Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.08.2002. Die weibliche Präadoleszenz ist das künstlerische Gebot der Stunde, meint die SZ. In der FAZ bekennt der zimbabwische Schriftsteller Chenjerai Hove seinen Unglauben an die Afrikanische Union. Die FR diskutiert über den gerechten Krieg. die NZZ über Locarno und die taz über International Pony. Und alle lieben Patti Smith.

SZ, 12.08.2002

In der Serie über das amerikanische Imperium erklärt diesmal Immanuel Wallerstein (mehr hier)alle Hegemonie-Träume für Humbug und George W. Bush zum geopolitischen Versager: "Er hat sich von einer Clique Falken in eine Situation drängen lassen, die ihn praktisch nötigt, in den Irak einzumarschieren: eine Situation, aus der er sich wohl nicht mehr befreien kann; eine Situation, die nur negative Folgen für die Vereinigten Staaten von Amerika haben wird - und für den Rest der Welt. Auch ihm wird bald aufgehen, dass er sich damit schwer geschadet, vielleicht sogar politisch tödlich verwundet hat. Alles in allem könnte er es sein, der dafür sorgt, dass die ohnehin schwindende Macht der Vereinigten Staaten in der Welt noch schneller schwindet."

Mädchen, wohin man blickt: Magdalena Kröner hält die Präadoleszenz für die Mode der Stunde: Die 'Grrrls', wie sie sich selbst gleichsam zähnefletschend schon in den neunziger Jahren nannten, tauchen immer häufiger in der Malerei auf: Junge Künstlerinnen entwerfen Gegenwelten zum Mainstream der neuen, meist männlichen Realisten, die seit einigen Jahren die Leinwände wieder mit Bildern füllen, die von der Abstraktion weit entfernt sind, vielmehr erkennbar unseren Lebenswelten ähneln. Die Liste der Künstlerinnen mit pubertären Sujets ist lang: Rita Ackermann, Nicky Hoberman, Karen Kilimnik, Elizabeth Peyton, Bettina Sellmann, Katharina Wulffen. Und das sind nur einige."

Martin Z. Schröder sorgt sich um die Zukunft der Demokratie, vor allem aber über den Umstand, dass allein die Grünen noch monarchiefähig sind (der Adel schreibt ja nur noch Bücher über gute Manieren).

Christine Dössel bereitet auf die erste Ruhrtriennale unter dem Titel: "Deutschland, deine Lieder" vor.

Fritz Göttler freut sich über Balsam für die wunde deutsche Kinoseele und über den Goldenen Leoparden, mit dem der deutsche Film "Das Verlangen" auf dem Filmfestival von Locarno ausgezeichnet wurde. Helmut Schödel betrachtet die Welt der Festspieljunkies. Christoph Bartmann berichtet von der Aufregung um Stefan Bachmanns "Hamlet"-Inszenierung in Kopenhagen, der die Rolle der Ophelia mit einer am Down-Syndrom leidenden Laiin besetzen wollte. "agrb" berichtet von der Angst der Unesco vor einer Zerstörung der Altstadt von Lhasa.

Auf der Medienseite sieht Ralf Klassen T-Online mit der beabsichtigten Vermischung von Redaktion und Werbung neue Maßstäbe nach unten setzen.

Besprochen
werden Tom Stoppards Revolutionärs-Trilogie "The Coast of Utopia" im Londoner National Theatre, Salzburger Abende mit Robert Gernhardt und Jacques Offenbach, Christine Lahtis Film "My First Mister", die Ausstellung des Ulmer Kunstvereins "Artists? Games - Public?s Games" über das Spiel in der Kunst.

Und Bücher: Susanne Heims Untersuchung über die Agrarforschung im Nationalsozialismus "Autarkie und Ostexpansion", ein Sammelband zur Denunziation im 18. und 19. Jahrhunderts "Der Staatsbürger als Spitzel", sowie zwei Studien zu Helfern im Dritten Reich: Barbara Lovenheims "Überleben im Verborgenen" und Wolfram Wettes "Retter in Uniform".

Und hier noch ein Blick auf die Hauptstadtberichterstattung der SZ.

TAZ, 12.08.2002

Jenny Zylka stellt das Soul-Trio International Pony, vor, das gerade dabei sei, sich in die Herzen sämtlicher Kritiker zu galoppieren: "International Pony wohnt in Hamburg. In einem schmalen Haus irgendwo hinterm Bahnhof, überall Säufer, billige Pizzerien und Rückseiten von schnieken Prunkfassaden. International Pony hat zwei Wohnungen: oben wohnt Cozmic DJ, ein Stockwerk tiefer wohnen DJ Koze und Erobique, irgendwo im Nachbarhaus ist das Studio. Eine Art Selbstfindungs-Männer-WG, nur dass hier nicht nach Beziehungskisten-Reparatursets gesucht wird. Sondern nach dem richtigen Sound. Dem mit dem richtigen Groove und der richtigen Portion Soul. Soul ist ein wichtiges Wort bei International Pony, und es ist auch wichtig, dass es Soul heißt und nur manchmal Seele. Auf 'We Love Music' (Columbia/Sony), der ersten Platte der drei, machen deutsche Seelen internationalen Soul."

Harald Fricke meint, dass es Patti Smith in ihrem Berliner Konzert durchaus gelang, "das Gestern als fort-währenden Tigersprung ins Hier und Jetzt zu verlängern", und in der Serie "das personal der wahl" beschäftigt sich Daniel Bax mit Jürgen Trittin und seinem Kampf gegen Kai Diekmann.

Und Tom.

NZZ, 12.08.2002

Locarno, Locarno und ein Ende: Der goldene Leopard der internationalen Filmfestspiele ging überraschend an den deutschen Beitrag "Das Verlangen", berichtet eine verdutzte sda-Meldung. Das Publikum war offensichtlich ebenso überrumpelt: "Die Bekanntgabe des Hauptpreises durch die Jury, der laut Jurypräsident Cedomir Kolar als einziger Preis nicht einstimmig zustande gekommen ist, wurde ausgebuht." Alexandra Stäheli fand das Programm trotz des schlechten Wetters überzeugend, wie wir ihrem Abschlussbericht entnehmen. Und Martin Walder hat mit dem irakischen Regisseur Samir über dessen neuen Film "Forget Baghdad" gesprochen.

Von der Recherche in Kuba meldet sich ein gutgelaunter Alfred Herzka und schickt einen stimmungsvollen Artikel über "Kubas weiße Hochburg" Holguin, wo in einer dunklen Seitengasse eine pensionierte Musiklehrerin ein illegales privates Restaurant betreibt. "Mit einer ausgedehnten Begrüßungszeremonie schützt sich Doña Esmeralda vor Denunzianten. Wenn alle Zweifel ausgeräumt sind, wird der Kunde in den Salon gebeten. Dort stapeln sich die literarischen Werke, die in Kuba in den letzten Jahren erschienen sind."

Weiteres: Ausführliche Gedanken macht sich Rolf Urs Ringger über den ersten Höhepunkt des Festivals in Lucerne, die Uraufführung der Sinfonie Nr. 10 von Hans Werner Henze. Das erste Mal seit 230 Jahren wurde jetzt in Mexico die Oper "Moctezuma" des italienischen Komponisten Giovanni Paisiello (mehr hier und hier) gezeigt, weiß sda. Und Paul Jandl sinniert über das untergegangene Waldviertel in Niederösterreich. In dem einzigen heute vorgestellten Buch geht es um "die posthumanistische klassische Archälogie" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 12.08.2002

Harry Nutt befasst sich mit der Debatte über den gerechten Krieg zwischen amerikanischen Intellektuellen (Samuel Huntington, Francis Fukuyama, Amitai Etzioni, Michael Walzer) und ihren deutschen Kollegen (Hans-Peter Dürr, Franz Alt, Carl Amery, Christoph Hein, Tilman Spengler und Walter Jens). Denn die Damen und Herren vom Institut für amerikanischen Werte haben ihren Kritikern mit einem ziemlich gemeinen Schreiben geantwortet: "Wo im Februar noch Argumentierlust und Bekenntnisfreude in eigener Sache walteten, ist nun ein milder Spott nicht zu überlesen. Was als öffentliche Eingangsbestätigung des Schreibens der deutschen Absender daher kommt, läuft am Ende auf die hermeneutische Spitzfindigkeit hinaus, die deutschen Intellektuellen als Anhänger der Theorie des gerechten Krieges auszudeuten, gegen die sie doch mit Verve angetreten waren." Nutt ist zu vornehm zu erwähnen, dass man die Replik der amerikanischen Intellektuellen in der SZ vom Samstag nachlesen kann.

Matthias Dell war mit einem sehr lockeren Kanzler beim Plattenkonzern Universal.

Besprochen
werden: die Aufführung von Puccinis "Turandot" mit einem neuen Finale von Luciano Berio in Salzburg und Bücher: etwa eine Einführung ins Thema "Asyl" oder zwei Bände, die sich mit illegaler Migration in der deutschen und französischen Diskussion beschäftigen.

FAZ, 12.08.2002

Wenn er sich die afrikanischen Staatschefs so ansieht, kann der zimbabwische Schriftsteller Chenjerai Hove (mehr hier) an die neugegründete afrikanische Union nicht glauben: "Angesichts der unmoralischen Verhältnisse im eigenen Kontinent ist kaum vorstellbar, daß afrikanische Politiker auf internationaler Ebene plötzlich einen neuen Moralbegriff entwickeln. Solange sie die Verfassung des eigenen Staats nicht respektieren, werden sie auch internationale Verpflichtungen und Vereinbarungen nicht ernst nehmen. Im allgemeinen begegnen afrikanische Politiker den Problemen im eigenen Land nicht mit sonderlich großer Toleranz. Mir ist nicht klar, wie sie auf die Konflikte in einer internationalen Organisation, die auf Meinungsunterschieden und nicht auf Uniformität beruht, mit einer neuen Toleranz reagieren wollen. Solange Afrika keine Politiker hat, die sich einer neuen Vision von Afrika verpflichtet fühlen und den politischen Willen haben, diese Vision zu verwirklichen, wird die Afrikanische Union ein leerer, sinnloser Traum bleiben."

Weitere Artikel: Rose-Maria Gropp porträtiert Patti Smith. Michael Gassmann schreibt zum Tod des Komponisten Berthold Hummel. Mark Siemons resümiert die Documenta, die nicht die "Kenntnis der Welt, sondern bloß das Kunstsystem" verändert habe. Eberhard Rathgeb war "im Milieu", als Otto Schily ein Buch des türkischen Touristikunternehmers Vural Öger vorstellte. Oliver Jungen hat den Internationalen Wolfenbütteler Sommerkursus besucht. Klaus Englert stellt die neuen Klinkerbauten von Diener & Diener am Amsterdamer Hafen vor. Dieter Bartetzko gratuliert Peter Eisenmann zum Siebzigsten. Und auf der letzten Seite porträtiert Eberhard Rathgeb den Prinzen Heinrich (Bruder Friedrich II.), dem gerade eine Ausstellung in Schloss Rheinsberg gewidmet ist.

Besprochen werden ein "Fliegender Holländer" in der Inszenierung von Werner Herzog in Erfurt, eine Ausstellung des Malers Lasar Segall im Museum für lateinamerikanische Kunst in Buenos Aires, Gil Jungers Filmkomödie "Ritter Jamal" und Bücher, darunter Christoph Maria Merkis Geschichte des Automobils und Jonathan Cullers "Literaturtheorie" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).