Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.03.2004. In der Zeit nimmt Slavoj Zizek seinen ganzen Mut zusammen und trägt die Spannung in den Kern des Judentums. Die FAZ beschreibt die finstere Lebensleitung des Abu Abbas. Die NZZ sorgt sich um die dänische Volkshochschulbewegung. In der taz wünscht sich Fatih Akin, dass in türkischen Familien mehr über Erziehung diskutiert wird. Die SZ kristisiert die wunderbare Vermehrung von Kunst-Events durch intermuseale Rochaden.

Zeit, 11.03.2004

Slavoj Zizek (ein fruchtbarer Autor!) beklagt in der heutigen Zeit unsere Kultur der "leblosen, politisch korrekten Toleranz" und versucht einen dritten Weg zwischen religiösem Fundamentalismus und liberaler Toleranz zu entwerfen. Der sieht so aus: "Im Umgang mit dem Judentum sollte man zum Beispiel den Fehler vermeiden, das 'gute' Judentum eines Levinas, das für Gerechtigkeit steht, auszuspielen gegen die 'schlechte' Tradition Jehovas mit seinen Rachegelüsten. Man sollte also allen Mut zusammennehmen, um die Spannung in den Kern des Judentums hineinzutragen, schließlich geht es nicht mehr um die Frage, die reine jüdische Tradition von Gerechtigkeit und Nächstenliebe gegen die zionistische Durchsetzung des Nationalstaats zu verteidigen. Ebenso sollte man, statt die Größe des 'wahren' Islam zu verherrlichen, seinen Widerstand als Chance begreifen. Er muss nicht notwendig zum 'Islamo-Faschismus' führen, er kann sich auch in einem sozialistischen oder demokratischen Projekt artikulieren. Gerade weil der Islam ein faschistisches Potenzial auf moderne Fragen birgt, kann er sich auch als Ort für die 'besten' Potenziale erweisen." Und das soll mir jetzt mal einer ganz genau erklären!

(Übrigens lautet der hier zitierte Schluss des Artikels im englischen Original ganz anders. Zizek-Exegeten mögen sich daran abarbeiten!)

Weitere Artikel: Im Aufmacher schildert Volker Hagedorn einen Streit zwischen U- und E-Musikern in der Gema, die die Tantiemen aus öffentlicher Vorführung von Musik verteilt. Die U-Musiker neiden dabei den E-Musikern einige kleine Privilegien. Thomas Groß bereitet uns auf den nächsten Grand Prix Eurovision de la Chanson vor, der jetzt zum Eurovision Song Contest geadelt und durch Zuschauerwahl entschieden wird. Die ehemalige Kulturministerin der Olivenbaum-Regierung Italiens, Giovanna Melandri, beklagt auf Seite 2 des Feuilletons die inkompetente Kulturpolitik Silvio Berlusconis. Thomas Groß ist - wie so viele Feuilleton-Autoren in letzter Zeit! - nach Südafrika geflogen, um sich die dort so populäre Kwaito-Musik anzuhören. Der iranische Autor Faraj Sarkohi macht uns auf tektonische Verschiebungen durch die Befreiung des Irak aufmerksam: Das Zentrum der schiitischen Gläubigen wird demnach vom Iran wieder in die irakische Stadt Nadschaf wandern. Sehr scharf (aber auch sehr versteckt, auf Seite 5 des Feuilletons) greift Christof Siemes die von Joschka Fischer zu verantwortenden drastischen Kürzungen bei den Goethe-Instituten an.

Besprochen werden Aelrun Goettes Dokumentarfilm "Die Kinder sind tot", Fatih Akins bärengekrönter Film "Gegen die Wand", und "O.T.", Christoph Marthalers allerletztes Spektakel als Intendant am Zürcher Schauspielhaus.

Der Aufmacher des Literaturteils ist etwas ungewöhnlich: Elisabeth von Thadden bespricht ein populärwissenschaftliches Buch über eine "Medizin der Emotionen", die auch Depressionen heilen soll, von David Servan-Schreiber (das Buch hat eine exzellente Website, die zufällig vom Perlentaucher gebaut wurde). Auch im Wissen-Teil geht's um Depressionen, die Ute Eberle zur Volkskrankheit werden sieht, während ein Interview mit dem Mediziner Markus Pawelzik Heilungsmöglichkeiten erkundet.

Im Dossier schildert Ulla Lachauer die Lage der Russlanddeutschen in Kasachstan. In den Zeitläuften erinnert Rolf Düsterberg an den Nazi-Autor Hanns Johst.

Berliner Zeitung, 11.03.2004

Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission "Kultur in Deutschland", kritisiert die Kürzungspläne Joschka Fischers in der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik und plädiert für eine Integration des Ressorts in die Behörde der Staatsministerin für Kultur und Medien. Forderungen einer Gleichbehandlung in den Etatkürzungen, wie sie der neue Generalsekretär des Goethe-Instituts erhob, könnten leicht "nach hinten los gehen" - im Sinne einer "Nivellierung nach unten und eben keiner besseren Finanzausstattung der auswärtigen Kulturpolitik", gibt Zimmermann zu bedenken.

NZZ, 11.03.2004

Aldo Keel sorgt sich um die seit einigen Jahren in die Krise geratene dänische Volkshochschulbewegung. Die von dem Dichterpfarrer N. F. S. Grundtvig (mehr hier) Mitte des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufene reformpädagogische Bewegung verstand sich mit ihrem antiautoritären und egalitären Impetus als Gegenpol zur bürgerlichen Hauptstadtkultur, berichtet Keel, und prägte entscheidend das Selbstverständnis der Dänen: "Grundlage des Programms, das eine vertiefte Allgemeinbildung bot, war die christliche Lehre, die für Grundtvig mit der nordischen Mythologie eng verwandt war. In seiner Dichtung 'Maskerade in Dänemark 1808' preist er Christus und den nordischen Götterchef Odin als Brüder, während die Leiche eines Greises, der Dänemark symbolisiert, auf einen Scheiterhaufen gelegt wird. Das Grabmal wird aus Gebeinen von Lüstlingen und Prassern bestehen und mit Champagner begossen werden. Mit der Volkshochschule sagte Grundtvig dem frivolen Kopenhagen den Kampf an. 'Erst Mensch, dann Christ' lautete die Parole."

Weiteres: Matthias Messmer macht mit unglücklichen und "glücklichen kleinen Prinzen" in Indien bekannt, wo die Maharadschas der ehemaligen Fürstentümer um ihre ehemaligen Paläste bangen. Diese wurden 1947, nach dem Ende der britischen Kolonialzeit, dem Staat überantwortet und sind heute, so Messmer, stark vom Verfall bedroht.

Besprochen werden eine Ausstellung über den kongolesischen Malers Cheri Samba (mehr hier) in der Pariser Fondation Cartier, eine Reihe neuer CDs, die Olaf Karnik die Kulturwissenschaft beschwören lassen, doch endlich den "virulenten Acoustic Turn" zur Kenntnis zu nehmen, eine 14-CD-Box, die die Filmmusiken des Saxophonisten John Zorn (mehr hier) versammelt (leider nur in der Druckausgabe), und Bücher, darunter Iain McCalmans Monografie des Grafen Cagliostro "Der letzte Alchemist" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 11.03.2004

"Das zerfurchte und verlebte Antlitz, man weiß nicht, was es gesehen hat, aber man meint es zu ahnen. Leibesumfang, Bierbauch, umpftata, das ganze Auftreten, jener ausladende patriarchale Zug, an dem nichts vorbeikommt. Diese Kaltschnäuzigkeit, die aus der wegwischenden Verachtung aller Konkurrenten erwächst und die sich sogar bis zum Witz steigern kann", schreibt Peter Michalzik in einer kleinen Studie zum Löwenpräsident Karl-Heinz Wildmoser.

Besprochen werden die große Rubens-Schau im Palais des Beaux-Arts in Lille und Bücher, darunter Colson Whiteheads Roman "John Henry Days" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR plus widmet sich heute der Mode: den Schauen in Mailand und Paris und dem Verhältnis der Mode zur Kunst.
Stichwörter: Paris, Whitehead, Colson

TAZ, 11.03.2004

"Letztlich ist der Film auch ein Plädoyer aus den eigenen Reihen, den türkischen Töchtern in Deutschland mehr Raum zu geben", sagt Fatih Akin in einem Interview über seinen preisgekrönten Film "Gegen die Wand", der jetzt in die Kinos kommt. "Ich will nicht als der große Moralist daherkommen. Aber ich erhoffe mir schon, dass türkische Eltern, die sich den Film angucken, auch anfangen, über Erziehung zu diskutieren. Ich glaube, viel scheitert bei uns in den Familien daran, dass zu wenig über Erziehung diskutiert wird."

"Vielleicht sind mit diesem Film die türkischen Einwanderer endgültig in Deutschland angekommen" kommentiert Dirk Knipphals auf Seite eins. "Aber mit ebenso viel Recht lässt sich sagen, dass Fatih Akins Film eins dieser geglückten Kulturerzeugnisse ist, die deutlich machen, wie sehr Deutschland insgesamt in einer zeitgemäßen Internationalität angekommen ist."

Hingewiesen sei auch noch auf eine Reportage über drei burmesische Kabarettisten namens "Moustache Brothers", die Reisende in ihr Wohnzimmer zum Variete einladen. Im Feuilleton erregt sich Gregor Jansen über die Kündigung des ambitionierten Projekts "Zeitgenössische Kunst und Kritik" in der Essener Kokerei Zollverein: "Das Schlimme hieran ist auch der Status quo einer Kulturpolitik, die überregional Schule zu machen scheint - Kulturverträge sind nichts mehr wert!" Tilman Baumgärtel informiert, wie man Saddams Söhne jetzt auch am heimischen PC verhaften kann. Und Anke Leweke hat sich mit Aelrun Goette über ihren Dokumentarfilm "Die Kinder sind tot" unterhalten.

Besprochen werden Shinja Tsukamotos Mitternachtsfilm "A Snake of June" und ein Band mit Fotografien von Paul Graham "American Night" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich TOM.

FAZ, 11.03.2004

Joseph Croitoru schreibt zum Tod des palästinensischen Terroristen Abu Abbas, der zuletzt in einem irakischen Gefängnis einsaß. Er stellt die amerikanische Behauptung in Frage, der Mann sei eines natürlichen Todes gestorben, vermutet Folter durch die Amerikaner und beschreibt Abbas' finstere Lebensleitung: "Sein Einfluss auf die Geschichte des modernen Terrorismus ist enorm", denn er ist "einer der Erfinder des mittlerweile weitverbreiteten Kampfmittels Selbstmordattentat". Abbas war es auch, der die Videovermächtnisse der Selbstmordattentäter erfand: "Wie Abbas damals auf die Idee dieser Abschiedsinszenierung kam, lässt sich nur vermuten. Offenbar agierten hier nordkoreanische Militärexperten im Hintergrund, die damals eng mit Syrien, dem Schutzpatron der palästinensischen PFLP-GC, zusammenarbeiteten: Koreaner waren von den japanischen Besatzern seinerzeit zu Selbstmordmissionen ausgebildet worden - ihr militärisches Know-how gaben Nordkoreaner später an Palästinenser wie Iraner weiter."

Weitere Artikel: Patrick Bahners bemerkt, dass Horst Köhler anders als die früheren Bundespräsidenten keine höheren politischen Ämter innehatte und dass ihm als Wächter der Verfassung somit die nötige politische Erfahrung fehle. Lorenz Jäger verweist auf einen Artikel Samuel Huntingtons in Foreign Policy, der mit den Mexikanern in den USA eine Parallelgesellschaft entstehen sieht (hier der Link zu Huntingtons Artikel). G. St. plädiert in der Leitglosse für dicke Sopranistinnen. Andreas Platthaus stellt zwei politisch-autobiografische Comics vor, die den Weg nach Deutschland gefunden haben, Joe Saccos propalästinensische Comic-Reportage "Palestine" (Bilder) und Marjane Satrapis "Persepolis" (mehr hier) über die Kindheit der Autorin im Iran. "J.M." meldet, dass der neueste Band der christlich-fundamentalistischen "Left Behind"-Serie von Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins durch Vorbestellungen bereits vor dem Erscheinen in den USA Auflagenrekorde erreicht. Gemeldet wird auch, dass Salman Rushdie zum neuen Vorsitzenden des amerikanischen PEN-Zentrums ernannt wurde.

Auf der Medienseite wird gemeldet, dass die SPD-eigene Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft mbH (DDVG) eine große Beteiligung an der Frankfurter Rundschau anstrebe. Michael Hanfeld stellt die neue Männerzeitschrift Matador vor.

Auf der Filmseite berichtet Michael Athen über die Initiative eines amerikanischen Mediziners, der Filme, in denen geraucht wird, erst ab 17 Jahren zulassen will. Abgedruckt wird Detlef Bucks sehr schöne Laudatio auf den Kameramann Slawomir Idziak aus Anlass der Verleihung des Marburger Kamerapreises.

Auf der letzten Seite werden einige Briefe zwischen Zelda und John F. Fitzgerald vorabgedruckt, die demnächst erstmals auf deutsch erscheinen. Gerhard Rohde porträtiert den Chefdirigenten der Frankfurter Oper Paolo Carignani, der offensichtlich gerade Streit mit dem Intendanten hat. Gina Thomas stellt ein Manifest der britischen Museen vor, die auf ihre stattlichen Leistungen verweisen und darum mehr staatliche Leistungen einfordern.

Besprochen werden Jan Schüttes Film "Supertex" nach einem Roman von Leon de Winter, zwei Kurzopern von Zemlinsky und Puccini in Gelsenkirchen und eine Ausstellung des Fotografen Brassai in Wolfsburg.

SZ, 11.03.2004

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Anlässlich der MOMA-Schau in Berlin befasst sich Gottfried Knapp noch einmal kritisch mit der wunderbaren Vermehrung von Kunst-Events durch weltweite intermuseale Rochaden. "Dass während der langen acht Monate, in denen die herübergeflogenen Stücke den Mies-Bau besetzt halten, die gesamten Berliner Sammlungen zur klassischen Moderne - sie würden die New Yorker Auswahl in jeder Hinsicht kongenial ergänzen - in den Depots versteckt ... sind, hat die volltrunken jubilierenden Vermittler ... offenbar in keiner Sekunde gestört. Früher fuhren Kunstkenner gezielt in eine Stadt, um Werke, die man mit diesem Ort in Verbindung brachte, in aller Ruhe zu genießen. Heute reisen die Kunstwerke unter gespenstischen Sicherheitsvorkehrungen zu Kunden, die bereit sind, in total überfüllten Räumen sich unerträglichen Bedingungen zu unterwerfen."

Weitere Themen: Andrian Kreye hat an der juristischen Fakultät der New York University eine hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion zum Thema "Patriot Act" verfolgt. Christoph Schwennike berichtet vom Kampf britischer Autoren gegen die Aufhebung der Buchpreisbindung. Sabine Doering-Manteuffel plädiert dafür, Manfred Gerners Buch "Formen, Schmuck und Symbolik im Fachwerkbau", dem vorgeworfen wird, Runenforschung in der Tradition des SS-Ahnenerbes zu betreiben, vom Markt zu nehmen. Zwar sei Gerner kein Neonazi, aber ein Spezialist auf Abwegen, "der mit dem Okkulten spielt und von Dingen spricht, die er nicht einzuschätzen weiß". Fritz Göttler verabschiedet die Hollywoodschauspielerin Frances Dee, die jetzt im Alter von 94 Jahren gestorben ist. Alexander Menden hat im Londoner Royal Court Theatre Ramin Grays Inszenierung von Wassilij Sigarews Drama "Ladybird" gesehen, und dabei den Eindruck gewonnen, als sähe man den Russen dabei zu, wie sie den Zivilisationsmüll erst entdecken, der im Westen bereits getrennt wird. Auf der Medieseite berichten Claudia Tieschky und Hans-Jürgen Jacobs über den aktuellen Stand beim Übernahmepoker um die Frankfurter Rundschau.

Besprochen werden Jan Schüttes Verfilmung von Leon de Winters Roman "Supertex", Carl Franklins Thriller "Out Of Time" (mit Denzel Washington, mit dem es auf der gleichen Seite auch ein Interview gibt), Philippe Muyls Film "Le Papillon", ("ein Film, der in seinen bestem Momenten wie auf Zehenspitzen daherkommt, sanft flüsternd und mit Weltentdeckungszauber", wie Rainer Gansera in höchster Verzückung schreibt), ein Alfred-Brendel-Konzert im Münchner Herkulessaal, eine Albert-Marquet-Ausstellung in der Münchner Pinakothek der Moderne, George Michaels neues Album "Patience" und Bücher, darunter Gerhard Henschels "Kindheitsroman" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages)