Efeu - Die Kulturrundschau

Erlösung ist nicht mehr vorgesehen

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07.07.2016. Die taz lässt sich beim Festival Cinema Ri­trovato von einer regennassen Straße in Moskau in einen klaustrophobischen Fischerhaushalt treiben. In der SZ lässt Stellan Skarsgard die Hosen runter. Der Freitag amüsiert sich über das Celebrity Death Match um die Volksbühne. Die Welt dreht den Techno-Parsifal hoch.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.07.2016 finden Sie hier

Film

Ziemlich verzaubert ist taz-Filmkritiker Lukas Foerster vom Festival Cinema Ritrovato in Bologna, das ausschließlich Entdeckungen und Klassiker der Filmgeschichte zeigt. Dabei habe sich das Festival "in den letzten Jahren zu einem zentralen Treffpunkt der internationalen Cinephilenszene entwickelt. ... Nichts ist auf dem Cinema Ri­trovato zu spüren von der Hektik, die fast alle anderen Filmfestivals fest im Griff hat. Sicher auch, weil fast alle anderen Filmfestivals an deutlich unangenehmeren Orten stattfinden, als Bologna einer ist; vor allem aber, weil es in fast allen anderen Filmfestivals um den jeweils neuesten heißen Scheiß geht, den man ja nicht verpassen darf, wenn man mitreden möchte. Das Cinema Ritrovato dagegen zeigt das Kino als einen Möglichkeitsraum, in dem man frei und ungezwungen flanieren und herumstöbern kann. Mal verschlägt es einen auf die regennassen Straßen Moskaus, mal in einen klaustrophobischen Fischerhaushalt." Für critic.de hat sich Michael Kienzle die Carl-Laemmle-Retrospektive in Bologna angesehen.

Im SZ-Gespräch mit Roland Huschke kommt Stellan Skarsgård, der diese Woche in Susanna Whites John-le-Carré-Verfilmung "Verräter wie wir" (Besprechungen in Tagesspiegel, FAZ und taz) zu sehen ist, unter anderem auch auf den "Benimm-Vertrag" zu sprechen, den ihm Disney einst zum Signieren vorgelegt hat: Darin "steht, dass du verklagt werden kannst, wenn du in der Öffentlichkeit etwas tust, was vom Publikum als anstößig gesehen werden könnte. Ich weigerte mich solange, bis sie die Klausel aus meinem Vertrag nahmen. Das Recht, in einer Kneipe die Hosen herunterzulassen, werde ich bis zum Tode verteidigen."

Weiteres: In der taz empfiehlt Carolin Weidner die große Douglas-Sirk-Retrospektive in Berlin. Für die Filmgazette spricht Ricardo Brunn mit Christian Bräuer von der Berliner Kinokette Yorck, die den vom Verleih nur für einen DVD-Start vorgesehenen Film "The Lobster" (hier unsere Kritik) auf eigene Faust ins Kino gebracht hat. Zur Reform des Filmförderungsgesetzes hat der Freitag Einschätzungen berufener Fachleute eingeholt: Bettina Schoeller-Bouju von der Initiative Pro Quote Regie fürchtet, dass die Förderung wirtschaftlich erfolgreicherer Filme Filmemacherinnen ausbooten könnte, Frédéric Jaeger vom Verband der deutschen Filmkritik erhofft sich eine erhöhte Transparenz und Marc Mensch vom Branchenblatt Blickpunkt Film hält die Forderung der Kinos, die Schutzfrist zwischen Kinostart und Homevideo-Auswertung zu belassen, für "nachvollziehbar." Im Freitag ärgert sich Rebecca Maskos darüber, das behinderte Menschen im Film meist als lebensunwillig dargestellt werden.

Besprochen werden die Serie "Absolutely Fabolous" (Freitag) und Sean Bakers LGBT-Komödie "Tangerine, L.A." (zusammen mit Jon M. Chus "Jem and the Holograms" im Perlentaucher, Tagesspiegel, taz, Welt).
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Musik

Bevor es in Bayreuth losgeht, hat Hauptsponsor Audi seinen im Berghain gedrehten "Black Mountain" hochgeladen, einen zehnminütigen Techno-"Parsifal". Musik: Moritz von Oswald (einst Palais Schaumburg), Darstellung: allerlei Berliner Szenevolk, Veruschka von Lehnsdorff und Volker Spengler. Ahnung vor Wagner hat erklärtermaßen keiner. In der Welt staunt Barbara Möller: "Aber wenn die meisten Beteiligten in Sachen Wagner die reinsten Toren sind, dann ist 'Black Mountain' der Beweis, wie weit man es mit künstlerischem Willen bringen kann. Der Film ist fulminant - wer ihn ... anklickt, sollte die Lautstärke voll hochdrehen. Das Wesentliche wird in den zehn Minuten gezeigt: Promise (Verheißung), Seduction (Verführung), Realization (Verzweiflung). Titurel und Amfortas siechen dahin, Parsifal wird durch Mitleid wissend und tötet Klingsor - der Kampf in einer Blutwanne ist der ästhetische Höhepunkt des Films -, aber die Erlösung ist nicht mehr vorgesehen."



Weitere Artikel: Im Tagesspiegel berichtet Sandra Luzina vom Auftakt des Berliner "Foreign Affairs"-Festivals, für das sich rund hundert Wagemutige im Publikum in Schlafanzüge geworfen haben.

Besprochen werden das neue Album "About Kids, Hips, Nightmares and Homework..." des brasilianischen Rappers Emicida (taz), ein Konzert mit Kompositionen von Michael Jarrell (Tagesspiegel), eine Zusammenstellung von Arbeiten des italienischen Soundtrackkomponisten Egisto Macchi (Pitchfork) und ein Konzert von Patti Smith (Skug).
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Bühne

Chapeau! Über den Berliner Theaterkampf um die Volksbühne hat bislang noch keiner so ätzend geschrieben wie Matthias Dell im Freitag. Insbesondere der ungesalzene Schlagabtausch von offenem Brief samt Gegenbrief von Belegschaft, beziehungsweise internationalem Kulturbetrieb hat es ihm angetan: "Das Celebrity Death Match zwischen Theater- und Kunstbetrieb fühlt sich rhetorisch an wie ein Aufbäumen des IG-Metall-Gewerkschaftsbezirks Küste (...) gegen den Arbeitszeugnisstehsatz für Führungskräfte (...). Die Volksbühnen-Mitarbeiter lassen die originelle Rotzigkeit vermissen, mit der das Haus unter dem Bühnenbildner Bert Neumann in den Stadtraum gesprochen hat, und bei den Dercon-Supportern ist man bereit, jeden Respekt zu verlieren vor Namen wie Okwui Enwezor, Hans Ulrich Obrist oder Hortensia Völckers, wenn sie so nichtssagende Zeilen unterzeichnen. Die lahmen Texte deuten auf das kommunikative Nichts, das die Präsentation Dercons umgibt."

Schwenk nach Bayreuth, dem zweiten aktuellen Bühnenaufreger-Hotspot: Während die Oper nach einem künstlerischen Höhenflug in den sozialkritischen 70ern in den letzten Jahren zusehends die Funktion eines kulinarischen Vergnügens für den tendenziell konservativen Zeitgeist einnahm, hat Katharina Wagner in Bayreuth auffallend auf radikale Regisseure gesetzt, erklärt Reinhard J. Brembeck in der SZ. Da sie für den anstehenden neuen "Parsifal" vor zwei Jahren Jonathan Meese abbeordert hat und ihr nun der Dirigent Andris Nelsons davongelaufen ist, stehe sie nun "vor dem Scherbenhaufen ihrer Politik. ... Die Nachfolger der beiden garantieren zwar eine solide 'Parsifal'-Aufführung, es wird aber wohl nicht zu dem von Katharina Wagner favorisierten Mix aus musikalischem Geniestreich und szenischem Spektakel reichen. Ist sie deshalb als Intendantin gescheitert? Oder war das alles nur ein ganz besonderes Pech?"

Weiteres: Im Freitag resümiert Magalena Müssig die Theaterabendserie "Kosmos²" der Aktivistin Grada Kilomba am Berliner Maxim-Gorki-Theater.
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Literatur

Die Autorin Katharina Laszlo erzählt in der FAZ (nachträglich online gestellt) von einer Lesetour mit hundert Autoren durch Europa. Tagsüber fährt man durch Slowenien, abends erzählt man sich Geschichten zum Beispiel über Österreich: "Viele Einheimische kennen den Weg gut, fahren regelmäßig ins Nachbarland, um für Geld Blut zu spenden. Ungefähr 25.000 Menschen aus der Untersteiermark und den umliegenden Grenzregionen pendeln jeden Tag, sind jeden Tag die Fremden. Morgens im Berufsverkehr, hat ein Bekannter Kramberger erzählt, scheine es manchmal, als verlangsamten österreichische Wagen absichtlich, um Fahrer mit slowenischen Nummernschildern zu spät zur Arbeit kommen zu lassen. 'Aber leider verbünden sich Schwache und Schwache nur selten', sagt Kramberger."

Weiteres: Daniele Muscionico schickt der NZZ eine kleine Post aus der Creuse. Besprochen werden unter anderem Sandra Weihs' Debütroman "Das grenzenlose Und" (NZZ), Eoin McNamees "Blau ist die Nacht" (FR), Ann Cottens Versepos "Verbannt!" (online nachgereicht von der Zeit), Wolfgang Schlüters Neuübersetzung von Emily Brontës "Sturmhöhe" (FAZ) und Susanne Klingensteins "Wege mit Martin Walser" (SZ). Außerdem jetzt online: Thomas Wörtches aktueller "Leichenberg" mit Notizen zu aktuellen Krimis.

Mehr über Literatur im Netz auf Lit21, unserem fortlaufend aktualisierten Metablog zur literarischen Blogosphäre.
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Kunst



Viel Spaß hatte Stefan Otto, der für die NZZ eine Ausstellung über die britischen Aardman-Animationsstudios im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt besuchte: "Die originalen Kulissen aus den Filmen, bestückt mit den entsprechenden Requisiten und Figuren: Wallace' und Gromits Wohnzimmer, Küche, Erfinderkeller oder Garten, Tottington Hall, Charles Darwins Kajüte samt dem Dodo Polly, Vogelskeletten, ausgestopften Tieren und anderen naturkundlichen Präparaten aus 'The Pirates!' (2012) geben Einsichten, die sonst nicht möglich sind. Es offenbart sich eine Fülle an Details, die in den Filmen kaum zur Geltung kommen. Obwohl die Sets eigens für die Dreharbeiten und für nichts anderes gefertigt wurden, vermitteln sie im Museum den Eindruck, sie wären eine Realität, die von den Kameras, die bei Aardman auf sie gerichtet wurden, nur unzureichend eingefangen wurde."


Annette Messager, Les Approches, 1973. Fondation Louis Vuitton / Marc Domage © Adagp 2016

In der Münchner Dependance des Espace Luis Vuitton lässt sich derzeit die feministische Kunst von Chantal Akerman und Annette Messager wiederentdecken, freut sich Annegret Erhard in der taz. Messagers Aufnahmen der Schrittpartien von Geschäftsmännern sind programmatisch, meint Erhard: "Explizit sexualisiert und das Individuum, das Geschöpf völlig ausklammernd, erschließt sie mit dieser nüchternen Typologie eine unverschämt befreiende Variante der gesellschaftlich unterstellten und sanktionierten Geschlechterrollen. Wer sich so köstlich über angeblich den Männern vorbehaltene Verhaltensmuster samt den dazugehörigen Verklemmungen amüsieren kann, hat nachgedacht und viel gesehen."

Gerade im Überschuss an Akribie liegt der Reiz von Wolfgang Herrndorfs Bildern, die unter dem Titel "Zitate" im Literaturhaus München ausgestellt werden, schreibt Patrick Bahners in der FAZ: "Ins Beiläufige und Marginale, auch in den schlichten Gag und die billige Pointe steckte Herrndorf nach bürgerlichem, unkünstlerischem Kalkül viel zu viel Arbeit. Aber genau in dieser Übergenauigkeit und Selbstvergessenheit des Malers liegt das Erschütternde seiner Meisterschaft. Herrndorfs Doppelgänger ist Helmut Kohl, der auf dem Kalenderblatt, das Spitzwegs 'Ständchen' nachbildet, in rührender Weise alles richtig machen will und seinen massigen Körper vor dem ersten Geigenton in die vorgegebene romantische Schieflage bringt. So erzeugt die Machart der Bilder, eine Technik, die sich auf das Blitzende und Funkelnde versteht, die Stimmung: Valeurs des Schattendaseins."

Besprochen werden außerdem Annett Gröschners und Arwed Messmers Fotoband "Inventarisierung der Macht. Die Berliner Mauer aus anderer Sicht" (Freitag), eine Ausstellung über den Farbholzschnitt in Wien um 1900 in der Schirn in Frankfurt (FR), die Ausstellung "Unfinished" im Met Breuer in New York (NZZ), eine Exlibris-Ausstellung im Landesmuseum Kärnten (FAZ), die der Modefotografin Regina Relang gewidmete Ausstellung in der Ludwiggalerie im Schloss Oberhausen (FAZ) und die große Hieronymus-Bosch-Ausstellung im Prado in Madrid ("eine veritable Mega-Schau", staunt Rose-Maria Gropp in der FAZ).
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