Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.06.2007. In der SZ erklärt Hassan Khader, warum für ihn der romantische Nationalismus der Palästinenser am Ende ist. Die FR erinnert an den Aktionskünstler Gustav Metzger, der einen großen Einfluss auf den Pop hatte. Die NZZ erklärt, was es mit dem "Histrio" auf sich hat. Viele Zeitungen besuchten zwei Veteranentreffen der Gruppen 47 und Genesis.

FR, 18.06.2007

Zu lesen ist ein Auszug aus einem Vortrag Wolfgang Kraushaars über den Installationskünstler Gustav Metzger, der hinter den Kulissen großen Einfluss auf Rockmusiker wie Pete Townshend hatte. "Es war kein Zufall, dass er im Dezember 1962 einen Vortrag an der Ealing School of Art, einer Kunsthochschule in London, besuchte, bei dem es um das Verhältnis zwischen auto-destruktiver und auto-kreativer Kunst gehen sollte. Referent war der nur in kleinen Zirkeln bekannte Künstler, der deutsch-jüdische Emigrant Gustav Metzger. Insgesamt fünfzig Dias wurden an dem Abend gezeigt und erläutert. Eines beeindruckte den jungen Kunststudenten nachhaltig. Es zeigte die Aktion eines japanischen Künstlers. Zu sehen war, wie Saburo Murakami, Mitglied der 1954 in Osaka gegründeten Gutai-Gruppe, mit senkrecht ausgestrecktem Arm und geballter Faust durch eine Papierbahn springt. Später verging kaum ein Auftritt der Who, ohne dass Townshend mit in die Höhe gerecktem Arm auf die Bühne sprang."

Weitere Artikel: Harry Nutt resümiert die Berliner Gesprächsrunde mit Günter Grass, Martin Walser und Joachim Kaiser zum 60. Geburtstag der Gruppe 47. Martin Scholz gratuliert Paul McCartney zum 65. Geburtstag. Hans-Klaus Jungheinrich schreibt zum Tod des Musikschriftstellers und Kollegen Ulrich Schreiber. In einer times mager wundert sich Sylvia Staude, ob die Erbauer des Creation Museum in Kentucky bei ihrem Modell der Arche Noah an das Wachstum von Saurierbabys gedacht haben.

Besprochen werden die Uraufführung von Simon Stephens' "Pornografie" beim experimentellen Theaterfestival "Theaterformen" in Hannover und der Briefwechsel von Theodor Adorno und Max Horkheimer 1927-1969 in vier Bänden.

Welt, 18.06.2007

In seinem Resümee über das Treffen der Gruppe-47-Veteranen Günter Grass, Martin Walser und Joachim Kaiser im Berliner Ensemble geht Eckhard Fuhr auch auf Grass' Boykott der Springer-Presse ein, den er so lange aufrechterhalten wolle, bis diese sich für ihr Verhalten gegenüber Heinrich Böll entschuldigt habe: "Es kann nie schaden, wenn Zeitungshäuser sich kritisch mit ihrer Geschichte auseinander setzen. Es fragt sich nur, wer sich heute für die 'Springer-Presse' der Siebzigerjahre entschuldigen, wer da für wen sprechen soll."

Weitere Artikel: Alexander Cammann resümiert das Berliner Festival über "Die Macht der Sprache". Hendrik Werner freut sich in der Leitglosse, dass jetzt auch Literaten bekennen, gedopt zu haben. Ulrich Baron geht aus aktuellem Anlass dem Motiv "Honoratioren im Bordell" nach, das die Weltliteratur seit Jahrhunderten bereichert. Sven Felix Kellerhoff verfolgte eine Tagung über "Widerstand gegen den Kommunismus" in Görlitz. In der Welt am Sonntag berichtete Uwe Schmitt über Konzerte und Feierleichkeiten zu 50 Jahren Soul in Memphis.

Besprochen werden die Penck-Retrospektive in Frankfurt, die Uraufführung von Simon Stephens' Stück "Pornografie" in Hannover, ein Konzert der exhumierten Gruppe Genesis in Hamburg und neue DVDs.

NZZ, 18.06.2007

Uwe Justus Wenzel verfolgte eine Tagung des Potsdamer Einstein-Forums zum Thema "Die Zukunft des Charakters" und stieß auf einige neue populärsoziologische "Typen", das "therapeutische Selbst" zum Beispiel, aber auch auch den "Histrio": "Der histrionische Sozialcharakter ist bezeichnungsgemäß ein Schauspieler, der seine theatralischen Auftritte der alles durchdringenden Fernsehkultur verdankt. Leicht erregbare Gefühle werden - nicht selten 'übertrieben' - zur Schau gestellt; Egozentrik, Oberflächlichkeit, Beeinflussbarkeit, Labilität gehen mit dem individuellen Hang und allgemeinen Zwang zur emotionsgesteuerten Selbstinszenierung einher."

Weitere Artikel: Aldo Keel beobachtet die Umsetzung der europäischen Hochschulreform in Norwegen. Und Paul Jandl beschreibt den Wiener Bauboom: "Bald wird man die Wiener Türme nicht mehr zählen können. Wenn erst der neue Zentralbahnhof fertig ist, sind es noch einmal um elf mehr. Die Stadt wächst über sich selbst hinaus."

Besprochen werden: Giuseppe Verdis "Traviata" unter Christoph Marthaler und Sylvain Cambreling in Paris und Matthias Glasners Film "Der freie Wille", den in Zürich kein Kino zeigen wollte.

Tagesspiegel, 18.06.2007

Der Architekt Andreas Meck wird das Berliner Ehrenmal für die Toten der Bundeswehr gestalten, meldet Bernhard Schulz. "Mecks Entwurf verweigert sich dem Pathos nicht, versucht aber, es herunterzuspielen. Die Massigkeit des zehn Meter hohen Betonriegels löst er im flirrenden Bronzevorhang optisch auf. Mit kantigen Pfeilern und vorgesetzten Fahnenstangen bedient sich Meck zugleich aus dem hergebrachten Repertoire von Staats-Gedenkstätten. Schon vor der Veröffentlichung des Jury-Entscheids war die Forderung erhoben worden, die Namen der 2600 Verstorbenen sichtbar zu verewigen - ein Patentrezept, das seit dem Washingtoner Vietnam Veterans Memorial mit seinen 58 000 Namen stets zur Hand ist. Hierzulande ist die Namensnennung fester Bestandteil aller Holocaust-Gedenkstätten. Doch beim Bundeswehr-Ehrenmal geht es nicht darum, Einzelschicksale dem Vergessen zu entreißen."

TAZ, 18.06.2007

Die technischen Schwierigkeiten scheinen behoben, die taz gibt es wieder im Internet.

Der polnische Literaturkritiker Igor Stokfiszweski beschreibt die zunächst marginale Rolle der Kulturschaffenden im Widerstand gegen die wertkonservative Wende der Regierung Kaczinski. "Es zeigte sich, dass die Literatur, ebenso wie die anderen Künste, unseren Reflexionen der gesellschaftspolitischen Realität neue Freiräume schafft. Das Problem ist nur, dass die engagierte Literatur eine unbeachtete Stimme geblieben ist - isoliert vom Diskurs der Macht durch die Idee einer Zivilgesellschaft, in der Kultur und Politik sich auf dem Weg zum Aufbau einer gemeinsamen Idee verfehlen. Auch wenn sie die Gefahr des aufkommenden religiös-konservativen Fanatismus ahnte, war sie machtlos gegen den Triumphzug des Populismus auf der Rechten, der - sagen wir es noch einmal - deshalb obsiegt hat, weil er die Aufkündigung des Pakts zwischen Kapitalismus und politischer Mitte versprach, eine vierte Republik, eine Art 'vierten Weg'. Ist das jetzt das Ende der Geschichte? Glücklicherweise nicht."

Weiteres: Alexander Cammann resümiert die Berliner Gesprächsrunde der "Ehrenspielführer der Literaturnationalmannschaft", der Veteranen der Gruppe 47 Günter Grass, Martin Walser und Joachim Kaiser. Thomas Winkler unterhält sich mit Benjamin Pavlidis von der Band Ohrboote über ihr neues Album "Babylon bei Boot". In ihrer documenta-Kolumne unterscheidet Christiane Rösinger fein zwischen Platzregen, Gewitterregen, Nieselregen, Bindfadenregen und Landregen.

In der zweiten taz fordert Jan Feddersen nicht nur eine Moschee in Köln, sondern eine in Berlins Mitte, gut sichtbar und eventuell "bauhausianisch gestylt". Eine Besprechung widmet sich Joachim Schloemers Inszenierung des indischen Nationalepos' "Ramanaya" in Freiburg.

Und Tom.

FAZ, 18.06.2007

Vom Gruppe-47-"Veteranentreffen" unter Beteiligung Martin Walsers, Günter Grass' und Joachim Kaisers berichtet Andreas Kilb; er hat sich neunzig Minuten lang gut unterhalten. Patrick Bahners zieht wolkige Folgerungen aus einem sehr Grass-kritischen Vortrag des Literaturwissenschaftlers Christoph König mit dem Titel "Häme als Verfahren". Hubert Spiegel kommentiert in der Leitglosse neue Erkenntnisse, dass Friedrich Dürrenmatt für den Anschluss der Schweiz an Nazi-Deutschland plädiert hat. Als "deprimierend" bezeichnet Konrad Adam den Ausgang des Potsdamer Prozesses um den Überrfall auf den Deutsch-Äthiopier Ermyas Mulugeta.

Dirk Schümer informiert über massive Widerstände in Italien gegen Freigang für den früheren SS-Offizier Erich Priebke. Eleonore Büning schreibt den Nachruf auf ihren Musikkritiker-Kollegen Ulrich Schreiber. Wolfgang Schneider hat den norwegischen Autor Per Petterson besucht. Tilman Spreckelsen porträtiert den Schriftsteller Janosch, der Ärger mit der ihn vertretenden Vermarktungsfirma "Janosch Film & Medien AG" hat. Catherine Newmark war auf einer Tagung, die danach fragte, warum Frauen in der Wissenschaft so stark unterrepräsentiert sind. Auf der Medienseite gratuliert Jochen Hieber dem Multitalent Hanns Zischler zum Sechzigsten.

Besprochen werden das deutsche Auftaktkonzert zur "Genesis"-Reunion-Tour, Christoph Marthalers Inszenierung von Verdis "La Traviata" in Paris, die Uraufführung von Simon Stephens' Stück "Pornographie" beim Festival Theaterformen in Hannover, die Uraufführung von Albert Ostermaiers Stück "Schwarze Minuten" bei den Mannheimer Schillertagen ("Sozialkitsch, verblichene Kinomythen und Räuberklischees" schimpft Martin Halter), die Robert-Gober-Ausstellung im Basler Schaulager und Bücher, darunter Fred Pearces globale Süßwasser-Recherche "Wenn die Flüsse versiegen" und Joachim Hammanns Roman "Die Harmonie der Welt" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 18.06.2007

Für den palästinensischen Schriftsteller Hassan Khader ist der romantische Nationalismus seiner Landsleute am Ende. Jetzt werden die israelischen Besatzer kopiert. "Sprecher der Hamas haben ganze Viertel in Gaza zu militärischem Sperrgebiet erklärt; ihre Leute im Kampfgebiet haben den sich ergebenden Sicherheitskräften befohlen, sich auszuziehen und halbnackt aus ihren belagerten Gebäuden herauszukommen. Es ist eine übliche Praxis der Israelis im Westjordanland und Gaza, ein Gebiet zur Militärzone zu erklären und den Menschen zu befehlen, sich vor der Verhaftung zu entkleiden. Die einzige Verbesserung der Hamas war es, ihre Gefangenen vor laufenden Fernsehkameras und Journalisten durch die Straßen zu treiben und über ihre Köpfe hinweg in die Luft zu schießen. Man kann sich kaum vorstellen, dass jemand die Ironie der Situation übersehen könnte."

Weitere Artikel: Johan Schloemann erinnert Oskar Lafontaines "Dauerbellen" vom Wochenende an die entgleiste Rhetorik zu Weimarer Zeiten. Die Filmzensur in China ist ein Glücksspiel, bemerkt Tobias Kniebe anlässlich der Verstümmelung der "Pirates of the Caribbean". Eine Meldung informiert über die iranische Kritik am Ritterschlag für Salman Rushdie. Peter Laudenbach besucht die erste Vorstellung der "Rocky Horror Picture Show" in Halberstadt, nachdem einige Schauspieler vor einer Woche von Neonazis angegriffen wurden. Gerhard Matzig vergibt an die Frankfurter Schau der Gestaltungsbranche "The Design Annual" das Prädikat "vitalisierend". Olaf Arndt weist auf die Zusammenarbeit von Neurowissenschaftlern und Sicherheitsexperten hin, die kürzlich den Vorschlag zeitigte, potenzielle Unruhebezirke wie Berlin-Neukölln im Ernstfall mit Drogen im Trinkwasser ruhig zu stellen. Auf der Literaturseite resümiert Helmut Böttiger ein angenehm unroutiniertes "Kamingespräch" der Herren Günter Grass, Martin Walser und Joachim Kaiser auf der Bühne des Berliner Ensemble.

Im Medienteil ist Heribert Prantls Laudatio auf Präsident Putin zu lesen, der die "Verschlossene Auster" des Netzwerks Recherche erhalten hat. "Pressefreiheit in Russland ist die Freiheit, beispielsweise so zu schreiben, wie Putin es mag. Die meisten Medien machen davon Gebrauch. Nikolai Swanidse, ein Moderator des russischen Staatsfernsehens, sagt das so: 'Unsere Gäste aus den USA und Europa verstehen das vielleicht nicht, aber der klassische sowjetische Zuschauer ist nicht an Alternativen gewöhnt.'"

Besprochen werden mit "Icky Thumb" das sechste Album der White Stripes, eine Schau von Fotografien von Wolfgang Tillmans im Kunstverein München, Albert Ostermaiers "matt modernistische" Schiller- Paraphrase "Schwarze Minuten" zur Eröffnung der Schiller-Tage in Mannheim, Jens-Daniel Herzogs Inszenierung von Edouard Lalos Oper "Fiesque" am Mannheimer Nationaltheater, Volker Koepps Film "Söhne", DVD-Neuerscheinungen von Buster Keaton und Pier Paolo Pasolini und Bücher, darunter der von Thomas Ehrsam herausgegebene Sammelband "Der Weiße Fleck" über die Entdeckung des Kongo sowie die "Moskauer Schriften und Briefe" von Jakob Michael Reinhold Lenz (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).