Heute in den Feuilletons

Vielsprachiger Megaaustausch

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.02.2011. Die taz ist heute grün statt rot. Und Alexander Kluge rät zu einem konstruktiven Akt der Solidarität für Jafar Panahi. In der Welt schreibt Andrzej Stasiuk über finstere polnische Reaktionen auf Jan Gross' Buch über Antisemitismus im Nachkriegspolen.  Im Blog der New York Review of Books erzählt Yasmine El Rashidi, wie sie Mubaraks Rede und die Reaktion der Ägypter erlebte. Mehrere Feuilletons lesen Daniel Domscheit-Bergs Abrechnung Julian Assange.

TAZ, 11.02.2011

Aus Solidarität mit den beiden iranischen Regisseuren Jafar Panahi und Mohammad Rasoulof ist die taz heute grün statt rot. Ines Kappert unterhält sich mit Alexander Kluge, der sich verschiedene Protesformen vorstellen kann: "Äußerliche Demonstrationen, wie etwa die Unterbrechung der Berlinale, das Aufstellen einer Fahne, 900 Kerzen werden angezündet, sind kein produktiver Akt, sondern ein demonstrativer. Wenn man aber sagen würde, wir Filmemacher legen zusammen und erzählen aus Prostest gemeinsam eine Geschichte Persiens, wir nehmen dieses Land ernst, dann würden wir ausdrücken: Wer solche Verfolgungsmaßnahmen ergreift, nimmt sich selbst nicht ernst. So etwas halte ich für wirksam. Es gibt in Deutschland ja keine richtige Vorstellung von Persien."

Weitere Artikel zum Thema Iran: Die Islamwissenschaftlerin und Publizistin Katajun Amirpur schreibt in einem Essay über die Angst, die die Revolution in Ägypten beim Teheraner Regime auslöst. Bahman Nirumand erklärt die Auswirkungen des Wirtschaftsembargos gegen Iran.

Uwa Rada berichtet von der Buchmesse in Minsk, wo Deutschland in diesem Jahr Gastland ist. Meike Laaff besuchte die Präsentation des Buchs von Daniel Domscheit-Berg, der in "Inside Wikileaks" über seine Zeit bei der Whistleblower-Plattform erzählt und mit Julian Assange abrechnet. Besprochen wird das neue Album "Let England Shake" der britischen Musikerin PJ Harvey.

Außerdem erscheint heute Le Monde diplomatique.

Und Tom.

Welt, 11.02.2011

Noch bevor es im März auf polnisch erscheint, erzürnt Jan T. Gross' Buch "Fear: Anti-Semitism in Poland After Auschwitz" viele Polen. Er erzählt darin, wie polnische Bauern nach dem Krieg die Asche der Juden ausgruben und siebten, um Gold zu finden, das die Nazis übersehen hatten. "Wir haben es nicht verstanden, ihre Tode zu beweinen", schreibt Andrzej Stasiuk dazu: "Wir halten es mit der eigenen Erinnerung nicht aus. Sie scheint uns untragbar zu sein. Ein ganz einfaches Buch darüber, dass wir nicht ganz so schuldlos sind, wie wir es gerne wären, weckt die Dämonen."

Weitere Artikel: Im Aufmacher begutachtet Beat Wyss die hochauflösend digitalisierten Kunstwerke des Google Art Projects. Richard Kämmerlings sieht sich die Liste der für den Leipziger Buchpreis nominierten belletristischen Bücher an und findet heraus, dass kein Roman aus dieser Saison, sondern nur Herbstromane und Erzählungen darauf stehen. Ralf Krämer erinnert an Ingmar Bergman, dem die Berlinale-Retro gewidmet ist.

Besprochen werden der neue Coen-Brüder-Film "True Grit" (mehr hier), ein Band mit Essays des Neocon-Klassikers Irving Kristol (mehr hier und hier) und Daniel Domscheit-Bergs Buch über WikiLeaks.

FR, 11.02.2011

Daniel Kothenschulte feiert den Berlinale-Eröffnungsfilm "True Grit" von Joel und Ethan Coen und findet auch ihre Entscheidung gegen den Humor und für das Pathos ganz richtig: "So muss eine Literaturverfilmung sein." Anke Westphal stellt Britta Wauers Panorama-Dokumentation "Im Himmel, unter der Erde" über den Jüdischen Friedhof von Weißensee vor.

Gut gefallen hat Peter Michalzik Kathrin Rögglas in Mannheim aufgeführtes Stück "die unvermeidlichen", das ihm einiges über Dolmetscher und die Politik beibrachte: "Die Konferenz ist, zumal in ihrer höchstentwickelten Form, als vielsprachiger Megaaustausch des internationalen Polit-Jet-Sets, im Jahr 2011 längst die eigentliche Daseinsform des Politischen geworden: sachorientiert, hochgradig vernetzt, global aufgestellt und vorzugsweise ergebnislos."

Weiteres: Peter Iden blickt auf die 25-jährige Geschichte der Frankfurter Schirn Kunsthalle zurück. Sandra Danicke besucht ebenda eine Surrealismus-Ausstellung.

NZZ, 11.02.2011

Der Bremer Islamwissenschaftler Alexander Flores betont die Vorreiterrolle, die Ägypten jahrzehntelang in der arabischen Welt innehatte: "Ägyptens geistiger Führungsanspruch beruht auf der Tatsache, dass hier die Lebensfrage der modernen arabischen Welt - Selbstbehauptung in der Auseinandersetzung mit westlicher Dominanz unter Wahrung von Identität und Würde - am frühesten, auf breitester Ebene und am deutlichsten gestellt wurde."

Weiteres: Olaf Karnik erklärt die Bedeutung von Derridas Hauntology-Konzept für den britischen Elektro-Pop. Markus Ganz feiert PJ Harveys Album "Let England Shake". Besprochen werden die Schau "Götter, Götzen und Idole" im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg, die Paul-Bonatz-Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt und ein in Luzern uraufgeführtes Doppelkonzert, das Rodion Schtschedrin für Martha Argerich und Mischa Maisky geschriebene hat.

Aus den Blogs, 11.02.2011

Yasmine El Rashidi erzählt im Blog der NY Review of Books, wie sie auf dem Tahrir-Platz in dieser Nacht Mubaraks Rede und die Reaktion der Ägypter erlebte: "When it ended, the people gathered around the square broke into piercing chants: 'We don't want dialogue, we just want you out.' One man said Mubarak was 'a donkey who just doesn't understand.' Another threw his hands in the air, shouting, 'what planet is he on, he's crazy.' Beside me, a friend recalled a statement the president made several years ago, when he said 'I have a PhD in stubbornness.'"

Und dann natürlich dieses optimistische Tweet, das unter dem Hashtag #jan25 kursiert:


Stichwörter: Tahrir, Tahrir-Platz

Weitere Medien, 11.02.2011

(Via Margaret Atwood). Die BBC berichtet von Tendenzen zur Versöhnung zwischen den Religionen auf dem Tahrir-Platz. Ein Zeichen, das Kreuz und Halbmond verschränkt, prangt auf vielen Plakaten: "A group of young men and women belted out a song of the 1919 revolution, accompanied by a guitar. 'Arise O Egypt, arise. Arise Egyptians: Muslims, Christians and Jews.""

SZ, 11.02.2011

Niklas Hofmann hat Daniel Domscheit-Bergs Abrechnungs-Buch über seine Zeit mit Wikileaks und Julian Assange gelesen. Er staunt, dass die "Organisation" die längste Zeit wohl nur aus Domscheit-Berg und Assange selbst bestand. Und er nimmt zur Kenntnis, dass offenbar an den negativen Urteilen über Assange sehr viel dran ist: "Daniel Domscheit-Berg zeichnet Assange als eine manische Figur, einen Mann mit unwahrscheinlichen Gaben, der Beispielloses erreicht, aber sein eigenes Werk auch nach Kräften selbst wieder einreißt." (Tja, erst Guardian, NYT und der Spiegel, jetzt Domscheit-Berg - es ist wirklich sagenhaft, wie sich alle an Assange bereichern, indem sie über ihn lästern.)

Weitere Artikel: Barbara Gärtner schildert, wie der eigentlich gesunde Kunstbuchverlag Hatje Cantz in Insolvenzgefahr geraten konnte. Über den architektonisch gelungenen Erweiterungsbau des Wormser Stadttheaters freut sich Laura Weissmüller. Katherine Fleming würdigt den verstorbenen Tony Judt als großen und furchterregend konzentrierten Leser. Claus Leggewie fragt mir Blick auf Judts letztes Buch "Dem Land geht es schlecht", ob es noch Chancen für eine soziale Demokratie gibt, wo sich die SPD nicht mehr drum kümmert. Über die "Verschlankung" des Allgemeinen Künstlerlexikons informiert Ira Mazzoni. Jonathan Fischer gratuliert dem Pianisten Sergio Mendes zum Siebzigsten.

Für die Berlinale-Seite unterhält sich Rainer Gansera mit Wim Wenders über seinen 3D-Film "Pina". In der Glosse weiß Tobias Kniebe zu berichten, dass Bernd Eichinger und die Berliner Schule sich weit weniger spinnefeind waren, als es das Vorurteil will.

Besprochen werden eine Westend-Inszenierung von "The Children's Hour" unter Polizeischutz der mitspielenden Stars Ellen Burstyn, Elisabeth Moss und - vor allem - Keira Knightley wegen, zweimal Calixto Bieito, einmal als Regisseur von Mauricio Kagels "Aus Deutschland" in Freiburg, einmal als Gegenstand des Dokumentarfilms "Die singende Stadt" von Vadim Jendreyko, das neue Bright-Eyes-Album "The People's Key" und Bücher, darunter Tony Judts Vermächtnis "Dem Land geht es schlecht" sowie - von Christopher Schmidt harsch kritisiertArno Geigers Vaterbuch "Der alte König in seinem Exil" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 11.02.2011

Über das immer größer werdende Problem des "Daten-Tsunamis" in unserer digitalen Gegenwart informiert Joachim Müller-Jung. Wir produzieren inzwischen sehr viel mehr Daten als sich verarbeiten und speichern lassen. Mit potenziell bedrohlichen Folgen: "Klima- und Genomforscher, Astronomen, Teilchenphysiker und Geheimdienste müssen sich inzwischen überlegen, welche Daten - und damit möglicherweise wertvollen Informationen - sie schon vor der Ablage und Auswertung verloren geben. ... 'Mehr ist weniger', lautet mittlerweile die Losung."

Weitere Artikel: Detlef Borchers schildert den nach dem Buch des Ex-Assange-Verbündeten Daniel Domscheit-Berg "eskalierenden Rosenkrieg" rund um Wikileaks. Im neu eröffneten Museum für moderne arabische Kunst in Qatar hat sich Gerwin Zohlen umgesehen (schön dass die Feuilletons immer wieder Gelder finden, um ihre Autoren in neue eröffnete Museen auf der arabischen Halbinsel zu schicken!) Bert Rebhandl berichtet von einer Podiumsdiskussion über den umstrittenen türkischen Film "Tal der Wölfe Palästina". In der Glosse muss Gina Thomas feststellen, dass zu Charles Dickens' 200. Geburtstag geschieht, was sich der Dichter testamentarisch ausdrücklich verbat: es werden Denkmäler für ihn errichtet. Warum dem Hatje-Cantz-Verlag ohne eigenes Verschulden die Insolvenz droht, erklärt Swantje Karich.

Die Berlinale-Seite bringt Wim Wenders' Hommage an Ingmar Bergman. Hans-Jörg Rother hat die Filme der "Perspektive Deutsches Kino" gesichtet. Rüdiger Suchsland macht auf Höhepunkte der Sektion "Generation" aufmerksam. Und Andreas Platthaus freut sich über die überzeugenden Nachhaltigkeits-Bemühungen des Festivals.

Besprochen werden ein Abend mit dem American Ballet Theater in London, die Felix Gonzalez-Torres-Retrospektive im Frankfurter Museum für Moderne Kunst sowie im Frankfurter Stadtraum, der Berlinale-Eröffnungsfilm der Coen-Brüder "True Grit", und Bücher, darunter Thomas Glavinics neuer Roman "Lisa" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).