Heute in den Feuilletons

Kein Plätschern mehr

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.06.2008. Die Feuilletons besichtigen Olafur Eliassons Wasserfälle in New York: Hübsche Touristenattraktion, meint die NZZ. Bescheuert, aber wunderbar, schreibt die Welt. In der FR situiert Michael Rutschky Jean Amery in der deutschen Nachkriegsbundesrepublik. In der SZ kritisiert Julie Christie das Starsystem. Die FAZ fordert vom Publikum mehr Interesse für Hirn und Pferdeköpfe.

Welt, 28.06.2008

"Nach Einbruch der Dunkelheit wirkt das Ensemble in noch höherem Grade bescheuert - und vielleicht doppelt so wunderbar." Hannes Stein begutachtet die vier Wasserfälle, die der dänische Berliner Olafur Eliasson in New York errichtet hat. "Wer das einmal gesehen hat, vergisst es nicht mehr. Eine Stunde vor Mitternacht tutet es kurz, und irgendein unsichtbarer Riese, ein Spielverderber dreht mit rüdem, schnellem Griff den Wasserhahn zu. Dunkelheit. Schweigen. Kein Plätschern mehr. Alle vier Wasserfälle sind tot. Es ist wie ein Weltuntergang: Etwas fehlt, und zwar ganz empfindlich."

Weiteres: Tilman Krause hält die Aufnahme von Ernst Jünger in die distinguierte Pleiade-Bibliothek von Gallimard für den willkommenen Ausdruck des Niedergangs der Diskurshoheit "jener linken politischen Korrektheit".Es spielen so viele Katalanen wie noch nie in der spanischen Fußballnationalmannschaft, die labile Einheit wird aber durch neu entfachten Sprachenstreit zu Hause wieder empfindlich gestört, beobachtet Rainer Haubrich. Ein halbes Jahr nach ihrer Gründung beginnt die "Arbeitsstelle für Provenienzforschung" in Berlin endlich damit, die Herkunft von Kunstwerken zu klären, freut sich Uta Baier.

In der Literarischen Welt ist Kafka-Tag. Der zweite Band von Reiner Stachs großer Biografie wird ausgiebig gelobt, außerdem gibt es einen Auszug aus Willy Haas' Erinnerungen an den Bekannten Kafka, der mit der "allerfeinsten Artigkeit eines alten chinesischen Mandarins" ausgestattet war. .


Eine Besprechung widmet sich einer Ausstellung mit den Skizzen von Adolph Menzel in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München.

FR, 28.06.2008

In einem Grundsatz-Essay zum Abschluss der Werkausgabe situiert Michael Rutschky den Autor und Denker Jean Amery in der deutschen Nachkriegsbundesrepublik wie folgt: "Was seinen Essays die Überzeugungskraft verlieh, das war die philosophische Anstrengung, der er das autobiographische Material unterwarf. Die neorealistische Erzählprosa von Koeppen oder Böll oder Frisch mied zu Recht diese Stoffe, weil sie ihnen nicht gewachsen war. Die Reflexionen der Frankfurter Schule wiederum, in deren Mittelpunkt programmatisch Auschwitz stand, lähmte die Geschichtsphilosophie, die immer wieder nur ohnmächtig auf den Schuld- und Verblendungszusammenhang hindeuten konnte. Jean Amery dagegen erkannte sich, sobald er aus dem KZ befreit war, im Sinne Sartres als das Subjekt, das sich selbst entwirft und erzeugt."

Weitere Artikel: Dirk Fuhrig betrachtet den New Yorker Wasserfall-"Ökotrip" des Olafur Eliasson. In der Reihe zu 1968 erinnert Peter Iden an die documenta IV, der er zubilligt, "genauer und empfindlicher reagiert zu haben auf das politische Verlangen, es dürfe nichts bleiben wie es war, als das mit Flugschriften und roten Fahnen zu leisten war." Claus-Jürgen Göpfert kommentiert die Absage der Orhan-Pamuk-Ausstellung in der Frankfurter Schirn. In ihrer USA-Kolumne befasst sich Marcia Pally diesmal mit dem Benzin-Tourismus an der texanisch-mexikanischen Grenze. Mark Obert reflektiert in einer Times Mager das EM-Schicksal der russischen Sbornaja.

Besprochen wird die große Gustave-Caillebotte-Ausstellung in Bremen.

TAZ, 28.06.2008

Zum 100. Geburtstag des Rowohlt-Verlags erinnert Alexander Cammann an glorreiche Zeiten, wie sie Martin Walser im Tagebuch bezeugt: "Abends Graham Greene bei Bucerius. Ledig-Rowohlt groß in Englisch. Danach fort nach St. Pauli. Ledig-Rowohlt bezahlt 1700. Die junge Schwarze. Aber die Großmutter kettet uns an sich. Also wird die Mulattin nicht beachtet. Man tut treu dieser Blödhure gegenüber und sieht gegen 7 Uhr ein, dass sich das nicht rentiert. ... Habe den ohnmächtigen Spender ins Taxi getragen."

In der zweiten taz porträtiert Robert Misik den sowohl idiosynkratisch als auch symptomatisch glücklosen österreichischen Noch-Bundeskanzler und nunmehr Ex-SPÖ-Chef Alfred Gusenbauer. Jan Feddersen erklärt, wie es kommt, dass eine neue Aids-Aufklärungskampagne verschoben wurde. Im Gespräch deutet der Verkehrssoziologe Alfred Fuhr das Phänomen Autokorso: "Zwar ist der Kern noch militärisch, alle fahren ordentlich hintereinander, ohne Auffahrunfälle. Aber ansonsten geht es nur darum, Regeln zu brechen: aus dem Fenster hängen, auf dem Auto rumhüpfen, über rote Ampeln fahren, auch mal in Fußgängerzonen."

Frank Schäfer hat mit der großartigen Silvia Bovenschen gesprochen, die über manche Reaktionen auf ihr Buch "Älter werden" (hier eine Leseprobe) nur staunen konnte: "Ja, ich hatte eine Lesung, da habe ich fast die traurigsten Stellen aus dem Buch vorgelesen, und die haben gebrüllt vor Lachen. Ich kann es Ihnen auch nicht erklären, aber ich nehme das so, wie es war. Der Berliner würde sagen: Ooch jut! Mir ist alles recht."

Besprochen werden die Aufführung von Yael Ronens Stück "Dritte Generation" beim "Theater der Welt"-Festival in Halle, und Sachbücher, darunter der Band "Im Netz der Pflegemafia" von Claus Fussek und Gottlob Schober (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Fürs taz mag hat sich Dirk Knipphals sehr ausführlich mit Jan Bosse und Armin Petras unterhalten, die gerade "Anna Karenina" aufs Theater bringen. Bosse zur Aktualität von Tolstoi: "Außerdem existiert dieser gesellschaftliche Glücksterror, der in einen Widerspruch zu der Sehnsucht gerät, ungefragt die Modelle von Ehe und Familie weiterzuleben. Das alles zusammen funktioniert nicht mehr." Jan Feddersen findet, dass man sich seiner Tränen nicht schämen sollte, auch wenn sie sich der Musik von Roy Black verdanken. Judith Luig befasst sich mit dem Phänomen der "zweiten Pubertät".

Und Tom.

NZZ, 28.06.2008

Andrea Köhler hat die Wasserfälle Olafur Eliassons in New York besichtigt, von Kunst will sie nichts hören: "Anstatt wie Bürgermeister Bloomberg bei der Eröffnungsrede das 'Visionäre' dieses 'künstlerischen Geniestreichs' in den Himmel zu heben oder, wie Eliasson selbst, das Ganze als eine Mischung aus kollektivem Kunstgenuss und ökologischer Bewusstseinserweiterung zu verkaufen, sollte man diese Wasserfälle loben für das, was sie sind: eine technisch hochkomplizierte und besonders am Abend, wenn sie illuminiert sind, sehr hübsch anzuschauende Touristenattraktion, die der Stadt geschätzte 55 Millionen Dollar einbringen soll."

Weiteres: Die Frage "Was ist schweizerisch?" beantwortet heute Vittorio Magnago Lampugnani klipp und klar mit: Schweizerdeutsch. Der Schriftsteller Michel Mettler denkt über den "Zaungast" nach.

Helmut Frielinghaus und Susanne Höbel haben gerade William Faulkners Roman "Licht im August" neu übersetzt. Im Interview für Literatur und Kunst erklären sie eine Besonderheit der Faulknerschen Sprache: "Er nimmt zum Beispiel keine Rücksicht auf konventionellen Satzbau. Das heißt nicht, dass er Sätze falsch baut oder die Grammatik missachtet. Aber es gibt Konventionen, etwa was die Syntax und die Satzlänge betrifft, die er außer acht lässt. Faulkner selbst beschrieb seine langen Sätze als den Versuch, die Vergangenheit eines Menschen 'und womöglich seine Zukunft in den Moment hineinzubekommen, in dem er etwas Bestimmtes tut'."

Weiteres: Abgedruckt ist das leicht gekürzte Nachwort Alfred Brendels zu dem Band "Weltgericht mit Pausen. Aus den Tagebüchern von Friedrich Hebbel". Im Marbacher Literaturarchiv wurde ein bisher unbekannter Autograf Gottfried Kellers von 1877 über seine lyrischen Anfänge gefunden, berichtet Helmuth Mojem. Jürgen Brocan porträtiert die amerikanische Erzählerin Willa Cather. Christoph Egger stellt die "Histoire du cinema suisse 1966-2000" der Cinematheque suisse vor.

Besprochen werden Bücher, darunter Lars Gustafssons Verserzählung "Die Sonntage des amerikanischen Mädchens" und Gottfried Kellers frühe Gedichtbände in der historisch-kritischen Ausgabe (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 28.06.2008

Im Gespräch, das Julie Christie mit Susan Vahabzadeh und Fritz Göttler geführt hat, hat sie nichts Gutes über das Filmbusiness und die Auswirkungen auf seine Stars zu sagen: "Was das Starsystem angeht - es ist sicher etwas schrecklich Obsessives daran, in der Welt der Berühmtheiten zu sein. Mir tun die jungen Leute wirklich leid. Es ist so sehr viel härter heute . . . sie wissen, dass sie verkauft werden. Ich bin immer empört, noch so ein unzeitgemäßes Wort. Ich glaube, man ist sich nicht bewusst - das ist die Gnade der Jugend -, wie zerstörerisch dieses Spiel ist. Es verändert deinen Charakter völlig. Erst später erkannte ich, wie defensiv ich geworden war, wie selbstsüchtig - man bekam ja alles, was man wollte, und das wurde zur Gewohnheit. Und dann diese Kluft zwischen dem was ich lebte und dem was über mich geschrieben wird - das ist einfach unbegreiflich, das ist schockierend."

Weitere Artikel: Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf erklärt, wie wenig Papst Benedikt mit dem von ihm ausgerufenen Paulus-Jahr theologischen Fortschritt im Sinn hat: "In Sachen Paulus-Deutung ist Benedikt XVI. auf einen katholischen Bewusstseinsstand des 19. Jahrhunderts fixiert." Zur Eröffnung der Münchner Opernfestspiele haben sich Andrian Kreye und Christoph Luci mit dem Kulturtheoretiker Slavoj Zizek unterhalten, der als Festredner die Veranstaltung eröffnete und als "großer Denker" keine Antworten kennt, sondern nur Fragen. Reinhard Brembeck fragt auch, und zwar nach dem Sinn und Unsinn von Opernfestivals. Im zweiten Teil der "Wetterbericht"-Serie informieren Sergej Kirpotin und Natalja Scharapowa über den "ökologischen Erdrutsch" in der westsibirischen Tundra. Lothar Müller verabschiedet das Kursbuch der Deutschen Bahn ins Netz: die gedruckte Version wird es nicht mehr geben. Besprochen wird die Manfred-Pernice-Ausstellung "Que-Sah" in Nürnberg.

Im Gespräch auf der Medienseite erlebt der Ex-Privatfernsehmann Georg Kofler (Sat 1, Premiere) bei den Diskussionen über die Internet-Auftritte der Öffentlich-Rechtlichen ein Deja-Vu: "Bei manchem Leitartikel der vergangenen Wochen habe ich still in mich hineingelächelt: Mit denselben Argumenten haben wir vom Privatfernsehen vor 15 Jahren gearbeitet. Wir haben frustrierend wenig erreicht."

Auf der Literaturseite schildert Tobias Lehmkuhl, wie in Berlin Lesepatenschaften für benachteiligte Kinder funktionieren. Rezensionen gibt es zu Thomas Pynchons großem Roman "Gegen den Tag" und zu Francois Chengs "Fünf Meditationen über die Schönheit" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Für den Aufmacher der SZ am Wochenende hat Harald Hordych das Altenparadies Bad Orb besucht. Helmut Schödel porträtiert den "morbiden" österreichischen Schlagersänger Fritz Ostermayer. Im zweiten Teil der Serie "Die Besucher" analysiert Gerhard Matzig eine Fotografie von Curd Jürgens' Wohnzimmer - mit Plansch-Pool (!) und gleich drei (halb)nackten Frauen, von denen eine Gitarre spielt. Auf der Historienseite geht es um Piraten in römischer Zeit. Werner Bloch unterhält sich mit der Geruchskünstlerin Sissel Tolaas, die feststellt: "Toleranz fängt mit der Nase an."

FAZ, 28.06.2008

Jürgen Dollase liest sich durch Wolfram Siebecks "Kochbuch der verpönten Küche" und findet es zu zahm: "Es sagt ja kein Koch und kein Kritiker so richtig gerne, aber unsere besten Restaurants werden eben auch teilweise von einem Publikum finanziert, dessen kulinarische Rigidität und Unbelehrbarkeit" - in Sachen Hirn, Froschschenkel, Leber und Pferdeköpfen - "der Kreativität hervorragender Köche ein sehr enges Zaumzeug anlegen."

Weitere Artikel: Paul Ingendaay führt uns durch die eher ruhmlose Geschichte des spanischen Fußballs. Hans-Joachim Müller erklärt, warum die Stellenausschreibung für den Leiter der Dresdner Gemäldegalerie so überaus lässig gehandhabt wird. Das rhetorische Brimborium um die vier Wasserfälle, die Olafur Eliasson in New York in Gang gesetzt hat, übertrifft bei weitem ihre Wirkung, meint Jordan Mejias. Katja Gelinsky hörte in Washington Stefan Aust und den Terrorismusforscher Bruce Hoffman über RAF und Al Qaida diskutieren. Dirk Schümer berichtet von einem Zensurskandal in Italien um eine Studie der Historikerin Gaetana Mazza über die Inquisition. Hans Jürgen Syberberg denkt sich Bayreuth neu als virtuelle Installation. Judka Strittmatter beschreibt den Wandel Prenzlauer Bergs am Beispiel eines Ladens in der Oderberger Straße 44. In der Glosse mokiert sich Patrick Bahners über Bahnchef Mehdorn, der das Dach des Hauptbahnhofs erst gekürzt hat und nun doch verlängern muss. Kcd. schreibt zum Tod des Bildhauers Hans Steinbrenner.

In Bilder und Zeiten versucht Manfred Lindinger zu erklären, was genau der gigantische Teilchenbeschleuniger im Cern, der in wenigen Wochen seine Arbeit tun soll, entschlüsseln soll. Kerstin Holm ortet zusammen mit deutschen Museumsdirektoren Beutekunst in Russland. Judith Lembke beobachtet nationale Eigenheiten beim Werbe-Festival Cannes Lions. Reiner Stach erklärt im Interview, was er bei der Arbeit an seiner Kafka-Biografie gelernt hat: "Die Fallhöhe zwischen Kafkas Prosa und dem, was man selbst zu schreiben in der Lage ist, steht einem bei der Arbeit permanent vor Augen. Man lernt Bescheidenheit, man lernt auch eine Art intellektueller Redlichkeit. Der freundliche Kafka ist ein ziemlich harter Zuchtmeister."

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken von Einar Schleef in Halle und Bücher über Kafka (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr). Auf der Schallplatten- und Phono-Seite geht's um Mozartaufnahmen mit alten Instrumenten, CDs von Weezer, Nils Petter Molvaer und Rabih Abou-Khalil.

In der Frankfurter Anthologie stellt Tilman Spreckelsen ein Gedicht von Theodor Storm vor:

"Hans

Friedlos bist du, mein armer Sohn,
Und auch friedlos bin ich durch dich;
..."