Post aus der Walachei

Väterchen Frost hat abgedankt

Von Hilke Gerdes
09.01.2004. Ein winterlicher Streifzug durch Rumänien.
Mit der Wende kam auch das Ende für Mos Gerila, Väterchen Frost, dessen Erscheinen wie in der Sowjetunion auch in Rumänien gefeiert wurde. Offiziell rehabilitiert und zentrale Figur des Geschehens ist nun wieder Mos Craciun, der Weihnachtsmann. In kommunistischer Zeit fand das christliche Weihnachtsfest nur im privaten Raum statt. Und alle mussten an den Weihnachtsfeiertagen arbeiten.

Der Glaube spielte und spielt aber eine wichtige Rolle in der Bevölkerung. Anders als in der DDR, wo die Kirche zwar Sammelbecken für oppositionelle Kräfte, aber insgesamt wesentlich weniger in der Bevölkerung verankert war. Fährt man in Bukarest im Bus an einer Kirche vorbei, geht eine Bewegung durch die Menge: Junge wie Alte bekreuzigen sich. Nicht alle, aber viele. Gut 87 Prozent der Rumänen sind orthodox: fast 20 Millionen Menschen, damit ist Rumänien nach Russland die größte orthodoxe Landeskirche. Und dabei kennt man im Westen meist nur russisch-orthodox oder griechisch-orthodox. Seit 1994 gibt es auch ein rumänisch-orthodoxes Patriarchat in Deutschland mit Sitz in Nürnberg.

Anders als in Russland richtet man sich in der Terminierung von Weihnachten nach dem auch im Westeuropa gültigen gregorianischen Kalender, das heißt die Feiertage sind am 25. und 26. Dezember. Nach dem julianischen Kalender feiert man das wichtigere religiöse Fest im orthodoxen Glauben: Ostern. Dann gehen selbst die in die Kirche, die Weihnachten zu Hause bleiben. Einen Gottesdienst zu besuchen ist aber jederzeit sinnvoll, denn - wie ein sechzehnjähriger Rumäne anmerkt: "Es ist gut für die Seele und das Einzige, dass nie im Leben schlecht wird."

Weihnachtswaren

Anders als in Deutschland, wo man schon im September beim Einkaufen Lebkuchen, Gewürzspekulatius, Dominosteine und so weiter erblickt und schmerzlich an das Nahen der dunklen Jahreszeit erinnert wird, geht es hier erst nach dem 7. Dezember so richtig los: Weihnachtsmänner klettern am Kindertheater empor, zieren riesige Plakatwände. Plötzlich füllen sich die zentralen Boulevards mit all denen, die als fliegende Händler ihr Überleben durch den Verkauf von Saisonware sichern. Jetzt sind es Weihnachtskarten, -kugeln, Plastikbäumchen, Girlanden und vor allem Lichterketten. Es blinkt und dudelt überall, denn besonders beliebt sind die Lichterketten mit Musik. In Tausenden von Haushalten ertönt am Heiligabend ein schnarrendes Jingle Bells, wenn der Baum aufleuchtet.

Nicht üblich sind Adventskalender. Die mit Schokolade gefüllten Massenprodukte, die es in Deutschland überall zu kaufen gibt, findet man nur in einigen großen Supermärkten, die sich damit auf das Konsumbedürfnis einer wohlhabenderen westlich orientierten Klientel einstellen.

Für alle anderen werden Tannenzweige mit Zapfen auf den Straßen angeboten, von Männern, die in ihren Gummistiefeln aussehen, als hätten sie das frische Grün just aus dem Wald geholt. Alte zahnlose Frauen bieten ihre selbst gemachten kleinen Adventskränze neben den U-Bahn-Eingängen an.

Viele Menschen aus den umliegenden Ortschaften verkaufen in Bukarest das, was der Wald oder ihr kleiner Garten hergibt: Mini-Kürbisse und Astern im November, kleine Sträuße mit Tannengrün, getrocknetem Herbstlaub und Hagebutten im Dezember. Oder auch Körbchen mit winzigen Schneeglöckchen in Moos, die jetzt schon im Wald zu finden sind.

Wintersport

In den Schaufenstern der Reisebüros hängen die Angebote für die Weihnachtsferien. Ich bin verblüfft. Skifahren in den Karpaten ist teurer als in Österreich. Zumindest über Silvester. Die Hotels erhöhen ihre Preise um 150 bis 200 Prozent. Städtereisen nach Budapest oder Wien sind günstiger. Oder Reisen in die Türkei und Griechenland, aber wer will da schon im Winter hin? Jordanien ist ebenso im kostspieligen Angebot wie Dubai und Thailand. Deutschland taucht nirgendwo auf.

Der bekannteste und teuerste Ort für Wintersport in Rumänien ist Poiana Brasov. Und einer der idyllischeren, denn er liegt nicht an der Hauptverkehrsstraße zwischen Bukarest und Brasov wie Sinaia, Predeal oder Busteni, sondern abgeschieden in den Bergen oberhalb von Kronstadt. In den besseren Hotels zahlt man dort Silvester bis zu 250 Euro für ein Doppelzimmer mit Frühstück und Silvestermenü.

Poiana Brasov hat genau die richtige Größe für einen Ferienort, alles lässt sich zu Fuß erreichen (wobei das allerdings ohne Bedeutung ist, denn wer von den Rumänen sich in diesem Ort Urlaub leisten kann, kommt mit dem eigenen Auto). Es gibt mehrere Restaurants, mehrere Skipisten unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades und eine Architektur, die dem Auge nicht weh tut. Auch die neuere nicht. Es wurde viel gebaut in den letzten Jahren.

Das "Sporthotel" in Naturstein aus den dreißiger Jahren, das bekannteste am Ort, ist für die Mächtigen reserviert. Und offiziell für Touristen, die über einige wenige ausländische Agenturen buchen. Denn auf meine Nachfrage, ob man dort Silvester logieren könne, bekam ich nur die Antwort, der Direktor entscheide über die Zimmervergabe und ich könne meinen Namen und meine Adresse da lassen. Oder mich nach dem 7. Dezember noch einmal melden, dann wisse man, ob noch Zimmer frei seien. Freie Marktwirtschaft?

Mysterien der vorweihnachtlichen Zeit

Das Volk verbringt die Weihnachtstage zu Hause. Wer sein Auskommen hat, leistet sich einen Tannenbaum. Sie werden hier auf den Obst- und Gemüsemärkten verkauft. Wir sehen wunderbare dichte und große Bäume, für die man mindestens eine Deckenhöhe von drei Metern braucht. Kostenpunkt: 2 Millionen Lei, umgerechnet fünfzig Euro. Fast die Hälfte eines rumänischen Durchschnittsgehalts (National Institut of Statistics). Auf mein Erstaunen hin erklärt man mir: Importware aus Dänemark. Dänemark? Ja, Dänemark. Neben der Pracht der Importbäume machen die einheimischen einen jämmerlichen Eindruck. Sie sind zum Hindurchgucken, schief und mickrig. Kosten aber immerhin um die dreizehn Euro. Fehlt es an Dünger? Ist das also der pure Ökobaum? dpa meldet, dass Tannenbäume dichter und buschiger werden durch starke Luftverschmutzung. Demnach muss man sich um die rumänischen Wälder keine Sorgen machen.

Merkwürdig ist die Sache mit dem Adventskranz. Er ist unüblich - habe ich gedacht. Denn vor dem ersten Advent war nirgendwo einer zu sehen. Doch plötzlich sind sie aufgetaucht, überall. Der einzige Haken: zwei Adventssonntage waren zu dem Zeitpunkt schon vergangen. Lieben es die Rumänen, gleich drei Kerzen auf einmal anzuzünden? Nein, denn wie vermutet gehört der Adventskranz nicht in die Tradition des orthodoxen Weihnachtsfestes. Er wird als reine Dekoration begriffen, an die Tür gehängt oder auf den Tisch gelegt. Ein Kind meinte es gut und brachte einen Kranz mit in die deutsche Schule: fünf Kerzen thronten auf ihm. Und wenn das fünfte Lichtlein brennt, ... kräht das eigene Kind fröhlich, als es von der Geschichte hört.

Elektrifizierung

Kaum noch nachzuvollziehen sind die Zeiten, in denen der Strom täglich für mehrere Stunden unterbrochen wurde - aufgrund der prekären Wirtschaftslage oder, wie manche meinen, um das Volk besser unter Kontrolle zu halten. Bukarest war Ende der achtziger Jahre dunkel im Winter. Die wenigen Straßenlaternen warfen ein schummriges Licht auf die unmittelbare Umgebung; um 22 Uhr wurde die Schaufensterbeleuchtung abgestellt. In den öffentlichen Gebäuden und in den Wohnungen brannten nur wenige Glühlampen. Noch heute sieht man in vielen Privatwohnungen mehrarmige Leuchter mit nur ein oder zwei Kerzen. Der private Verbraucher spart am teuren Strom. Um so erstaunlicher, dass schon zu Ceausescus Zeiten elektrische Weihnachtskerzen aufkamen. Heute hat man Lichterketten, vorzugsweise mit Musik. Einfache Wachskerzen sind nirgendwo mehr zu finden.

Noch hat hier das Schmücken der Fenster mit Lichterketten oder blinkenden Leuchtsternen nicht eingesetzt, geschweige denn das exzessive Dekorieren der gesamten Außenfassade des Wohnhauses. Nur vereinzelt sieht man hier und da eine kleine Lichterkette oder einen beleuchteten Tannenbaum vor dem Haus.

Der öffentliche städtische Raum hingegen leuchtet: Tausende Glühlampen überspannen den zentralen Boulevard und bilden ein Eisblumenmuster in großartiger Pracht; eine riesige blinkende Lichterkugel kündigt vor dem Hotel Intercontinental das neue Jahr an. Lichterketten umspannen die kreisförmige Piata Romana. Und die Weihnachtsbeleuchtung wird von Jahr zu Jahr mehr, wie man mir erzählt. Vor fünf Jahren gab es noch überhaupt keine.

Und vor vierzehn Jahren sowieso nicht. An den Dezember 1989, die kurze Zeitspanne zwischen der ersten Demonstration in Temesvar am 16. Dezember und der Exekution von Nicolae Ceausescu und seiner Frau Elena am 25. Dezember, wird auch dieses Jahr erinnert. Auf einem Open-Air-Weihnachtskonzert vor dem Nationaltheater gedenkt der Moderator der toten Helden der Revolution (knapp 700 sollen es gewesen sein). Doch keiner scheint davon etwas hören zu wollen. Der Beifall ist mager. Tief sitzt die Enttäuschung über die Nachwendezeit. Bis heute sind die Umstände dieser "unvollendeten Revolution" (Anneli U.Gabanyi) nicht geklärt, Dokumente nicht zugänglich, und die Akten des Schauprozesses gegen Nicolae und Elena Ceaucescu sind seit Jahren verschwunden.

Nach der Flucht des Diktators am 22. Dezember wurde abends im Fernsehen das Kommunique des "Rates der Front der Nationalen Rettung" von ihrem Sprecher Ion Iliescu, dem heutigen Staatspräsidenten, verlesen. Woher dieser Rat kam und welche Mitglieder er hatte, blieb im Dunkeln. Am selben Tag sollen das erste Mal seit Jahrzehnten Weihnachtslieder in der U-Bahn gespielt worden sein.

Kaufen

Die Straßen sind voller Menschen. Manche schleppen prall gefüllte Plastiktüten mit sich herum. Andere beschränken sich auf das Schaufenster gucken. Und wiederum andere stehen vor den Geschäftseingängen, stumm auf eine kleine Spende wartend. Die teilweise gerade erst eingeweihten Shopping-Center haben bis 22 Uhr geöffnet, selbst am Sonntag. Kurz vor dem 24. Dezember sogar bis Mitternacht. Und manche sogar durchgehend. Amerikanische Verhältnisse. Zumindest was die Öffnungszeiten anbelangt.

Amerikanische Freundschaft: Am 5. Dezember verkündet der rumänische Verteidigungsminister, dass in der folgenden Woche Gespräche über die Stationierung von US-amerikanischen Militärbasen stattfinden. Vor nicht mal zwei Monaten hatte der Außenminister noch dementiert. Die Gespräche führen allerdings zu keinem konkreten Ergebnis.

Besonders voll sind die Geschäfte, die die so genannten weißen Waren (Kühlschränke, Waschmaschinen, Küchenherde), Fernseher, Stereoanlagen und Computer anbieten. Seit dem letzten Jahr vergeben die Banken Konsumkredite an Privatkunden. Und wer das Glück hat genug zu verdienen, kann sich eine neue Waschmaschine, einen neuen Kühlschrank, Küchenherd, Fernseher oder endlich einen Computer kaufen. Der Hunger nach diesen Produkten ist groß. Und großzügig werden auch Ratenzahlungen angeboten. Dafür sieht die Handelsbilanz 2003 für Rumänien schlecht aus. Es wurden für 4,3 Milliarden Euro mehr Waren ein- als ausgeführt. Eine Milliarde mehr als im letzten Jahr. Nun will die Regierung die Konsumkredite wieder einschränken, um das Handelsdefizit zu verringern. Was den großen Handelsketten ein hohes Umsatzplus vor Jahresende beschert.

Ganz so wie in Deutschland

Weihnachten ist das Fest der Familie, man verbringt die Tage zusammen, unterhält sich, guckt fern, besucht die Verwandten - und isst die traditionellen Weihnachtsgerichte: saure Fleischklößchensuppe (Ciorba de Perisoare), mit Hackfleisch und Reis gefüllte Krautwickel (Sarmale), Schweinesülze (Piftie), Mamaliga (Polenta), Christstollen (Cozonac). Und dazu den Obstbrand, einmal gebrannten Tuica oder den mehrmals gebrannten Palinche.

Was halten diejenigen vom Fest der Familie, die nicht mehr an den Weihnachtsmann glauben, aber auch noch nicht richtig erwachsen sind? "Ein Fest, an dem man sich zufällig und vollkommen überraschend mit seinen Eltern versteht und man sich wirklich wohl fühlen kann." So wie die zitierte Achtzehnjährige freuen sich viele Jugendliche über die gemeinsame Zeit mit der Familie. Zumindest nach dem Ergebnis meiner Umfrage unter ca. fünfzig Jugendlichen zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren. Und über die Geschenke, die der Weihnachtsmann auch hier unter den Tannenbaum legt, allerdings später als bei uns. Hier ist die Bescherung bei den meisten am Morgen des 25. Dezembers.

Klimatische Verhältnisse

Der harte Winter, der uns prophezeit wurde, blieb aus. Es regnete höchstens, und so heftig, dass sich wahre Seen an den Straßenkreuzungen bildeten. Von Minusgraden keine Spur. Doch pünktlich zu Weihnachten, in der Nacht vom 23. auf den 24. Dezember, setzt Schneesturm ein. Er überzieht Bukarest mit einer 30 cm dicken Schneeschicht und erzeugt ein Verkehrschaos. Busse, Straßenbahnen und Pkws bleiben stecken, Taxis sind kaum zu bekommen. In einigen Stadtvierteln fällt der Strom aus. Geräumt werden später nur die Hauptverkehrsstraßen.

Silvester bei der ungarischen Minderheit

Die Kirche ist bis auf den letzten Platz besetzt, links die Frauen, rechts die Männer. Es ist Silvesterabend 18.00 Uhr in Varsag, Kreis Harghita, Region Transsilvanien (Siebenbürgen), knapp hundert Kilometer östlich von Sighisoara (Schäßburg) auf einer Höhe von 900 Metern. Hier sind die Menschen katholisch. Hier spricht jeder ungarisch. Selbst als Rumäne hat man hier Probleme sich zu verständigen.

Der knapp 2.000 Einwohner zählende Ort, eine Streusiedlung mit weit auseinander liegenden Gehöften, geht auf das ausgehende 16. Jahrhundert zurück. Ungarisch sprechende Szekler errichteten Behausungen, um hier in den Sommermonaten Landwirtschaft zu betreiben. Über die Herkunft dieser Szekler ist nichts bekannt, nur dass sie im 10. und 11. Jahrhundert zur Landeserschließung und -sicherung in den Ostkarpaten angesiedelt wurden.

Auf dem Tisch im Haus des Försters stehen Kerzen in den Farben der ungarischen Flagge. Das Gebiet gehörte lange Jahre zu Ungarn bzw. Österreich-Ungarn, bevor es fast auf den Tag genau vor 85 Jahren (29.12.1918) wie das gesamte Siebenbürgen zu Rumänien kam. In sozialistischer Zeit bestand hier von 1952 bis 1968 die "Autonome Ungarische Region", in den siebziger und vor allen achtziger Jahren verschlechterte sich jedoch die Lage der Minderheiten. Was sie von Rumänien halten, würden sie uns in Anwesenheit der Rumänen wohl selbst dann nicht erzählen, wenn wir ihre komplizierte Sprache verstehen könnten. Oder sind die Kerzen kein Wink mit dem Zaunpfahl?

Im Wohnzimmer des Försters steht ein echter Weihnachtsbaum, groß und dicht (die dpa-Meldung ist also doch nicht ernst zu nehmen, denn hier ist weit und breit keine Industrie und in den Wäldern leben Bären), mit Lichterkette ohne Musik. Selbst hier, wo Pferdefuhrwerke das Hauptverkehrsmittel darstellen, gibt es Weihnachtsbeleuchtung an den Lichtmasten längs der Dorfstraße.

Der Gottesdienst dauert lange, fast zwei Stunden wird gepredigt, gesungen und das Abendmahl gefeiert. Um 21 Uhr beginnt das Theaterstück im örtlichen Kulturhaus. Der Ball danach ist auf Neujahr verschoben worden, es ließ sich keine Musikband mehr für den Silvesterabend auftreiben. Wir essen eine kräftige Suppe, die die Frau des Försters aus den Hühnern, deren Blut noch im Hof zu sehen ist, gekocht hat. Schon Ceausescu ist in den Genuss ihrer Kochkunst gekommen, wenn ihm hier die größten Bären Rumäniens vor die Flinte getrieben wurden. Wir trinken wie die Männer, die uns mit ihren Pferdewagen von der Hütte auf dem vulkanischen Hochplateau zur Dorfkneipe gefahren haben. Wo wir rumänisch radebrechend nach ihren Familien, ihren Tieren, ihrer Arbeit im Wald fragen und mit ihnen auf das neue Jahr anstoßen. La multi ani - boldog uj evet - Frohes neues Jahr!


Anmerkung: Aus technischen Gründen können die diakritischen Zeichen der rumänischen Schrift nicht wiedergegeben werden