Heute in den Feuilletons

Amerikas letzte Ritterin

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.03.2011. Alle sind sehr traurig: Elizabeth Taylor ist tot. Alle sind sehr zufrieden: Google darf das Weltwissen nicht ins Netz stellen. Außerdem: Der Freitag verweist auf eine Selbstrechtfertigung Hartmut von Hentigs in Akzente: Ihm sei es ergangen wie Jesus und Sokrates. Die NZZ erklärt, warum man in Hochhäusern vor Erdbeben sicherer ist als anderswo. In der Welt möchte Julia Kristeva den Arabern mit Philosophie helfen. In der Zeit erklärt Richard Sennett die Kluft zwischen Wissen und Macht.

NZZ, 24.03.2011

Der Zürcher Bauingenieur Hugo Bachmann räumt mit dem Irrglauben auf, Hochhäuser seien bei Erdbeben besonders gefährdet: "Höhere Bauten sind meist auch flexibler als niedrigere Bauten, so dass ihre Verformungen zwar grösser, aber die auftretenden Kräfte wesentlich geringer sind. Entsprechend kleiner ist die Gefahr von Schäden und Einstürzen. Hochhäuser schwanken einfach hin und her, aber es passiert weiter nichts Schlimmes. Beim Erdbeben von Mexiko 1985 sind praktisch keine Hochhäuser mit mehr als etwa zwölf bis vierzehn Stockwerken eingestürzt."

Weiteres: Marlie Feldvoss verabschiedet die unvergleichliche Elizabeth Taylor: "Anders als Rita Hayworth oder Marilyn Monroe war sie nie ein Opfer des Starsystems, sondern dessen robuste Strategin, die achtzehn Jahre Vertragszeit bei MGM zu meistern verstand." Daniela Kuhn versammelt verschiedene Stimmen aus Israel, die von der Skepsis zeugen, mit der viele Israelis die Umwälzungen in den arabischen Staaten verfolgen.

Besprochen werden auf der Kinoseite Susanne Biers Film "In A Better World" und Debra Graniks Film "Winter's Bone" sowie Christian Uetz' Roman "Nur Du, und nur Ich" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Freitag, 24.03.2011

Hartmut von Hentig verteidigt sich gegen Vorwürfe im Zusammenhang mit dem Skandal um seinen Lebensgefährten Gerold Becker, der an der Odenwaldschule eine Art pädophiles System eingerichtet hatte. Aber er verteidigt sich an entlegener Stelle, im neuen Heft der Literaturzeitschrift Akzente. Der Text lohnt die Auseinandersetzung, meint Michael Buselmeier, und referiert: "Nicht ohne Selbstgerechtigkeit stilisiert er sich zum Opfer einer Kampagne, zum tragischen Schmerzensmann, ja er vergleicht seine Situation mit der von Geschichtsheroen wie Jesus und Sokrates, die auch zu Unrecht beschuldigt und verurteilt wurden." Für die eigentlichen Opfer der Pädophilen, so Buselmeier, hat der große Pädagoge kein Wort übrig.

Jungle World, 24.03.2011

Besteht die Gefahr, dass die Islamisten von den arabischen Umbrüchen profitieren? Hannah Wettig ist in der Jungle World eher optimistisch: "Überall bietet sich das gleiche Bild: Wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen rennen die Islamisten den Ereignissen hinterher. Sie mögen kurzfristig die Mittel haben, Wahlen zu gewinnen. Aber sie werden lange brauchen, um sich zu funktionierenden und dauerhaft attraktiven Parteien zu entwickeln - Zeit genug also für die jungen Aktivisten, sich in der Opposition eine Struktur zu geben."
Stichwörter: Wahlen, Umbruch

Welt, 24.03.2011

Unabhängig von der Frage, ob die Konsequenzen der Entscheidung zum Google Book Settlement schon verstanden sind, muss Google jetzt erstmal den Spott der Altvorderen einstecken. Wieland Freund kommentiert zum vorgestern bekanntgegebenen Urteil: "Jetzt jedoch scheint der Vorsprung aus den Wildwest-Tagen des Internet geschmolzen. Ausgerechnet Googles 'Scan Gang' - der Versuch, eine virtuelle Weltbibliothek zu errichten, bevor jemand 'Welterbe' oder 'Urheberrecht' sagt - steht vor dem Aus."

Zu den Angeboten, die der Westen den revoltierenden Arabern machen kann, gehört auch die Philosophie, meint Julia Kristeva in einem Gespräch mit Annette Prosinger: "Sonst würde man die Entwicklung bloß Oberflächlichem überlassen: den Kommunikationsmitteln, der Werbung, dieser ganzen Hyperkonnektion. Wenn wir es nicht schaffen, in dieser geistigen Leere Strukturen aufzubauen, dann kehrt dort der islamische Fundamentalismus ein. Denn die Fundamentalisten sind die einzigen, die nach den schweren Umwälzungen noch eine Struktur aufweisen." Womit bewiesen wäre, dass auch die Postmoderne im Kulturkonservatismus landet!

Weitere Artikel: Uwe Schmitt (hier) und Peter Zander (hier) schreiben Nachrufe auf die große Elizabeth Taylor. Alan Posener gibt der "German Angst" vor der Atomkraft recht.

Besprochen wird Francois Ozons Komödie "Das Schmuckstück" mit Catherine Deneuve (mehr hier).

Weitere Medien, 24.03.2011

Ekkehard Knörer auf Facebook merkt an: "Der Verfasser des NYT-Nachrufs auf Liz Taylor liegt selbst schon seit 6 Jahren unter der Erde." Einige Jahre vor Taylors Tod schrieb Mel Gussow also: "Ms. Taylor's popularity endured throughout her life, but critics were sometimes reserved in their praise of her acting."

Am 9. März fand in Kairo eine Demonstration von Frauenrechtlerinnen statt. Sie wurden von einem Mob wütender Männer aufgehalten und belästigt, berichtete Richard Leiby in der Washington Post: "As upwards of 300 marchers assembled late Tuesday afternoon, men began taunting them, insisting that a woman could never be president and objecting to women's demands to have a role in drafting a new constitution, witnesses said. 'People were saying that women were dividing the revolution and should be happy with the rights they have,' said Ebony Coletu, 36, an American who teaches at American University in Cairo and attended the march, as she put it, 'in solidarity.'" Doch es ging noch weiter, meldete gestern Irin Carmon bei Jezebel: Die Demonstration wurde von Armeekräften aufgelöst und mindestens achtzehn Frauen verhaftet und laut Amnesty International einem "Jungfräulichkeitstest" unterzogen: "Amnesty International is condemning the treatment of at least 18 women protesters, who as late as March 9 - a month after Mubarak stepped down - were beaten, tortured, and strip-searched. They were also examined for their 'virginity' and told that if they didn't 'pass,' they'd be charged as prostitutes."

TAZ, 24.03.2011

Christian Semler erklärt die komplizierten Gründe für die Geheimhaltungspraxis von Geheimdiensten und weshalb die Historikerkommission nach dem Enthüllungserfolg des Buches "Das Amt" nun doch Aktensichtung beim BND aufnehmen konnte. "Es ist absehbar, dass es ... zu Auseinandersetzungen kommen wird, die allerdings jenseits der Öffentlichkeit ausgetragen werden."

Weiteres: Jenni Zylka porträtiert den Sänger und Gitarristen Kid Congo und würdigt im Nachruf Elizabeth Taylor als "Amerikas letzte Ritterin", und zwar eine aus Leidenschaft. Als "Bauchlandung" für Google begrüßt MLA das Urteil eines US-Richters gegen das Onlinebibliothek-Bibliothekprojekt des Netzriesen. Toni Keppler kommentiert Barack Obamas Auftritte in Chile und El Salvador, wo er es versäumte habe, sich für die Rolle Amerikas in der jüngeren Geschichte beider Länder zu entschuldigen.

Besprochen werden die Komödie "Das Schmuckstück" von Francois Ozon, die DVD von Lilo Mangelsdorfs Film "Damen und Herren ab 65" und eine Neuauflage von Heinrich Hausers Fotoreportage "Schwarzes Revier" aus dem Jahr 1929.

Und Tom.

FR, 24.03.2011

Auf der Medienseite informiert Sebastian Moll über das Google Book Settlement, das der Bundesrichter Danny Chin (der schon Bernie Madoff zu 150 Jahren Gefängnis verurteilte) nun zu Fall gebracht hat. Nicht gepasst habe ihm Googles Umgang mit verwaisten Büchern: "Genauer gesagt: Aus der derzeitigen 'Opt-Out'-Klausel müsse eine 'Opt-In'-Klausel werden. Statt dass Autoren und Verlage explizit aus dem kollektiven Vertrag austreten müssen, sollen sie vorher gefragt werden, ob sie daran teilnehmen wollen. In diesem Fall könne sich Chin vorstellen, doch grünes Licht für die Google-Weltbibliothek zu geben. Experten glauben jedoch, dass mit einer 'Opt-In' Klausel das Abkommen nicht das Papier wert sei, auf dem es steht." (In der NYT kommentiert Robert Darnton das Urteil.)

Weiteres: In einem Interview, das gestern schon in der Berliner Zeitung erschien, erklärt der Schriftsteller Peter Schneider, warum er die Intervention in Libyen befürwortet. Ulrich Herrmann gratuliert dem Theater Freiburg zum hundertjährigen bestehen.

Besprochen werden eine Retrospektive auf Heinz Mack in der Bonner Kunsthalle, Francois Ozons Komödie "Das Schmuckstück" (der Katja Lüthge "hohen Schauwert" attestiert), Herta Müllers Essays und Reden "Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 24.03.2011

Verena Lueken verabschiedet sich von Hollywoods großer Diva Elizabeth Taylor: "Sie überzeugte als naive Kindfrau, temperamentvolle Südstaaten-Schönheit oder hysterische Schlampe, sie hatte Kunstverstand und konnte unglaublich vulgär sein. Sie war ein Star wie keine andere - denn sie verkörperte keinen bestimmten Typ, weder im Leben noch in ihren Filmen, sondern immer nur den Luxus, den der Starkult garantiert: die Freiheit, sich die drastischsten Widersprüche leisten zu können."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube referiert die wesentlichen Punkte des Google-Books-Urteils und kommentiert knapp: "Richter Chin hat das Rechtsgefühl bestätigt, wonach schweigen nicht immer zustimmen ist. Wer etwas haben will, soll vorstellig werden." Die Fotografiesammlung von Uta und Wilfried Wiegand wird ab dem kommenden Winter im dafür umkonzipierten Frankfurter Städel zu sehen sein: Freddy Langer erklärt die Hintergründe. In Prag hat Alena Wagnerova Franz Kafkas 1921 geborene Nichte Vera Saudkova besucht, die sich noch an Onkel Frantisek erinnern kann. Julia Voss hat keine wirklichen Neuigkeiten zur Frage, ob sich die Bonner Bundeskunsthalle tatsächlich von der Gegenwartskunst abwenden will. Christian Geyer glossiert den Diebstahl von Hans-Dietrich Genschers Füller. Einen haarigen Auftritt bei der lit.cologne hat Andreas Rossmann erlebt. Zum Tod des Kirchenarchitekten Alexander von Branca schreibt Dieter Bartetzko. Auf der Kinoseite würdigt Stefan Grissemann die Regisseurin Dorothy Arzner, der gerade eine große Retrospektive im Wiener Filmmuseum gewidmet ist. An die vor hundert Jahren begonnene Ära des Monumentalfilms erinnert aus Anlass einer Berliner Tagung zum Thema Andreas Kilb. 

Besprochen werden ein Klavierabend mit Murray Perahia in Berlin, Stefan Rottkamps Stuttgarter Inszenierung von Ernst Barlachs "Blauem Boll", das neue R.E.M.-Album "Collapse Into Now" und Bücher, darunter Katharina Borns Romandebüt "Schlechte Gesellschaft" und Kathrin Peters' Studie "Rätselbilder des Geschlechts" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 24.03.2011

Nun da Elizabeth Taylor endgültig "Im Himmel" (Artikelüberschrift) ist, fühlt sich Tobias Kniebe auf Erden ganz schön allein: "Es gibt nun keine mehr von ihrer Leuchtkraft und Legende. Sie war die Letzte ihrer Art."

Weitere Artikel: Jörg Häntzschel informiert (sehr zufrieden) über das Scheitern des "Google Book Settlement" und weiß nicht genau, wie es weitergeht: "Mit noch ein paar Konzessionen wird es für Google aber nicht getan sein. Womöglich ist erst eine internationale Debatte über das Urheberrecht im digitalen Zeitalter fällig." Als Menetekel begreift Tobias Kniebe den US-Flop des animierten Disney-3D-Films "Mars Needs Moms" (Trailer). Vom Berliner Avantgardefestival Maerzmusik (Website) berichtet Wolfgang Schreiber. Gottfried Knapp schreibt zum Tod des Architekten Alexander von Branca.

Besprochen werden ein "Kaufmann von Venedig" und ein interpassiver neuer Pollesch in Freiburg, die Jubiläumsausstellung mit den Bildern der Sammlung Wagener in der Berliner Alten Nationalgalerie, die Ausstellung "Afghanistan: Crossroads of the Ancient World" im British Museum, die Ausstellung "Heinz Mack: Licht - Raum - Farbe" in der Bonner Bundeskunsthalle, Francois Ozons Boulevardkomödie mit Politik und Catherine Deneuve "Das Schmuckstück", Christian E. Christiansens Thriller "The Roommate", die animierte Shakespeare-Variante "Gnomeo und Julia" und Bücher, darunter Orhan Pamuks Romanerstling "Cevdet und seine Söhne" und Dipesh Chakrabartys Studie zur postkolonialen Aneignung europäischen Denkens "Europa als Provinz" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 24.03.2011

Der amerikanische Soziologe Richard Sennett wird zur Eröffnung der Veranstaltungsreihe "Bodybits" im Haus der Kulturen einen faszinierenden Vortrag über moderne Kommunikationsmittel halten: Am Beispiel von Google Wave erklärt er, warum diese oft nicht den komplexen Anforderungen der Kommunikation genügen. Ein zweites Problem ist die immer größere Kluft zwischen Programmierern und jenen, die deren Programme nutzen, etwa die Banker, die keine Ahnung haben, welche Algorithmen Finanzinstrumenten wie Kreditderivate zugrunde liegen. "Eine Umfrage des Chartered Management Institute of Great Britain ergab, dass genau die Hälfte der Befragten der Meinung war, sie könnte die Arbeit ihres Vorgesetzten besser erledigen als diese selbst. Für einen Soziologen bringen diese Zahlen das Problem der Ungleichheit auf den Punkt: Die Leute oben verdienen mehr Geld und haben mehr Macht als die unten, obwohl sie oft weniger Kompetenzen mitbringen. In den Bereichen des Burckhardtschen Paradoxons müsste man sagen, dass die technischen Kapazitäten der Finanzbranche weit größer sind als ihre Fähigkeit, diese effektiv zu nutzen."

Weitere Artikel: Der Autor Andreas Maier stellt angesichts der fortschreitenden Technik fest: "Ich möchte nicht, dass es das gibt." Matthias Nass erklärt, wie exotisch unser Blick auf Japan ist. Die Japanologin Gesine Foljanty-Jost erklärt im Interview die kulturellen Unterschiede zwischen Japanern und Deutschen. Der Autor Adolf Muschg denkt über die fünfzig Feuerwehrleute nach, die unter Einsatz ihres Lebens versucht haben, in Fukushima das schlimmste zu verhindern.

Besprochen werden die Ausstellung "Leonardo des Nordens - Joos van Cleve" im Suermondt-Ludwig-Museum in Aachen und Bücher, darunter Hubert Manias Geschichte der Atombombe "Kettenreaktion" und die Short Stories von Tobias Wolff, denen Clemens Setz eine Besprechung widmet (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).