9punkt - Die Debattenrundschau

Maximale Toleranz

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.09.2018. Die NZZ sucht nach Ursachen für die Lähmung der Gesellschaft in Polen. In einem gleichen sich die klassischen Parteien und die AfD, findet Necla Kelek im Redaktionsnnetzwerk Deutschland: Beide haben kein Konzept für Integration. Im Standard knüpft sich Samuel Schirmbeck die Linke und den Islam vor. In der taz sucht ein linker Brexit-Gegner nach Argumenten.  Und Lokaljournalismus in Deutschland ist doch eher unkritisch, hat eine Studie in Trier herausgefunden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.09.2018 finden Sie hier

Medien

In vielen Kommunen gibt es nur dürftige Berichterstattung, weil es meist nur eine Lokalzeitung gibt, die vor allem darauf achtet, dass niemand ihr Konkurrenz macht. So etwa im baden-württembergischen Crailsheim, wo die Südwest Presse gegen die Stadt klagte, weil diese eine Wochenzeitung herausbringt. Der Prozess ging schon durch mehrere Instanzen, berichtet Christian Rath in der taz. Und die Zeitung wird gewinnen: "Der Bundesgerichtshof gab zu erkennen, dass er wohl eher der Südwest Presse folgen wird - wie schon die Vorinstanzen Landgericht Ellwangen und Oberlandesgericht Stuttgart. Der Vorsitzende BGH-Richter Thomas Koch betonte, dass Kommunen Teil des Staates seien und deshalb keine Grundrechte hätten. Es gehe deshalb nicht um einen Interessenausgleich zwischen Kommunen und Presse."

Dazu passt, dass die Uni Trier gerade eine Studie zum Zustand des Lokaljournalismus vorstellte, wie das Stiftungsblog vor-ort.nrw berichtet. Aspekte sollen sich zwar verbessert haben, die prinzipielle Kritik am Genre aber bleibt: Lokaljournalismus "sei immer noch dadurch charakterisiert, dass eher unkritisch über lokales Geschehen berichtet werde, wenig Hintergründe vorkommen, die Vielfalt an Darstellungsformen eher gering ausfalle und die Möglichkeiten der Leser-Partizipation selten ausgeschöpft werden."

Der taz-Geschäftsführer Kalle Ruch ist der einzige in der deutschen Verlegerszene, der ernst macht und die Printzeitung abschaffen will, berichtet Jens Twiehaus bei turi2. Ruch stellte gestern das neue taz-Haus in Berlin und seine Pläne für die Zeitung vor: Ohne Printausgabe "würde die taz rund 1,8 Millionen Euro Druckkosten, 3,5 Millionen Euro für Vertrieb und 1,1 Millionen Euro Speditionskosten sparen. Die fehlenden fast 16 Millionen Euro aus Print-Abos und 1,1 Millionen Euro aus Print-Einzelverkauf müssten aber von steigenden digitalen Umsätzen ausgeglichen werden."
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Europa

Die Debatten um den Brexit gewinnen wieder an Dynamik: "Entscheidend werden die Jahresparteitage Labours kommende Woche und der Konservativen in der Woche danach", berichtet Daniel Zylbersztajn in der taz. Und  Theresa May wird am Ende ein Parlaments-Votum brauchen, um ihren Deal zu verwirklichen. Der Aktivist Philip Cunliffe hat die Gruppe "The Full Brexit" gegründet, eine Gruppe linker Brexit-Befürworter, und legt in der taz seine Argumente vor: "Viele von uns sehen das Brexit-Votum als Volksaufstand gegen einen parteiübergreifenden Elitekonsens und als Geltendmachung von Demokratie gegen die von der EU verkörperte Technokratie und transnationale Regierungsführung... Dass die britische Linke dem Brexit so feindselig gegenüber steht, entspricht einem tiefen britischen Provinzialismus - eine Weigerung, zur Kenntnis zu nehmen, was in der EU passiert. Nur selten wird in der britischen Debatte wahrgenommen, dass die EU eine desaströse neoliberale Politik verfolgt, die ihre südlichen Mitgliedsstaaten in die Armut gedrängt hat."

Felix Ackermann liefert für die NZZ einen Stimmungsbericht aus Polen, wo man darüber nachdenkt, warum so viele Polen der PiS-Regierung gegenüber gleichgültig bleiben. Das Gefühl, kein handelndes Subjekt zu sein, erklärt zum Beispiel der Philosoph Andrzej Leder unter anderem mit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg: "Leder argumentiert, dass der nationalsozialistische Mord an den polnischen Juden und die nach Kriegsende erfolgte Beseitigung der Landbesitzer als Klasse die Grundlagen für die heutige Lähmung der Gesellschaft gelegt hätten. Die meisten Bürger betrachten diese Umwälzungen, als seien alle Polen gänzlich Unbeteiligte an nationalsozialistischer und kommunistischer Herrschaft gewesen. Er verweist auf die Aneignung des Eigentums von drei Millionen polnischen Juden und auf die sozialen Rollen, die Polen im Zuge der sozialistischen Modernisierung im Nachkriegsstaat übernommen hatten. Das heutige Bürgertum in Polen sei das Ergebnis dieser Prozesse, und weil es sich diese Herkunft nicht eingestehe, verinnerliche es sich nicht als handelnde Kraft: 'Ein unbewusst gebliebenes Gefühl der Schuld lähmt das Denken.'"
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Gesellschaft

In einem gleichen sich die traditionellen Parteien und die AfD, schreibt Necla Kelek im Redaktionsnnetzwerk Deutschland: "Die bewusste Leugnung der Probleme der Migration durch die bürgerlichen Parteien hat dazu geführt, dass sich eine Gruppierung wie die AfD - inzwischen die stärkste Oppositionspartei im Bundestag - als Verkünder von Wahrheiten und als Interessenvertreter einer schweigenden Mehrheit inszenieren kann. Dabei hat auch die AfD außer Protest, Anklage sowie kalkulierten Ausfällen und Tabubrüchen keine ernsthafte Alternative zu bieten. Lösungskonzepte? Auch hier Fehlanzeige."

Die Sprach- Islam- und Genderforscherin Reyhan Sahin, auch als Rapperin Lady Bitch Ray bekannt, greift in der taz in den Streit zwischen "intersektionalen" Feministinnen, die sich jüngst bei den Grünen versammelten, und klassischen Feministinnen um Alice Schwarzer auf, die sie brav im Sinne der Intersektionalität als rassistisch gegenüber einer Religion kritisiert. Dann aber muss sie feststellen, dass das Kopftuch sich leider nirgends als Symbol der Emanzipation zu erkennen gibt: "Wie politische Akteur*innen in Moscheeverbänden teilweise frauen- und minderheitenfeindliche Strukturen aktiv unterstützen, wird weder thematisiert noch kritisch betrachtet. Dabei wäre genau dies die Aufgabe von intersektionalen und antirassistisch orientierten Feminist*innen. Diese Kritik schließt eine Solidarisierung mit Minderheiten ja nicht per se aus, im Gegenteil."

Kräftig greift im Standard Samuel Schirmbeck, Autor des Buchs "Gefährliche Toleranz - Der fatale Umgang der Linken mit dem Islam", den "Orientalismus" der deutschen Linken an: "Die deutsche Linke und der Islam, das ist eine monströse Geschichte. Denn es ist die Begegnung zweier Seelenlagen, jede von ihnen voller Schuldgefühle. Das linke Schuldgefühl kommt aus der Hölle der deutschen Vergangenheit. Das islamische Schuldgefühl kommt aus dem allmächtigen Himmel, in dessen Dienst die muslimische Welt ihre Zukunft verpasst. Das linke Schuldgefühl entlastet sich durch maximale Toleranz. Das islamische Schuldgefühl besänftigt sich durch maximale Intoleranz. Beide Schuldgefühle erzeugen ein Monstrum an Irrationalität auf deutschem Boden."

In der FAZ informiert Wiebke Hüster über die Vorwürfe gegen den Choreografen Jan Fabre, dem eine Reihe von Tänzerinnen sexuellen Missbrauch vorwirft. Fabre hat das entschieden bestritten. Was soll die Öffentlichkeit in so einem Fall tun? "Es geht ... nicht an, Jan Fabre vorzuverurteilen. Er hat inzwischen seinen Anwalt ausrichten lassen, es handele es sich bei dem Brief von zwanzig ehemaligen Tänzern und Auszubildenden um eine 'orchestrierte Aktion'. Es geht aber auch nicht an, die Berichte der Frauen mit dem Argument abzutun, was dachtet ihr denn, was es heißt, wenn er euch zu sich nach Hause einlädt, euch ein Glas Wein anbietet, intime Fotos macht, für die er euch bezahlt? Dass er nicht versucht, euch zu verführen? Selbst wenn sie darauf hätten kommen können, wäre es er gewesen, der diese Situation hätte vermeiden müssen."

Ähnlich hilflos fühlt man sich bei der Lektüre des Interviews des New York Magazines, wo Woody Allens Frau (und Mia Farrows Adoptivtochter) Soon-Yi Previn Allen gegen Vorwürfe verteidigt, er habe seine Adoptivtochter Dylan als Kind missbraucht.
Archiv: Gesellschaft

Internet

Algorithmische Entscheidungsprozesse können das Funktionieren der Demokratie berühren - die Ursünde der amerikanischen Wahlwerbung bei Facebook hat es gezeigt. Der Informatiker Olivier Ertzscheid fordert darum in Libération, dass Algorithmen demokratisch überprüfbar sein müssen: Vor allem sei es "zwingend erforderlich, dass  jedes Projekt einer algorithmischen Governance, sobald sie wesentliche Sektoren (Verkehr, Bildung, Gesundheit, Justiz, Sicherheit) berührt, notwendigerweise und gesetzlich vorgeschrieben nach dem Vorbild der GNU-GPL-Lizenzen für freie Software entwickelt wird, um ein Minimum an vollständiger und nachhaltiger Kontrollierbarkeit der Prozesse zu gewährleisten."
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Ideen

In der NZZ diagnostiziert der Literaturwissenschaftler Uwe C. Steiner eine "moralische Epidemie" um den Vorwurf des Rassismus: "Immer niedriger sinkt die Schwelle zum sanktionsbedürftigen Verhalten und zum skandalösen Sprachgebrauch. Auf einmal versündigt sich schon, wer 'Flüchtlinge' statt 'Geflüchtete' sagt. Man maßt sich an, als Stimme der unterstellt Erniedrigten zu sprechen, um milieukonform um moralische Distinktionsgewinne zu rivalisieren. Es stellt sich ein, was René Girard mimetische Rivalität genannt hat. Man steckt sich gegenseitig mit seiner Erregung an. Bald eskaliert der Konflikt und heischt Sündenböcke, Opfer, denen das sonst allerorten geforderte Opferprestige verweigert wird. Kommt doch schon die Anklage dem Schuldspruch gleich und mündet in die soziale Ächtung."

Der Philosoph Julian Nida-Rümelin und seine Frau, die Filmwissenschaftlerin Nathalie Weidenfeld plädieren im SZ-Gespräch über künstliche Intelligenz für einen "digitalen Humanismus", der sich dem chinesischen System der Normierung ebenso widersetzt wie amerikanischem Libertarismus. Ein optimistisches Wort immerhin am Ende des Gesprächs zu den Chancen digitaler Kommunikation: "Es kann sich ... fast jeder mit den digitalen Möglichkeiten zu fast jedem Thema informieren. Es gibt ein Problem mit der Unterscheidung von seriösen und nicht serösen Inhalten, aber insgesamt ist das ideal für die Demokratie. Alle haben Zugang. Und wir haben die Möglichkeit, Argumente und Thesen in einen offenen Prozess der Beteiligung einzubringen. Das funktioniert aber nur, wenn man es nicht zum Ersatz macht, sondern als eine Art ständig begleitende, digitale Beratungsfunktion für die politischen Entscheidungsträger. Man bindet die professionelle Politik auf diesem Weg enger an die Meinungsbildung der Bürgerschaft. Das ist ein noch unausgeschöpftes Potenzial."
Archiv: Ideen