Heute in den Feuilletons

Schnee weht durch zerschossene Fenster

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.02.2012. Spiegel Online bringt die letzte Reportage der in Syrien getöten britischen Reporterin Marie Colvin. In der NZZ erklärt der serbische Autor Dragan Velikic, warum manche Kräfte in seinem Land gar nicht an einem EU-Eintritt Serbiens interessiert sind. In der Welt erzählt der Schriftsteller Michal Hvorecky von den größten Demonstrationen in der Slowakei seit 1989. Gestern vor siebzig Jahren starb Stefan Zweig - und damit werden die Rechte an seinem Werk frei. Die Israelische Nationabibliothek macht den Anfang und publiziert seinen Abschiedsbrief.

Spiegel Online, 24.02.2012

Spiegel Online bringt die letzte Reportage der in Syrien getöten britischen Reporterin Marie Colvin: "Die Pfützen in den Schlaglöchern werden zu Eis, und Schnee weht durch zerschossene Fenster. Geschäfte sind geschlossen oder zerstört, die Familien teilen das wenige, das sie haben, mit ihren Nachbarn. Viele der Toten und Verletzten gerieten bei der Suche nach Lebensmitteln ins Feuer der Armee."
Stichwörter: Syrien, Colvin, Marie

NZZ, 24.02.2012

In Serbien gibt es eine sehr einflussreiche Clique, die ganz prächtig von der Isolation des Landes lebt. Deswegen, meint der serbische Schriftsteller Dragan Velikic, betreibt die Regierung in Belgrad auch nicht entschiedener die Anbindung an die EU, deshalb ist der Mord an Zoran Djindjic noch imme nicht aufgeklärt: "Eine ganze Armee von Schmarotzern und Menschen, die jenseits der Gesetze agieren, lebt bequem von Schutzgeldern, Schmuggel und Steuerhinterziehung. Für sie hat sich seit der Milosevic-Zeit, als in Serbien die Mafia-Wirtschaft begründet wurde, wenig geändert. Zu dieser Gruppe Menschen gehören sowohl große Bosse als auch kleine Kriminelle. Die Schattenwirtschaft diktiert dem Staat ihre Gesetze. Ein großer Prozentsatz der potenziellen Wählerschaft lebt in dieser Grauzone. Der Staat kümmert sich mehr um ihre Interessen als um die der schweigenden Mehrheit. Um ihr Überleben zu sichern, paktiert die jetzige Regierung mit denen, die sie eigentlich bestrafen sollte."

Weiteres: Martina Wohlthat gratuliert dem Choreografen John Neumeier zum Siebzigsten. Joachim Güntner blickt auf 100 Jahre Filmstudio Babelsberg zurück. Besprochen werden eine Ausstellung zu Ilya Kabakov "A Return to Painting" im Sprengel Museum in Hannover, neuen Alben von den Jewrhythmics und der Amsterdam Klezmer Band.

FR/Berliner, 24.02.2012

Jens Balzer geht vor Julia Holter auf die Knie, deren Antiken-Album "Tragedy" er schon post-retro findet - und auf diesem "den süßesten, schroffsten und wandlungsreichsten Pop-Gesang, den man sich vorstellen kann".

Stephan Hebel votiert für Joachim Gauck: "als personifiziertes Gegenbild zu einer Politikergeneration, die meint, dass es genüge, die bestehenden Verhältnisse halbwegs unfallfrei zu verwalten." Dirk Pilz stellt Neuerscheinungen zu den Ursprüngen des Abendlandes in Athen und Jerusalem vor. Besprochen werden die neue CD "Folk Tunes" der Band Spark und Andreas Maiers Roman "Das Haus" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 24.02.2012

Gestern vor siebzig Jahren hat sich Stefan Zweig das Leben genommen - und das heißt auch: die Rechte auf sein Werk werden frei. Die Israelische Nationalbibliothek macht den ersten Schritt und stellt laut einer Agenturmeldung in der Presse den Abschiedsbrief online, den Zweig vor seinem Selbstmord geschrieben hat: "Nach Angaben der Nationalbibliothek hatte Zweig schon 1933 Interesse daran bekundet, einen Teil seines persönlichen Archivs an die Einrichtung in Jerusalem zu übergeben. Dort gibt es daher heute ein Stefan-Zweig-Archiv."

Die Presse bringt eine ziemlich irre Fotostrecke: "Full Beauty".
Stichwörter: Zweig, Stefan

Welt, 24.02.2012

Mal wieder unbemerkt von der nicht existierenden europäischen Öffentlichkeit geht es im Moment nicht nur in Griechenland, sondern auch in der Slowakei hoch her: Schuldenkrise, Arbeitslosigkeit auch in diesem Euro-Land. Das schlimmste aber ist die Korruption, die die größten Demonstrationen seit 1989 provoziert hat, schreibt der Schriftsteller Michal Hvorecky: "Im Dezember 2011 wurde das Dokument 'Gorilla' des slowakischen Geheimdienstes aus den Jahren 2005 und 2006 anonym im Internet veröffentlicht. Es beweist, dass die von der damaligen Regierung durchgeführten Privatisierungen durch die mächtige Finanzgruppe Penta gesteuert wurden. Penta zahlte an Politiker und politische Parteien, rechts und auch links, Provisionen in Millionenhöhe."

Weitere Artikel: Der Sprachforscher Karl-Heinz Göttert verweist auf eine Studie seiner Kollegin Heike Wiese, die herausgefunden hat, dass das in Neukölln und anderen Vierteln mit Migrationshintergrund gesprochene "Kiez-Deutsch" ein veritabler Dialekt ist - und zwar ein deutscher. Matthias Heine berichtet, dass skandinavische Theater anfangen sich mit Anders Breivik auseinanderzusetzen. Manuel Brug gratuliert John Neumeier zum Siebzigsten. Und Feuilleton-Kolumnist Marc Reichwein rümpft über "Maschen des Storytelling" in Geschichten über den Literaturbetrieb beim Spiegel gehörig die Nase.

Auf der Forumsseite erklärt Claus-Christian Malzahn, warum ehemals linke DDR-Dissidenten (wie Hans-Jochen Tschiche, hier) heute Gauck nicht mögen: Weil er anders als sie keinen Fortbestand der DDR wollte.

TAZ, 24.02.2012

In Sachen Gauck: Jürgen Trittin wirft der taz "Schweinejournalismus" vor, gestern Abend bei Mybrit Illner.



Oranus Mahmoodi stellt das Programm des Black History Month (BHM) in Hamburg und Berlin vor, eine Art "Veranstaltungsmarathon zur Stärkung des Selbstbewusstseins als Schwarze", bei dem unter anderem auch wieder der Sänger Arenor Anuku wieder auftreten wird. Allenfalls Schwiegermutterfernsehen sei aus der neuen ZDF-Krimiserie "Die Chefin" von Autor Orkun Ertener geworden, findet David Denk.

Besprochen werden das neue Album "Parastrophics" des Elektronik-Duos Mouse on Mars und das Rockalbum "The Stars Are Indifferent To Astronomy" der amerikanische Alternative-Rock-Band Nada Surf.

Und Tom.

SZ, 24.02.2012

Mehr Stilübungen wünscht sich eine auch von der "Diez contra Kracht"-Angelegenheit enttäuschte Ina Hartwig von den Gegenwartsliteraten und dass gegenwärtige Kritiker ihren "Realismus-Ekel" ablegen mögen: "Man sollte den Schriftstellern unbedingt ihre Neigungen, ihre Ticks und Spleens lassen, ihren Röntgenblick, ihr exzentrisches Zeitgefühl: das eben, was sie unterscheidet. Das, was die Phantasie überhaupt erst in Literatur verwandelt. Ob sie dabei an romantische, phantastische, paranoide, magische oder realistische Traditionen anknüpfen, ob sie Langgedichte oder Kurzromane schreiben, ob sie barock oder karg formulieren, ist gleichgültig."

Weitere Artikel: Tim Parks umkreist in einem übersetzten Artikel (hier das Original) die Frage, ob die politischen Einschnitte in Italien wirklich die Mentalität der italienischen Bevölkerung und ihr Verhältnis zum Staat ändern könnten. Joseph Hanimann blättert im abschließenden Band von Patrick Rambauds Sarkozy-Chronik "Chronique du règne de Nicolas Ier", die "mehr als bloß Satire oder Karikatur" ist. Peter Laudenbach beobachtet in Falladas "Trinker" am Berliner Maxim Gorki Theater und in Kaisers "Von morgens bis mitternachts" am Schauspiel Leizipig "Abstürze aus der bürgerlichen Existenz". Michael Struck-Schloen unterhält sich mit dem Dirigent Konrad Junghänel über die Relevanz von Repertoireaufführungen. Willi Winkler schreibt den Nachruf auf den Verleger Barney Rosset. Dorion Weickmann gratuliert dem Choreografen John Neumeier zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden eine große Cindy-Sherman-Schau im Museum of Modern Art in New York, der Dokumentarfilm "Viva las Antipodas", eine Ausstellungen über architektonische Herausforderungen beim Moscheenbau in der ifa-Galerie Stuttgart, sowie Jürg Laederachs Erzählband "Harmfuls Hölle" und eine Studie von Ute Frevert über die "Gefühspolitik" Friedrichs des Großen (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 24.02.2012

Zwar grundsätzlich "bahnbrechend" findet Oliver Tolmein die Forderung des Deutschen Ethikrats in seiner Stellungnahme zum Thema "Intersexualität" (hier als pdf), beim Eintrag ins Geburtenregister neben den üblichen Geschlechtsangaben auch den Eintrag "anderes" zuzulassen, doch geht ihm dieser Schritt noch nicht weit genug (In seinem FAZ-Blog kommentiert Tolmein die Stellungnahme im Detail.) Aus China übermittelt Mark Siemons Nachrichten über eine Debatte um die Region Chongqing, wo die örtliche Politik hartnäckig eine maoistisch geprägte, von der Nationaldoktrin abweichende Agenda verfolgt. Dieter Bartetzko rauft sich die Haare darüber, dass Frankfurts Denkmalamt "kein sinnvoller Umgang mit dem historischen Bestand" der Stadt gelingen will. Christian Geyer blättert in Joachim Gaucks Essaybändchen "Freiheit", dass "die Grundelemente dessen Sprechens, die Gaucksche Erfolgsmischung aus psychotherapeutischer und theologisierender Animation, getragen vom autobiographischen Erfahrungsanspruch" enthalte. Außerdem berichtet Christian Geyer von der Berliner Gedenkveranstaltung für die Opfer der Zwickauer Nazi-Terrorzelle. Jordan Mejias schreibt den knappen Nachruf auf den Verleger Barney Rosset.

Auf der Medienseite nehmen Experten ganzseitig und sehr nützlich einzelne Bestimmungen des geplanten Acta-Abkommens auseinander.

Besprochen werden die Ausstellung "The Ungovernables" im New Museum in New York, Angelina Jolies Regiedebüt "In the Land of Blood and Honey", der Thriller "Safe House" und neue Kafka-Lesebücher (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).