Efeu - Die Kulturrundschau

Ich will ja niemanden vollschwafeln

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.09.2019. In der taz setzt Milo Rau eine Revolte der Würde auf den Spielplan für Süditalien. Die New York Times lässt sich im New Museum von Mika Rottenbergs das eigene Energiefeld verändern. In der FAZ verteidigt Michael Haefliger die Schleifung des Lucerne Festivals. Tagesspiegel und Presse sitzen gähnend im zweiten Teil von Stephen Kings "Es"-Verfilmung. Geschickte Kitsch-Tarnung oder vorgetäuschter Tiefgang? Freitag und SZ schwanken zu Wandas Album "Ciao".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.09.2019 finden Sie hier

Kunst


Mika Rottenbergs Video "Spaghetti Blockchain". Ausstellungsansicht. Foto: Dario Lasagn / New Museum

Schräg und einige vielleicht auch albern findet Martha Schwendener in der New York Times die "Easypieces" der argentinischen Künstlerin Mika Rottenberg im New Museum, aber am Ende verlässt sie die Ausstellung in einem "völlig veränderten Energiefeld", wie sie versichert, seelisch und emotional: "Das Herzstück der Ausstellung bildet das 21-minutige Video'Spaghetti Blockchain' (2019), das hin- und hertrudelt zwischen tuvinischen Obertongesängen aus Sibirien, dem Teilchenbeschleuniger des CERN in der Schweiz, einer Kartoffelfarm in Maine und einer imaginären Fabrik zur ASMR-Produktion. Neben den leuchtenden Farben und all den knallenden und schwirrenden Klängen, beruht das Video auch auf klassischen-surrealistischen, traumartigen Szenerien. Die Vorstellung von Materie und die Verbindung von beseelten und unbeseelten Gegenständen macht eigentlich den Kern der Arbeit aus, geht allerdings ein bisschen verloren in diesem ASMR-Sensorium und dem Exzess von Klängen und Farben, der Rottenbergs Arbeit kennzeichnet."

Weiteres: Auch Falk Schreiber findet in der taz die Jubiläumsausstellung "Beständig. Kontrovers. Neu" der Hamburger Kunsthalle etwas trocken geraten, aber das Nachdenken über bürgerschaftliche Prinzipien in der Kunstvermittlung erscheint ihm nicht ganz falsch: "Bei optimistischer Betrachtung könnte ein Jubiläum natürlich Motivation sein, das Prinzip Kunsthalle als Ganzes neu zu denken." In der NZZ freut sich Roman Hollenstein über die Ausstellunge, die Bregenz und Schwarzenberg der klassizistischen Malerin Angelika Kauffmann widmen. Ebenfalls in der NZZ bricht der Schweizer Kunsthistoriker Werner Oechslin ebenfalls in der NZZ eine Lanze für Johannes Itten, mit dem sich die anderen Meister des Bauhaus über seine "esoterische Philosophie" verkrachten. In der SZ feiert Christine Dössel noch einmal den litauischen Pavillon auf der Biennale in Venedig, der als Operninszenierung am Touristenstrand in heiterer Nonchalance daherkommt: "Was als theatrales Strand-Standbild perfide gut passt auf eine Welt, die im Wohlstands- und Wellnessmodus ihrem allmählichen Untergang entgegendämmert."

Besprochen werden Ausstellung zu Aenne Biermann und anderen Fotografinnen in der Pinakothek der Moderne (FAZ) und eine Retrospektive des amerikanischen Bildhauers David Smith im Yorkshire Sculpture Park (Guardian).
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Bühne

In der taz erzählt Milo Rau von seiner neuer Inszenierung in Süditalien, die man sich als Mischung aus Jesusfilm und Revolte vorstellen muss: "Das eigentliche Kernstück unseres 'Neuen Evangeliums' ist die Frage nach der Möglichkeit einer Revolte in einer atomisierten politischen Lage. Mit einer 'Revolte der Würde' - einem Zusammenschluss von etwa 30 Organisationen - versuchen wir, eine breite Front gegen die Politik Salvinis zu schaffen. Es ist ein für Süditalien historisch einzigartiger Versuch: Erstmals kämpfen italienische Kleinbauern und Migranten Seite an Seite, erstmals beginnt eine politische Initiative gemeinsam in den wilden Flüchtlingslagern, in den Bauern- und Anwalts-Vereinigungen und den anarchistischen Gruppen."

Besprochen werden Sebastian Hartmanns Abend mit Shakespeares "Lear" und Wolfram Lotz' "Politiker" (den Peter Laudenbach in der SZ schon jetzt als ein Ereignis des Jahres feiert) und Daniel Kehlmanns Roman "Tyll" in einer Inszenierung von Tilo Nest in Wiesbaden (FR).
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Film

Erster Clown super, zweiter Clown - naja: "Es, Kapitel 2" (Bild: Warner)

Der erste Teil der groß angelegten Stephen-King-Verfilmung "Es" stieß 2017 "Der Exorzist" als bis dahin an den Kinokassen erfolgreichsten Horrorfilm vom Thron. Auch die Kritiker waren mit der Geisterbahn weitgehend sehr zufrieden. Der zweite, knapp 30 Jahre später spielende Teil hingegen fällt zumindest bei den Rezensenten durch: Tagesspiegel-Kritiker Christian Vooren hat nur noch gegähnt angesichts der "langatmigen Erzählmuster". In der Presse berichtet Katrin Nussmayr von zumindest anfangs sehr länglichen knapp drei Stunden Laufzeit. Laut Kinozeit-Kritiker Christoph Diekhaus stellt sich emotionale Wucht ausgerechnet nur in den Rückblenden ein, in denen es um die Teenager aus dem ersten Teil geht. Auch SZ-Kritiker David Steinitz hat sich hier an den von Bill Skarsgård gezogenen Fratzen des Horrorclowns Pennywise irgendwann auch einfach mal satt gesehen - wobei ihn die Geschichte des Erwachsenwerdens, die der Film erzählt, schlussendlich doch ein bisschen gerührt hat.

Appelliert an niedrigste Instinkte: Václav Marhouls "The Painted Bird"

Nicht gar so viel Aufregendes vom Filmfestival Venedig heute: Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche ist schon so erschöpft, dass er sich seinen Fesivalplan nach der Länge der Film einteilt und fühlt sich von Václav Marhouls gegen Ende des Zweiten Weltkriegs angesiedelten Film "The Painted Bird" ziemlich brüskiert: "Marhouls handwerkliche Virtuosität dient nur der Manipulation niedrigster Instinkte." Mit Pietro Marcellos offenbar diffus im Italien der 60er, 70er oder 20er angesiedelten "Martin Eden" fühlt sich Artechock-Kritiker Rüdiger Suchsland ins "Elena-Ferrante-Land" gebeamt. Tazler Tim Caspar Boehme wippte bei den "anrührenden italienischen Schlagern" im Kinosessel mit - und hatte vor allem an Luca Marinellis Spiel in der Hauptrolle viel Freude. Im FAZ-Blog gelingt Dietmar Dath das Kunststück, einen Weg von der auch in Venedig mal wieder geführten Netflix-Kontroverse - will der Streamer das Kino nun retten, soll man das Kino vor dem Streamer retten oder wie oder was? - zum neuen Comicalbum der Schlümpfe zu finden, wo er sich - so darf man nach den letzten Sätzen wohl mutmaßen - in Schlaubi-Schlumpf ein bisschen wiedererkennt.

Der Filmhistoriker Hans Helmut Prinzler schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf seinen Kollegen Gero Gandert, der für seine Recherchewut legendär war: "In sein 'Handbuch der zeitgenössischen Kritik' über das Jahr 1929 hat er 25 Jahre Arbeit investiert, bis es 1993 als 900-Seiten-Publikation bei DeGruyter erscheinen konnte. ... Gandert war kein Filmarchivar. Er hat für sich das Sekundäre - die Dokumente, das Schriftliche, das Produktions- und Rezeptionsmaterial - zum Primären gemacht. Er konnte nach drei Wochen aus Los Angeles nach Berlin zurückkommen, ohne im Kino gewesen zu sein. Aber er hatte dort 30 Leute getroffen und mit 50 anderen telefoniert. Kommunikation gehörte für ihn zum Lebenselixier." In der Welt schreibt Hanns-Georg Rodek einen Nachruf.

Weiteres: In Hollywood wird zwar so viel protestiert wie noch nie, doch kriegt es kaum jemand mit, schreibt Susan Vahabzadeh in der SZ: Denn "Hollywood-Stars sind auf Twitter gar nicht so angesagt. Die Followerköniginnen kommen aus dem Pop." Rainer Knepperges hat auf New Filmkritik eine neue seiner wunderbaren Bild/Text-Collagen zum Thema "Auge und Umkreis" online gestellt. Ralf Schenk schreibt in der Berliner Zeitung einen Nachruf auf den Filmproduzenten Tom Zickler. Dlf Kultur erinnert mit einer Sondersendung daran, dass heute vor 60 Jahren mit "Der Frosch mit der Maske" der erste Edgar-Wallace-Film aus dem Rialto-Zyklus erschienen ist.

Besprochen werden Asif Kapadias Dokumentarfilm über Diego Maradona (Welt, FAZ) und Andreas Horvaths "Lillian" (Standard).
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Literatur

Auf Tell-Review denkt Henriette Reisner darübr nach, wie sich Dostojewski ins Deutsche übertragen lässt. Andrea Köhler meldet in der FAZ, dass in Bälde eine Fortsetzung zu Margaret Atwoods "Der Report der Magd" erscheint. In der FAZ gratuliert Niklas Bender dem Schriftsteller Yann Queffélec zum 70. Geburstag.

Besprochen werden unter anderem Nora Bossongs "Schutzzone" (SZ), Frank Witzels "Uneigentliche Verzweiflung" (taz), David Wagners "Der vergessliche Riese" (Freitag), Roberto Savianos "Die Lebenshungrigen" (Zeit), Dana von Suffrins "Otto" (FAZ) und ein von 3sat online gestellter Porträtfilm über den Schriftsteller Ferdinand von Schirach (FAZ).
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Musik

Im FAZ-Gespräch verteidigt der Intendant des Lucerne Festivals, Michael Haefliger, die Entscheidung, die Sparten des Oster- und das Klavierfestivals abzuschaffen, um damit die Sommersparte des Festivals zu begünstigen: "Das war in erster Linie eine strategisch-programmatische und keine unternehmerische Entscheidung; eine Fokussierung und keine bloße Kürzung, was natürlich einschließt, dass wir Inhalte zum Beispiel des Klavierfestivals organisch in das Sommerfestival integrieren werden."

"Bussi" hier, "Ciao" da, Jeansjacken und strähnig-fettige Haare gratis oben drauf: Die Austro-Rocker Wanda sind ästhetisch nicht gerade der originellste Entwurf, vielmehr siedeln sie nahe beim Schlager, meint Konstantin Nowotny im Freitag, ist aber trotzdem dankbar für das Pop-Phänomen: Denn "durch die geschickte Kitsch-Tarnung ist der Hörgenuss gerade noch erlaubt, auch für Menschen, die sich vom Schlager sonst fernhalten würden. Wanda enttarnen die Scheinheiligkeit: Am Ende ist schließlich auch kein Rocker wirklich hart, sondern braucht nur eine schwitzige Maskerade, um sein Leiden an den Liebeszyklen männlich camoufliert zelebrieren zu dürfen."

SZ-Popkolumnist Julian Dörr hingegen sieht in dem neuen Wanda-Album "Ciao" - dem vierten in fünf Jahren - vor allem einen Stapel "Songattrappen": Die Stücke sind "nach den Blaupausen der Beatles gebaut, die sind massentauglich und industrieerprobt. Auch textlich wird sehr professionell Tiefgründigkeit vorgetäuscht." Für den Standard hat Christian Schachinger den Sänger Marco Wanda zum Gespräch getroffen. Der erklärt, dass seine textlichen Verknappungen auf sein Sprachkunststudium zurückzuführen sind: "Mir hat der Robert Schindel immer gesagt: Eine Wiese ist nicht taufrisch und glänzt in der Sonne oder liegt im Morgennebel, sondern sie ist eine Wiese. Dieser Ansatz hat mich begeistert. Wenn man etwas weglässt, hat der Hörer mehr Platz. Ich will ja niemanden vollschwafeln."



Weiteres: "Die Zukunft der Klassik liegt im Streaming", lautet Frederik Hanssens im Tagesspiegel gezogenes Fazit nach der Lektüre einer Studie zum Hörerverhalten. Für die SZ spricht Rudolf Neumaier mit Christian Hess, dem neuen Chef der Regensburger Domspatzen. In der NZZ plaudert Adrian Schräder mit dem Popproduzenten Mark Ronson. Gerrit Bartels besucht für den Tagesspiegel das Berliner Café M, wo sich einst die Westberliner Musikbohème nach durchgefeierten Nächten den ersten Milchkaffee des Tages schmecken ließ. Der Londoner Jazzclub Ronnie Scott's wird 60, berichtet Cathrin Kahlweit in der SZ. Im "Unknown Pleasures"-Blog des Standard erinnert Karl Fluch an die Rock'n'Roll-Band The Blasters.

Besprochen werden Konzerte von Herbert Grönemeyer (Tagesspiegel) und Ariana Grande (Standard).
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