inneren Spannungen seiner Hauptfigur interessiert als am überfälligen Befreiungsschlag. Den Kampf um ein vielleicht irgendwann erfülltes Leben muss Frankie deshalb auch nicht mit seinem proletarischen, eher konservativ eingestelltem Umfeld ausfechten, sondern vor allem mit sich selbst. Jedes Lavieren und Schweigen, jede noch so kleine Lüge wirkt dabei wie ein weiteres Symptom seiner konstanten Selbstverleugnung. Wobei Frankie tatsächlich schon in einem Stadium ist, in dem er sich gar nicht mehr belügen kann. Dafür ist er umso eifriger darin, sein Umfeld zu blenden. Sein Date mit Simone etwa hat reine Alibi-Funktion. In grausamer Ausführlichkeit zeigt Hittman, wie er das verknallte Mädchen benutzt, um sich hinter der Maske der Normalität zu schützen. Es gibt einen romantischen Spaziergang am Strand, eine nicht ganz zufällige Begegnung mit der Familie, bemühten Sex und auch ein anschließendes Selfie als Beweismittel. Dabei ist jeder dieser vorgetäuschten Momente Teil einer bis ins Detail geplanten Inszenierung, hat eine ausschließlich repräsentative Funktion. Der gesellschaftliche Erwartungsdruck bleibt in "Beach Rats" zwar diffus, der Schaden, den er beim Einzelnen anrichten kann, zeigt sich dafür aber umso plastischer.

Michael Kienzl


Beach Rats - USA 2017 - Regie: Eliza Hittman - Darsteller: Harris Dickinson, Madeline Weinstein, Kate Hodge, Neal Huff, Nicole Flyus - Laufzeit: 98 Minuten.

"Beach Rats" ist im Rahmen des Filmfestivals "Unknown Pleasures" zu sehen, das vom 12.-28.01. in den Berliner Kinos Arsenal und Wolf stattfindet. "Beach Rats" ist am 15.01. um 20 Uhr im Wolf zu sehen. Eröffnet wird das Festival am 12.01. um 20 Uhr im Arsenal mit einer Vorführung von "Princess Syd", der Teil unseres Jahresrückblicks "Nicht im Kino" war.