Magazinrundschau

Konzertierter Rufmord

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
05.08.2008. Im Merkur geißelt Michael Stolleis den miesen Umgang von taz, FAZ und SZ mit Horst Dreier. The New Republic graust sich vor der Europäisierung amerikanischer Städte. In der Gazeta Wyborcza vermissen die Theaterregisseure Monika Strzepka und Pawel Demirski die Gleichheit im Neoliberalismus. In Le Monde denkt Slavoj Zizek über Karadzic und den poeto-militärischen Komplex nach. Prospect entdeckt den Charakter. Die New York Times besucht Trolle.

Merkur (Deutschland), 01.08.2008

Michael Stolleis rekapituliert die Affäre um den liberalen Staatsrechtler Horst Dreier, der eigentlich Verfassungsrichter werden sollte, nach Vorwürfen aber, er verteidige die Folter, chancenlos wurde. Besonders hervorgetan haben sich hierbei Christian Rath in der taz (am 27.01.08), Heribert Prantl und Andreas Zielcke in der SZ sowie Christian Geyer und Patrick Bahners in der FAZ ("Foltern aus Höflichkeit"). Stolleis nennt dies "konzertierten Rufmord", denn Dreier habe nie das Folterverbot relativiert. Im Hintergrund ging es um ganz was anderes: "Der Fundamentalkatholik Christian Geyer gab schon am 18. Januar 2008 in der FAZ hierfür den Ton vor: Mit Kardinal Lehmann verabschiede sich der Verteidiger der Partnerschaft von Kirche und Staat, während mit Dreier einer komme, der 'in schönster Tradition des Bischof-Huber-Christentums' (!) die religiösen Wurzeln unserer Rechtskultur lobe, aber in Wahrheit Laizist sei. Wenn Dreier in das Bundesverfassungsgericht gelange, werde die Menschenwürde als Bollwerk gegen Folter und Abtreibung entwertet. 'Die Lobbyisten aus Politik und Forschung könnten auf Dreiers Steckenpferd in Karlsruhe den Durchmarsch wagen'. Das war ein klarer Warnruf in Richtung Stammzelldebatte. Nun erst öffneten sich die Augen des rechten Flügels der CDU-Fraktion." Dass die "linksliberalen Hilfstruppen" dies publizistisch unterstützten, lag laut Stolleis wohl an einem "eingeübten Beißreflex ..., der durch das Stichwort 'Folter' ausgelöst wird".

(Die Artikel aus SZ und FAZ sind nicht mehr online, aber einer aus der Zeit, in dem Robert Leicht nachzeichnet, was Dreier tatsächlich von der Folter hält. Im Interview mit der Welt erklärt Dreier das auch selbst.)

Außerdem im Merkur: Aus der Policy Review wird ein Essay von Lee Harris aus dem Jahr 2002 über den 11. September als "Realinszenierung einer Phantasievorstellung" übernommen.
Archiv: Merkur

New Republic (USA), 13.08.2008

Sozusagen unbemerkt von der Öffentlichkeit ist Chicago in den vergangenen Jahren geradezu europäisch geworden, beobachtet Alan Ehrenhalt mit Entsetzen: "In den vergangenen drei Jahrzehnten haben sich in Chicago Veränderungen zugetragen, die üblicherweise als Gentrifizierung bezeichnet werden, aber tatsächlich sind sie komplizierter und grundlegender. Eine bessere Beschreibung wäre demografische Inversion. Chicago ähnelt mehr und mehr einer traditionellen europäischen Stadt - Wien oder Paris im 19. Jahrhundert, oder noch eher dem Paris von heute. Die Armen und Zugezogenen leben in den Vororten. In der Nähe des Zentrums leben wenige Schwarz oder Hispanics, zumeist Weiße - solche, die es sich leisten können."

James Kirchick stellt die "Advokaten des Teufels" vor, Lobbyisten, die in Washington für Afrikas Despoten arbeiten. Der frühere Vorsitzende des Black Caucus im Kongress, Mervyn Dymally, etwa vertrat für kurze Zeit das sklavenhalterische Mauretanien. Der berüchtigste von ihnen war Edward von Kloberg III ("Shame is for sissies"!), der für Saddam Hussein und Nicolae Ceausescu arbeitete und sich sogar vom Satiremagazine Spy ködern ließ, das angebliche deutsche Neonazis zu ihm schickte, denen er bei der Besatzung Polens helfen sollte.
Archiv: New Republic

Rue89 (Frankreich), 02.08.2008

Nach Jahrhunderten eines erbarmungslosen Zentralisierungsprozesses mit Prügelstrafen für kleine Bretonen, die nicht französisch sprechen wollen, hat Frankreich die Regionalsprachen als "nationales Erbe" unter den Schutz der Verfassung gestellt. Elisabeth Cestor unterstützt diese Entscheidung zwar, aber sie blickt auch mit Grauen auf den Nachbarn Spanien: "Während in Frankreich die Diskussion um Integration und offizielle Anerkennung der Regionalsprachen im Gange ist, hat die spanische Regierung einen Prozess gegen die katalanische Regierung gewonnen, wonach an den katalanischen Grund- und Hauptschulen drei statt zwei Wochenstunden auf Spanisch verbindlich werden, weil der Unterricht nicht ausschließlich auf Katalanisch stattfinden solle."
Archiv: Rue89
Stichwörter: Integration, Rue89

Vanity Fair (USA), 01.09.2008

Der Journalist und Autor Peter Godwin schickt eine Reportage aus dem Simbabwe Robert Mugabes, in dem nach der Liquidierung der Opposition ein Politbüro-Mitglied wie General Solomon Mujuru heute als moderat gilt: "Vor 25 Jahren, nicht lange nach dem Befreiungskrieg, hielt mir der General eine Pistole an mein Herz und drohte mich zu töten. Die Waffe war eine Tokarew mit Perlmutt-Griff. Seltsam, an welche Details man sich erinnert. Der General hatte in dem Moment schon einige Flaschen Johnnie Walker intus, aber sein Griff war ruhig. Das war 1984, während der Massaker im Matabeleland, als Mugabe seine gefürchtete, in Nordkorea trainierte Fünfte Brigade losließ, um die Opposition in dieser südlichen Provinz zu zerschmettern. Ich hatte für eine britische Zeitung über das Massaker geschrieben, was den General dazu veranlasste, seine Waffe zu ziehen, als sich unsere Wege kreuzten." Godwin hatte damals als Journalist das Massaker mit aufgedeckt, seine Erinnerungen sind unter dem Titel "When a Crocodile Eats the Sun" erschienen.
Archiv: Vanity Fair

Gazeta Wyborcza (Polen), 02.08.2008

Auf der Suche nach der verlorenen Linken in Polen (mehr dazu hier) spricht Joanna Derkaczew mit den jungen Theaterregisseuren Monika Strzepka und Pawel Demirski. Die beiden zeigen sich wenig begeistert von den Realitäten ihrer Generation: "Mein Vater, ein Intellektueller, gründete nach 1989 eine Firma, aus der dann nichts wurde. Er verstand es nicht: Ich habe doch alles so gemacht, wie man mir gesagt hat. Das macht auch ein Großteil unserer Altersgenossen - sie tun, was man tun sollte: Schulungen, Kurse, Praktika. Und wenn sie nach ein paar Jahren feststellen, dass sich nichts ändert, geraten sie in Panik. Denn sie werden in dem illusionären Glauben gehalten, dass sie sich nur noch ein bisschen mehr anstrengen müssen, dann klappt es. Aber selbst wenn alle gleich begabt wären, und sich gleich anstrengen würden, es reicht nicht für alle. Das ist eine der größten Fallen des Neoliberalismus", konstatiert Demirski.

Anna Bikont lobt Joanna Wiszniewicz' Buch über die "März-Emigranten" - polnische Juden, die nach der antisemitischen Kampagne 1968 Polen verlassen mussten (mehr zum Hintergrund hier). Viele sind in ihrer neuen Heimat nie richtig angekommen, und hadern mit ihrer polnisch-jüdischen Identität. "Wiszniewicz kommentiert nichts, versucht nicht zu verallgemeinern. Sie gibt ihren Helden das Wort. Es ist ein exzellentes Stück 'oral history' - erzählte Geschichte, die von vielen Historikern in Polen immer noch misstrauisch beäugt wird, da sie Dokumenten - u.a. des kommunistischen Geheimdienstes - mehr glauben als dem gesprochenen Wort. Das Buch ist außerdem einfach exzellente Literatur."
Archiv: Gazeta Wyborcza

New York Review of Books (USA), 14.08.2008

Orville Schell erläutert in einem ausführlichen, erst jetzt online gestellten Essay, warum China mit einer solchen Besessenheit immer wieder an erlittene Demütigungen erinnert und seinen Opferstatus zelebriert, aber dank Olympia endlich wieder wer ist: "Nach eineinhalb Jahrhunderten des Hungers, des Krieges, der Schwäche, ausländischer Besatzung und revolutionären Extremismus, betrachtet eine wachsende Zahl von Chinesen - innerhalb und außerhalb des Landes - die Olympischen Spiele als den langerwarteten symbolischen Moment, in dem ihr Land endlich den alten Stereotypen entkommt, der unglückselige 'arme Mann Asiens' zu sein, ein ausgebeuteter 'hilfloser Gigant', Opfer einer fehlgeleiteten Kulturrevolution, das umnachtete Land, in dem 1989 die Volksbefreiungsarmee auf das Volk schoss. In einem einzigen symbolischen Streich versprach Olympia dem Land, mit der wüsten Geschichte aufzuräumen, das Erbe der Unterwerfung und Demütigung abzuschütteln und die Weltbühne wiedergeboren zu betreten - als die große Nation, die es einst war."

Le Monde (Frankreich), 01.08.2008

Unter der Überschrift "Karadzic und der poeto-militärische Komplex" mahnt der slowenische Philosoph Slavoj Zizek, in dem ausgebildeten Psychiater nicht nur den schonungslosen Politiker und Militärmann zu sehen, sondern auch den anderen Aspekt seiner Persönlichkeit zu berücksichtigen und ernst zu nehmen: den des Lyrikers beziehungsweise Literaten. Denn eine aufmerksame Lektüre, so Zizek, könne uns helfen, das "Funktionieren ethnischer Säuberungen" zu verstehen. Zu den ersten Zeilen eines Gedichts von Karadzic, das zu entfesselter Gläubigkeit in eine Sache aufruft, schreibt er: "Der Verweis auf diesen Gott, der 'euch nichts untersagt', ist entscheidend um zu verstehen, wie zur Erzeugung ethnischer Gewalt moralische Verbote aufgehoben werden. Das Klischee will, dass eine ethnische Identifikation die Rückkehr zu Werten bedeutet. Dieses Klischee müssen wir umdrehen. Ein ethnischer Fundamentalismus gründet sich im Gegenteil auf eine stillschweigende Aufforderung: Ihr dürft!"
Archiv: Le Monde

Prospect (UK), 01.08.2008

Der Satz "Sowieso hat Charakter" ist ja völlig aus der Mode gekommen. Aber die Briten entdecken den Charakter gerade wieder neu. Nicht als ein Bündel angeborener Eigenschaften, sondern als etwas, das gemacht werden kann. Richard Reeves erklärt: "Charakter ist ein unmodernes Konzept, darum ist es umso wichtiger klar zu sagen, was das Wort im öffentlichen politischen Kontext bedeutet. Die drei Schlüsselelemente eines guten Charakters sind: Ein Gefühl für die eigene Autonomie beziehungsweise die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, Akzeptanz persönlicher Verantwortung und die Fähigkeit, Versuchungen zu widerstehen oder zumindest Belohnungen aufzuschieben. Fortschrittliche Linke verstehen langsam, dass, so definiert, Charakter mit vielen ihrer sozialen Ziele eng verknüpft ist - und dass er sehr ungleich verteilt ist. Tatsächlich könnte die ungleiche Verteilung von Charakter so wichtig werden wie die ungleiche Verteilung von Geld."

Weitere Artikel: Wenn die Fareed Zacharias und Thomas Friedmans dieser Welt weniger Vorurteile hätten und einfach mal die Augen aufmachen würden, könnten sie erkennen, dass George W. Bush eine außerordentlich erfolgreiche Außenpolitik geführt hat, schreibt Edward Luttwak. Er erinnert daran, dass noch in den neunziger Jahren fast jedes islamische Land mit den religiösen Fundementalisten geflirtet hat. "Das endete abrupt am 11. September. Schlaumeier belächelten Bushs Satz 'Entweder seid ihr für uns oder ihr seid für die Terroristen' als Cowboyattitüde, aber er war sehr schnell erfolgreich." Andrew Keen macht sich Sorgen um die amerikanischen Zeitungen, die unter Erscheinungen wie der Huffington Post leiden. Stephen Chan beschreibt die Tragödie des simbabwischen Oppositionspolitikers Morgan Tsvangirai, der leider viel zum Erfolg Mugabes beigetragen habe.
Archiv: Prospect

Espresso (Italien), 31.07.2008

Italien schickt zwei Boxer zur Olympiade: Clemente "Tatanka" Russo und Domenico "Mirko" Valentino. Beide trainieren in Marcianise unweit von Neapel. Roberto Saviano macht sie in seiner Reportage zu Botschaftern ihrer zornigen Heimat. "In ihren Schlägen steckt die ganze Wut dieses Landstrichs. Auf den Straßen von Marcianise fragen sie alle: 'Wann fahren wir nach Peking?' Sie sagen nicht 'Wann fahrt ihr?', sondern 'Wann fahren wir?'. Denn hier ist man nicht nur ein Einzelner, sondern wird zur Summe von vielen. Diese Vielheit, das stärkt. Und so wird von diesen beiden Jungs nur eines verlangt: gebt diesem Landstrich das zurück, was sie uns weggenommen haben, zeigt ihnen, was hier verborgen liegt - die Wut, die Einsamkeit, abends die Leere. Denn daraus bestehen Clemente und Mirko, aus einem Stoff, den es so nirgendwo sonst gibt. Sie sind so hungrig, etwas zu werden, etwas zu erreichen, sich zu emanzipieren von dem Übel und der Feigheit innendrin."
Archiv: Espresso

Przekroj (Polen), 30.07.2008

Die Titelgeschichte (mit einem tollen Coverbild und der Überschrift "Anführer Europas"!) widmet das polnische Magazin Nicolas Sarkozy, "der seine Komplexe mit Hilfe der großen Politik heilt", aber auch "der seriöseste Politiker Frankreichs seit de Gaulle ist". Viel Aufmerksamkeit erntete der "Telepräsident" durch seine außenpolitischen Initiativen der letzten Zeit, vor allem den Mittelmeerunion-Gipfel. "Wenn man sich die Erfolge genauer anschaut, fällt auf, dass die visionären Vorstöße oft konjunktureller Art sind, dass Sarkozy genau so nah am Staats-Mann wie am Show-man ist, und dass sein größter Verbündeter der letzten Zeit das pure Glück war."

Jarek Szubrycht blickt zurück auf 40 Jahre Heavy Metal - der just im Hippie-Jahr 1968 geboren wurde. Interessant ist dabei die Rezeptionsgeschichte im kommunistischen Polen - von den schwierigen Anfängen bis zur stillschweigenden Toleranz in den Achtzigern. Dazu passt die Geschichte der Band Imperator, die sich vor einem Konzert dem Zensor stellen musste: "Es ging um den Vers: Die Bestie kommt aus der Tiefe. - Was soll das?! - schrie der Beamte - Geht es etwa um die 'Solidarnosc'? - Wie denn - antworteten wahrheitsgemäß die Musiker. - Es geht um Satan. - Na, dann habt ihr Glück. Ihr dürft es spielen."
Archiv: Przekroj

New York Times (USA), 03.08.2008

Mattathias Schwartz begibt sich in die finstere Welt der Trolle. So nennt man im Internet anonym auftretende Personen, die versuchen mit schwachsinnigen bis bösartigen Kommentaren andere bis zur Weißglut zu reizen. In letzter Zeit hat es sogar einige Selbstmorde gegeben, die durch Trolle ausgelöst wurden. Schwartz lernt einige von ihnen in Person kennen und stellt am Ende fest: "Auch wenn die Technologie die soziale Barriere verringert, die uns davon abhält, Fremde zu quälen, so erklärt das noch nicht, was diesen Impuls auslöst. Er scheint etwas sehr Häßlichem zu entspringen, einem destruktiven menschlichen Zwang, den viele fühlen, dem aber nur wenige nachgeben (...) Und dennoch schlägt sich das Internet ziemlich gut als Frontstadt am Rande der Anarchie. Es wird erwartet, dass sich sein Verkehr bis 2012 vervierfacht. Die Vorstellung, Trolle seien eine Bedrohung für das Internet ist so als würde man Krähen für eine Bedrohung der Landwirtschaft halten."

"Außererodentlich, unschätzbar wertvoll, machtvoll, brillant recherchiert" nennt Alan Brinkley im Aufmacher der Sunday Book Review das Buch "The Dark Side - The Inside Story of How the War on Terror Turned into a War on American Ideals" (Auszug), der New-Yorker-Reporterin Jane Mayer, das alle Fakten zum schwärzesten Kapitel der jüngsten amerikanischen Geschichte zusammenträgt: Die Einführung der Folter im "Krieg gegen den Terror" zum Teil in Geheimgefängnissen, die von niemandem zu kontrollieren sind. Dick Cheney hat dieses System geschaffen, das, nebenbei bemerkt, keinerlei Erfolge vorzuweisen habe, und das schlimmste sei - es geht weiter: "Es gibt kein Happy End in dieser düsteren und schändlichen Geschichte. Trotz wachsenden politischen Drucks, trotz Urteilen des Supreme Courts gegen die Gefängnispolitik, trotz immer mehr Enthüllungen über das einst geheime Programm, das das Gewissen der ganzen Welt schockierte, gibt es wenig Hinweise darauf, dass die Geheimlager und Folterprogramme aufgegeben oder stark reduziert wurden."
Archiv: New York Times