Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.04.2001.

Zeit, 11.04.2001

Moritz Rinke, Theaterautor, nimmt ziemlich unverschämt Stellung zur Theaterdebatte der Zeit. Der Anruf des Theaterredakteurs Jörder mit der Aufforderung zur Stellungnahme, so schreibt er, erreichte ihn, als er gerade durch Israel reiste. Das Publikum verweigere sich, hätte Jörder gesagt: "'Wo denn, wo denn?' 'In Basel!' 'O je, in Basel?' 'In Luzern auch.'" Und Rinke zieht das Fazit: "Nun ja. Ich weiß zwar nicht, was die Menschen in Luzern und Basel für Sorgen haben, aber wahrscheinlich gehen ihnen diese Debatten, Krisen und Tendenzen genauso am Arsch vorbei wie den Leuten in Majdal Bani Fadil und Nahal Hemdat." Rinke schließt eher auf eine "Krise der Debatten" (und sollte darüber vielleicht mal mit Stephan Wackwitz debattieren, der im Perlentaucher-Forum zu einer ähnlichen Diagnose kam).

Zehn Thesen zur "Krise des Pop" (was heutzutage alles eine Krise hat!) legt Thomas Assheuer vor. Ein Auszug aus These 6: "Viele Pop-Autoren träumen von einem neuen Zeremonienmeister... Ausgerechnet die gnadenlose Affirmation der Oberfläche erzeugt eine Religion der Wartenden, eine tiefe Sehnsucht nach dem Abstieg vom Zauberg, den autoritären Wunsch nach Ordnung."

Gustav Seibt hat die italienische Kulturministerin Giovanna Melandri besucht und konstatiert eine wahre Blüte des kulturellen Erbes in Italien: "Im Durchschnitt wurde in den vergangenen Jahren in jedem Monat ein Museum eröffnet oder wieder eröffnet, also zwölf pro Jahr; die durch Erdbeben zerstörten Fresken von Assisi wurden innerhalb von drei Jahren wiederhergestellt; der jährliche Kulturhaushalt konnte seit 1998 fast verdoppelt werden, von 2 auf 4 Milliarden Mark, er steigt im Jahre 2001 noch einmal um sechs Prozent, von 4,1 auf 4,4 Milliarden." Die bange Frage ist nun, ob diese Errungenschaften der linksliberalen Regierung unter dem drohenden Berlusconi-Regime in Frage gestellt werden. Seibt meint nein: Berlusconis Verlage profitieren vom Druck der Kataloge.

Auch Paul Zanker vom Deutschen Archäologischen Institut in Rom lobt die italienische Kulturpolitik, macht aber auch "Schattenseiten" aus, "vor allem in den Vesuvstädten. Hier stehen auf der einen Seite nach wie vor starre und zentralistische Bürokratie, auf der anderen Gewerkschafts- und Privatinteressen einer effektiven Organisation entgegen. Zur Verfügung stehende Gelder können aufgrund administrativer Hürden nicht freigegeben werden. Trotz spezieller Gesetze werden die Schutzdächer in Pompeji nur unzureichend kontrolliert und oft nicht rechtzeitig repariert, so dass die kostbaren Wandmalereien heute noch schneller als früher verfallen."

Weitere Artikel: Thomas Groß amüsiert sich über die Naturschützer, die durch Anmeldung einer Gegendemo "eine Million Raver an der termingerechten Ausübung der Love Parade" zu hindern drohten. Besprochen werden eine CD von Jan Delay, die Filme "Zusammen", "15 Minuten Ruhm" und "Escape to Life", Botho Strauß' neues Stück "Der Narr und seine Frau...", eine Frank-Stella-Ausstellung in Jena, sowie die Jürgen-Klauke-Retrospektive in der Kunst- und Ausstellungshalle Bonn. Ferner weist Jörg Lau auf Dagmar von Wilckens Vorschlag für eine Ausgestaltung des "Orts der Erinnerung" im Holocaust-Mahnmal hin.

TAZ, 11.04.2001

Ute Schürings berichtet über einen Stimmungswandel gegenüber Deutschland in den Niederlanden: "Ein positiveres Deutschlandbild ist .. auch der Berichterstattung in der niederländischen Presse zu verdanken, die seit dem Umzug der Regierung nach Berlin ausführlich aus der neuen Hauptstadt berichtet. In den Wochenendbeilagen der Zeitungen finden sich oft große Artikel zur Kultur in Berlin, über glamouröse Hauptstadtevents oder umstrittene Architekturprojekte. Und auch die politische Berichterstattung ist ausgesprochen differenziert."

Weitere Artikel: Thomas Winkler porträtiert Kristin Hersh, die mit ihren Throwing Muses einst großen Einfluss auf das Frauenbild in der Rockmusik hatte und heute ganz alleine singt. Christian Bröcking kommt in seiner Jazzkolumne noch einmal auf den umstrittenen "Jazz"-Dokumentarfilm zurück. Und Christian Rath stellt fest: "Die Love-Parade-Veranstalter verzichten auf einen Rechtsstreit. Aus gutem Grund. Ein Prozess hätte wenig Aussicht auf Erfolg."

NZZ, 11.04.2001

Angela Repka stellt das feministische Projekt "Aspekt" vor, mit dem einige Frauen in der Slowakei das rigide tradionelle Frauenbild des katholischen Landes durcheinanderbringen wollen. Leicht haben sie es nicht. "Bei der sich als fortschrittlich verstehenden demokratischen Elite der Slowakei konstatieren sie mangelnde Bereitschaft zu Reflexion und Wandel. Es genüge eben nicht, sich lediglich in Abgrenzung zu Meiar und Konsorten als Demokraten zu profilieren, denn neben dem Blinden erscheine selbst der Einäugige als König, wie es Jana Juraova auf den Punkt bringt."

Elisabeth Schwind erzählt vom erstaunlichen Fall eines Plattenlabels für Neue Musik, das nach zwei Jahren bereits sehr erfolgreich ist: "Wie lässt sich das Vakuum umreissen, das Kairos aufspürte? Eine der Triebfedern zur Gründung des Labels sei, so Peter Oswald, die Beobachtung gewesen, dass es zu viele Aufnahmen Neuer Musik gebe, die 'hundsmiserabel' seien. Oswald hingegen möchte, dass sich der potenzielle Interessent darauf verlassen kann, auf Kairos zentrale Positionen an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert vorzufinden. Große Worte sind das - und doch mehr als bloße Luftblasen. Anders als im kanonisierten Klassik-Repertoire tragen im Bereich der Neuen Musik viele Aufnahmen einen eher dokumentarischen Charakter. Und das hat durchaus seine Berechtigung - schließlich ist man oftmals schon froh, ein bestimmtes Werk überhaupt auf CD gebannt zu finden, selbst wenn sich die Aufnahme als 'hundsmiserabel' erweisen sollte."

Weitere Artikel: Eva Clausen berichtet über die Verleihung des Premio Europa per il Teatro in Taormina. Besprochen werden eine Stanley-Spencer-Ausstellung in der Tate Britain, eine Ausstellung in Rom über Athanasius Kircher und einige Bücher, darunter Francis Wheens Karl-Marx-Biographie. (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

FAZ, 11.04.2001

Gabriel Garcia Marquez hat den Subcomandanten Marcos getroffen. Die FAZ übernimmt das Gespräch, das für die kolumbianische Zeitschrift Cambio geführt wurde. Marcos erklärt, wie sich die Zapatisten die bevorstehenden Gespräche mit dem mexikanischen Präsidenten Vicente Fox vorstellt: "Der Dialog bedeutet nur das Absprechen der Regeln, damit der Kampf zwischen ihnen und uns in anderen Bahnen verläuft. Was auf dem Verhandlungstisch liegen wird, ist nicht das wirtschaftliche Modell, sondern die Frage, wie wir darüber diskutieren. Das muss Vicente Fox begreifen. Wir werden am Tisch nicht 'Foxisten' werden. An diesem Tisch muss erreicht werden, dass die Leute mit den gestrickten Gesichtsmasken würdevoll den Saal verlassen können und weder ich noch ein anderer zu militärischem Gebaren zurückkehren muss. Die Herausforderung ist, dass wir nicht nur den Tisch, sondern auch den Gesprächspartner zimmern müssen, und zwar wie einen Staatsmann, nicht wie ein Produkt der Marktforschung oder der Werbeberater. Das ist nicht einfach. Der Krieg war einfacher. Aber im Krieg ist vieles nicht wiedergutzumachen. In der Politik kann man immer einlenken."

Zhou Derong berichtet aus China, dass nicht das ganze Volk so auf die Flugzeug-Affäre reagiert, wie es die Machthaber gern hätten. "Kritische Köpfe indes differenzieren sehr wohl zwischen den Anliegen der Kommunistischen Partei und denen des Staates. Zhang Yebai, Mitglied der chinesischen Akademie, einer der bekanntesten sino-amerikanischen Experten, weiß, wie verzerrt sein Land in den amerikanischen Medien dargestellt wird. Doch in einem Interview mit der China Economic Times vom 7. April ließ er zwischen den Zeilen auch durchblicken, dass dies nicht eigentlich gegen China oder die chinesische Bevölkerung, sondern allein gegen die Kommunistische Partei gerichtet sei. 'Solange China kommunistisch ist, wird es, wie die Amerikaner glauben, früher oder später ihrem Land gefährlich werden können.'"

Patrick Bahners kommentiert die Scheich-Affäre der britischen Monarchie: "Mission erfüllt. T.E. Lawrence hat, 66 Jahre nach seinem Unfalltod, sein Lebensziel erreicht: Briten vertrauen Arabern."

Weitere Artikel: Susanne Klingenstein porträtiert Eve Ensler, die Autorin der "Vagina-Monologe", die in den Theatern der Welt Erfolge feiern. Florian Rötzer bittet die Frage zu bedenken, ob "der Ausbruch der MKS in Großbritannien auf eine geplante Infizierung von Tieren" zurückzuführen sein könne Ruth Herrmann berichtet über umstrittene Pläne, den Kreuzgang des Simeonstiftes in Trier zu verglasen. Joseph Hanimann hat das neuste Buch des selten schreibenden Nobelpreisträgers Claude Simon gelesen: "Le tramway". Gina Thomas erzählt, wie eine britische Boulevardzeitung einen Prominentenprozess platzen ließ. Reinhard Kager fasst Pläne der Wiener Staatsoper und der Wiener Volksoper für die kommende Spielzeit zusammen. Und Kerstin Holm stellt ein russisches Raumfahrtmuseum in Kaluga vor.

Besprochen werden eine Ausstellung über Afrikaner in Württemberg vom 15. bis zum 19. Jahrhundert im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, die Oper "Les miserables" in Bonn, der Film "Zusammen!", eine Francis-Bacon-Ausstellung im Gemeentemuseum in Den Haag und ein Jazzkonzert mit Carla Bley, Steve Swallow und Andy Shepard in Frankfurt.

FR, 11.04.2001

Also es gibt eine Konkurrenz zu Harry Potter, behauptet Petra Kohse. Sie stammt von dem Autor Philip Pullman, ist im Fantasy-Bereich angesiedelt und stand in den USA monatelang auf den Bestsellerlisten. Seine Trilogie heißt "His Dark Materials" (auf Deutsch erschienen unter dem Titel "Das Bernstein-Teleskop"). "Anders als Joanne K. Rowling hat Philip Pullman keine geschlossene, konsistente Welt entworfen, sondern ein wucherndes, durch mehrere Zeichenebenen springendes Werk. Es ist auch keine serielle Literatur, sondern eine zusammengehörige Geschichte in zwei Teilen. Wie bei Harry Potter spielen Kinder die Hauptrollen, aber nicht sie sind es, die hier die Dinge letztlich entscheiden. Auch handeln alle drei Bände von einer bedeutenden, seelisch-geistigen Entwicklung. Und: Es gibt kein glückliches Ende." Die deutsche Fassung ist bei Carlsen erschienen, wie "Harry Potter" (was treiben die anderen Verlage eigentlich so?)

Klaus Bachmann schildert das Dilemma der polnischen Ukraine-Politik: "Polens Außenpolitiker haben aufgehört, in Kiew zu versprechen, auch nach dem EU-Beitritt werde die gemeinsame Grenze 'so offen wie bisher' sein. Kazimierz Woycicki, Direktor des Nordostinstituts in Stettin meint, dass 'unsere Ostpolitik Funktion unserer EU-Politik werden' muss. Zdzislaw Najder, Literaturprofessor und EU-Berater von Premierminister Buzek, geht noch weiter: 'Wenn an unserer Ostgrenze die Visapflicht und die Schengen-Regeln gelten, ist das auch ein weiterer Schritt weg von sowjetischen Verhältnissen. Das Durcheinander an unserer Ostgrenze hätten wir so oder so in den Griff bekommen müssen.' Solche eine Haltung, meine allerdings die Gegner dieser Politik, trenne Polen von seinen historischen Wurzeln im Osten und treibe Kiew in die Arme Moskaus."

Besprochen werden eine Retrospektive für den Architekten Rudolph Schindler im Museum of Contemporary Art in Los Angeles, Lukas Moodyssons Film "Zusammen!", die Ausstellung "Menschenbilder" Manubu Yamanakas in Leverkusen, "Die Affäre Rue de Lourcine" in Köln, Antonio Vivaldis "Juditha triumphans", szenisch ausgedeutet in Potsdam, und ein "Barbiere di Siviglia" in Zürich.

SZ, 11.04.2001

Viel Musik heute. Karl Bruckmaier erzählt, warum sensible Popkritiker so selten zum Friseur gehen: " Mit ein Grund für mein ungepflegtes Äußeres ist mein Grauen vor dem Besuch beim Haarkünstler meines Vertrauens; die hochtoxische Mischung aus New-Age-Dancefloor-Schlager-Abfuck in diesem Housewife-Repair-Shop hält mich davon ab, regelmäßig und mit dem nötigen Genuss dem beherzten Shampoonieren, dem sanften Klicke-di- klick der speziell gehärteten Schere und dem nasalen Geplapper des Meisters teilhaftig zu werden und treibt mich zottelmänig schon mal zur Lifestyle-Konkurrenz, wo mich nur nervtötend deplatzierer Speckgürtel-Techno erwartet." Nun hat Bruckmaier aber Ambient-Musik gefunden und empfiehlt sie in seiner Popkolumne.

Nikolaus Harnoncourt hat seine dritte Matthäus-Passion aufgenommen, meldet Michael Struck-Schloen: "Nichts mehr vom Biss aus alten Pioniertagen, als der Heilsbringer Harnoncourt bei Bach das nie Gehörte, nie Vermutete heraus schälte. Der Meister ist ruhiger geworden, seine Jugendsünden scheint er sich mit lächelnd-weisem Altersblick zu verzeihen. Und mit dem Concentus musicus steht ihm dabei ein Wiener Traditionsverein der Alten Musik zur Seite, dem junge englische und deutsche Gruppen in puncto Zusammenspiel und Präzision den Rang abgelaufen haben."

Nochmal deutsche Musik: "Warum nur, musste man sich in den letzten Wochen fragen, als die Diskussion um die Nachfolge von Wolfgang Wagner als Chef der Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele alle Welt geradezu hysterisierte, warum nur interessiert sich die sonst so klassikferne Öffentlichkeit so leidenschaftlich für dieses Familiendrama auf Soap-Opera-Niveau?", fragt Reinhard J. Brembeck, und antwortet: "Der Hügelchef ist nur dem Papst vergleichbar, und der denkt bekanntlich auch nicht ans Aufhören."

Niklas Maak schildert die originelle theoretische Arbeit der holländischen Architektengruppe MvRdV: "Um als Ökosystem zu überleben, sind die Niederlande auf die Waldbestände von Belgien und Deutschland angewiesen; ohne diese Bäume würde Holland in seinen eigenen Abgasen ersticken. MvRdV schlug in seiner Vision für ein ökologisch unabhängiges Holland gigantische Hochhäuser vor, in denen Wälder gestapelt werden sollten - als künstliche Lungen des Landes. In entsprechenden Wiesentürmen grasten glückliche Kühe auf weitläufigen Etagen: MvRdVs Vorschlag für ökologische Landwirtschaft in Ballungsräumen." Von der Gruppe ist ein Buch erschienen, schreibt Maak. Aber ihre Internetadresse ist auch ziemlich interessant. Ihr widmen wir unseren Link des Tages (ab zehn Uhr).

Weitere Artikel: Stefan Gabanyi erinnert in der Serie "Das war die BRD" an Racke Rauchzart. Andrian Kreye weiß, dass New Yorks Bürgermeister Giuliani einen Ausschuss für Anstand in der Kunst beruft. Alex Rühle erzählt, wie Michel Piccoli, Alain Platel, Heiner Goebbels und andere in Taormina den 9. Europäischen Theaterpreis feierten. Besprochen werden CDs von Michel Portal, Mikhail Pletnev, Dawn Upshaw, Valery Gergiev und Wolf Dieter Hauschild, ferner eine Luc-Tuysmans-Ausstellung im Hamburger Bahnhof (der bekanntlich in Berlin steht) und "Die Liebe zu den drei Orangen" in Köln.