Efeu - Die Kulturrundschau

Gesponnen aus dem Garn der Signifikanten

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.11.2015. Ausgerechnet in der durch die Flüchtlingskrise verschärften Wohnungsnot sind Architekten nicht gefragt, konstatiert die FAZ. Thierry Chervel unterhält sich mit dem literaturcafé über Literaturkritik und das neue Metablog Lit21. Der Freitag staunt über den Vom-Buchpreis-zur-Bühne-Rekord, den die Berliner Schaubühne mit der Ankündigung einer Adaption von Frank Witzels "Die Erfindung..." aufstellt. Der Perlentaucher spürt der Melancholie des neuen James Bond nach. Und die FR widmet sich im Frankfurter Liebighaus der Anzüglichkeit des Rokoko.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.11.2015 finden Sie hier

Film


Als Subjekt nicht mehr vorgesehen: Daniel Craig in "Spectre"

Die Welt des neuen Bond-Films "Spectre" ist jene nach Edward Snowdens Enthüllungen, die den utopischen Glanz des Internets und seiner Tools weiter ins Dystopische verschoben haben, schreibt Thomas Groh im Perlentaucher: "'Spectre' kennzeichnet den 'Rise of the Machines', wie er im Terminator-Franchise noch lustvoll von der Hardware und hier von Big Data her imaginiert wird, als traumatisierend-einschneidendes Ereignis: In 'Spectre' geht etwas zu Ende - der Traum vom historisch handelnden Subjekt. Die Protagonisten in 'Spectre' haben eine Vergangenheit, die sie nicht loslässt, und blicken einer Zukunft entgegen, in der sie als Subjekt nicht mehr vorgesehen sind, sondern lediglich als Gegenstand von Messungen und Kalkulationen."

Mehr zu Bond: Ulrich Lössl von der Berliner Zeitung spricht mit Bond-Darsteller Daniel Craig. Mit Christoph Waltz, der im neuen Bond den Bösewicht spielt, plaudert David Steinitz von der SZ. Die FAZ hat mittlerweile auch Dietmar Daths bereits vor einigen Tagen im Print veröffentlichte Bond-Besprechung online gestellt.

Abseits von Bond: Im neuen Podcast von critic.de unterhalten sich Lukas Foerster (Perlentaucher), Frédéric Jaeger (critic.de), Ekkehard Knörer (Cargo) und Nina Scholz (Buzzfeed) über neue Serien. In der taz schreibt Carolin Weidner über die Berliner Filmreihe "Afrikamera". Der Bayerische Rundfunk bringt die Aufnahme einer Veranstaltung zu Ehren von Pier Paolo Pasolini, der vor 40 Jahren ermordet wurde. Im CulturMag schreibt Dietrich Kuhlbrodt über Christoph Schlingensief.

Besprochen werden Pablo Larraíns "El Club" (Tagesspiegel, SZ), Pawel Siczeks Dokumentarfilm "Die Hälfte der Stadt" über die Deportation der jüdischen Bevölkerung aus Polen (taz, FAZ), das Erich Mielke-Dokudrama "Meister der Angst" (Welt), Sabine Gisigers Filmporträt "Dürrenmatt - eine Liebesgeschichte" (Welt), die im Spätprogramm versteckte neue ZDF-Sitcom "Komm schon!" (Welt), die fünfte Staffel von "Homeland" (Freitag) und der Netflix-Film "Beasts of No Nation" von Cary Fukunaga (CrimeMag).
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Musik

Gregor Dotzauer (Tagesspiegel) und Franziska Buhre (taz) porträtieren den New Yorker Improvisationsmusiker George E. Lewis, dessen Splitter Orchester heute das Jazzfest Berlin (hier dessen prächtige Beilage zur taz als pdf) eröffnet. Der Tagesspiegel bringt den zweiten Teil von Udo Badelts Reisebericht von der Asientour des Deutschen Symphonie-Orchesters.

Besprochen werden die CD "1915 - Werke von Hahn und Debussy" des Klavierduos Tal/Groethuysen (ZeitOnline), der Auftritt von Gary Peacock und Michael Wollny beim Enjoy Jazzfestival in Ludwigshafen (Tagesspiegel, FAZ), ein Konzert von Joseph Calleja in Frankfurt (FR) und eine auf 3sat ausgestrahlte Fernsehdoku über Rechtsrock (Tagesspiegel, hier in der Mediathek).
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Kunst

Christian Thomas besucht für die FR die Frankfurter Rokoko-Ausstellung und doziert kühl: "Allemal natürlich war für das Rokoko die Anzüglichkeit. Und sie war etwas, das sich nicht nur mit einem Augenzwinkern zeigte... Allzeit bereit war das Rokoko für die Ambiguität. Der Griff zur Flöte war kein unschuldiger, keiner nur nach einem Musikinstrument."

Weitere Artikel: Wie sehr die Soundkunst sich mittlerweile durchgesetzt hat, erfährt Moritz Scheper vom Freitag beim Besuch von Christian Marclays Installationen in der Staatsgalerie Stuttgart. Im CulturMag heftet sich Vladimir Alexeev auf die Spuren des Phantomkünstlers Karl Waldmann.

Besprochen werden der neue Fotoband "Duft der Träume" von Sebastião Salgado ("hervorragend getarnte PR", stöhnt Felix Koltermann in der taz), eine Ausstellung der Fotos von Viviane Sassen im niederländischen Museum Hilversum (Zeit) und die Retrospektive Rita McBride in der Kestnergesellschaft in Hannover (SZ).
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Architektur

Jetzt, da angesichts der hohen Flüchtlingszahlen akuter Wohnungs-Mehrbedarf herrscht, wäre für Architekten die Zeit gekommen, mit neuen Antworten auf die Frage des Zusammenlebens zu reagieren, schreibt Niklas Maak in der FAZ. Doch Pustekuchen, es herrsche bloßer Verwaltungsgeist, stellt er auf Nachfrage bei den Behörden fest: Es gebe "nur quantitative Zahlen, Notfalltechnokratendeutsch, Quadratmeterangaben, Toilettenzahlen, Statikberechnungen, Aufstellungsorte. ... Was entstehen da für Städte? In der Hektik wird auf Architekten verzichtet. Jetzt, im Zustand akuter Baupanik, heißt die einzige Frage: Wer kann Modulsysteme liefern?"

In der SZ bekundet Sonja Zekri ihren ästhetischen Genuss beim Betrachten alter sowjetischer Bushaltestellen, wie sie der Fotograf Christopher Herwig dokumentiert hat (hier einige Eindrücke, empfehlenswert ist im übrigen auch das Online-Archiv Socialist Modernism samt dazugehöriger Facebookseite).
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Design

Wer noch ein sündhaft teures Weihnachtsgeschenk sucht, wird vielleicht bei Hermes fündig. Der Tuch- und Sattelhersteller bietet einen Roland-Barthes-Schal an, mit dem grafischen Schriftbild der "Fragmente einer Sprache der Liebe" als Muster. Daniel Haas ist dem Teil in der Zeit sofort erlegen. Nicht, dass er einen frivolen Hang zum Luxus hätte: "Texte sind bekanntlich nichts als Gewebe, gesponnen aus dem Garn der Signifikanten." (Bild: Studio Philippe Apeloig / Hermes)

Der Grafiker Philippe Apeloig, der das Design des Schals entworfen hat, erklärt Rebecca Voight von der Zeitschrift W: "...my first idea was to use typography, but that was too obvious. Finally I blacked out all the text, turned the words into graphic blocks, and reproduced each page in its original order like a mosaic.' The result, a graphic overview of 'Fragments,' resembles a musical score, a piece of morse code, hieroglyphics and a diagram of digital circuitry."
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Stichwörter: Barthes, Roland, Hermes, Luxus

Bühne

Mit Matthias Lilienthals Intendanz an den Münchner Kammerspielen erwächst dem Spielart-Festival ein echtes Problem, meint Christine Dössel in der SZ: Mit seinem hybriden Theaterkonzept zwischen Repertoire und freiem Experiment grabe Lilienthal dem auf freie Szene spezialisierten Festival das Alleinstellungsmerkmal ab. Schon jetzt gebe es sichtliche Überschneidungen zu verbuchen. Wird das Festival zum "künstlerischen Beiboot"? Wie positioniert sich das Festival dagegen? "Es ergießt sich in üppigste Kleinteiligkeit. Statt zwei, drei große, bedeutende Inszenierungen von überregionaler Strahlkraft einzuladen, suchten Tilmann Broszat und Gottfried Hattinger ihr Glück im Überangebot dessen, was sie 'transnationale Vielstimmigkeit' nennen. Heißt im Klartext: Und hier, aus diesem Winkel der Welt, hätten wir auch noch was Interessantes."

Kaum war Frank Witzel für seinen Roman "Die Erfindung..." mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, kündigte die Berliner Schaubühne auch schon die Premiere der Bühnenbearbeitung durch Armin Petras für den kommenden April an. "Vom-Buchpreis-zur-Bühne-Rekord", stutzt da Thomas Irmer im Freitag: Doch "was will uns das Theater signalisieren, wenn es schneller als der Durchschnitt einen Roman nicht nur gelesen hat, sondern bereits in der noch laufenden Erstrezeptionsphase mit eigenwilliger Akzentsetzung in dessen Sphäre vordringt? ... Dieses Co-Writing der schnellen Zweitfassung für die Bühne müsste als Verwertung gerade die Autoren verwundern und eigentlich auch beunruhigen, die ihre Romanwerke erst mal nur für Leser in die Welt lassen und sehen wollen, was diese Bücher bewirken. "

Weiteres: An den Münchner Kammerspielen haben sich Schauspielschulen-Absolventen den deutschen Intendanten vorgestellt, berichtet Patrick Bahners in der FAZ und schlussfolgert nach diesem Vorsingen: "Die Lebenskraft aufzubringen, die der Dekonstruktion standhält, ist heute der Beruf des Schauspielers." Besprochen wird Jan Philipp Glogers "Kafka/Heimkehr" am Staatstheater Wiesbaden (FR).
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Literatur

Wolfgang Tischer von literaturcafé interviewt Perlentaucher Thierry Chervel zu lit21.de, dem neuen "Metablog", das literarische Inhalte bündelt. Auf die Frage, ob Blogs sich durch persönlichere Sichtweise von Kritiken unterscheiden, antwortet Chervel: "Auch im Journalismus gab es immer schon sehr persönliche Stimmen. Gerade die Großkritiker, die heute von vielen als Figuren eines vergangenen Zeitalters betrachtet werden - also Reich-Ranicki, Raddatz und Kaiser - hatten sehr persönliche Blickweisen. Das wurde ihnen von der Akademia, die niemals 'ich' sagen würde, auch immer zum Vorwurf gemacht."

Außerdem: Die taz dokumentiert Gabriele Goettles Dankesrede zum Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. An der FU Berlin hat der Übersetzer Frank Heibert seine Antrittsvorlesung zur Gastprofessur für Poetik der Übersetzung gehalten, berichtet Sylvia Prahl in der taz. Die FAZ hat Marco Stahlhuts Bericht vom Indonesischen Literaturfestival aus der gestrigen Printausgabe online nachgereicht.

Und bei Cory Doctorow aufgeschnappt: Comic-Hexenmeister Alan Moore spricht über Horrorhexenmeister H.P. Lovecraft:



Besprochen werden Richard Price' "Die Unantastbaren" (Freitag), Sabine Gisigers Dokumentarfilm "Dürrenmatt - Eine Liebesgeschichte" (Tagesspiegel), Thees Uhlmanns "Sophia, der Tod und ich" (CulturMag), Charlotte Otters "Karkloof Blue" (CrimeMag), Wallace Strobys "Kalter Schuss in Herz" (CrimeMag), Max Goldts "Räusper" (SZ), Robert Harris' "Dictator" (FAZ), Gianluigi Nuzzis Papst-Buch "Alles muss ans Licht" (Welt) und Christoph Meckels "Erinnerungen an Lebzeiten" (SZ).

Neues gibt's auch vom Cultur- bzw. Lit- bzw. CrimeMag: Marcus Muentefering spricht unter anderem mit Blut- und Gekröse-Experte Joe R. Lansdale. Ist Lee Childs Figur des Jack Reacher noch zeitgemäß, fragt sich Peter Münder.

Mehr zum literarischen Leben im Netz in Lit21, unserem im Laufe des Tages ständig aktualisierten Meta-Blog.

Nur im Print: In der Krimi-Beilage der Zeit gibt es unter anderem ein Interview mit Friedrich Ani, Besprechungen zu den neuen Romanen von James Lee Burke, Ake Edwardson und Christoph Peters und die Bestenliste für N0ovember.
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