Heute in den Feuilletons

All diese Liebesworte im Vietnamesischen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.12.2010. Die NZZ denkt über Freiheit nach: Vorsicht, anstrengend, warnt Rüdiger Safranski. Wo ist die Freiheit auffindbar?, fragt Peter Nadas. Die taz erscheint heute als Erzähl-taz mit Geschichten von 20 SchriftstellerInnen. In der Welt plaudert Christian Thielemann über seine bevorzugten Drogen. Die FAZ erzählt, warum Renzo Piano das Pariser Kino Le Gaumont-Gobelins Rodin in einen Insektenpanzer verwandelt. In der SZ erzählt der Comic-Künstler Stephane Heuet, wie man seinen Proust vom Sockel holt. Wir wünschen allen Lesern einen guten Rutsch und viele Liebesworte im neuen Jahr!

NZZ, 31.12.2010

Literatur und Kunst hat sicher der Freiheit verschrieben. Der Schriftsteller Rüdiger Safranski erinnert an Grundsätzliches: "Man muss sie sich schon auch nehmen. Man muss sie wollen. Sie ist auch anstrengend, weil sie mit Verantwortung und Risiken verbunden ist. Man kann sie unter dem starken Druck von Befehlen und dem sanfteren Druck des Konformismus preisgeben. Aber auch dann wird man sie nicht los."

Sein ungarischer Kollege Peter Nadas fragt:

"Wo ist die Freiheit auffindbar
Wo ist die Freiheit auffindbar.
Ist sie Materie, ein Begriff oder Hirngespinst.
Ist sie an bestimmten Orten vorzufinden,
oder haust sie in den Köpfen...

Außerdem träumt Alice Schwarzer von Freiheit und vom Frieden zwischen den Geschlechtern. Alfred Brendel, der nächste Woche achtzig wird, blickt auf sechzig Jahre Musikleben zurück. Abgedruckt wird ein auch Vortrag Hans Ulrich Gumbrechts über unsere Bewunderung für Sportler. Besprochen werden Carlos Maria Dominguez' Erzählung "Die blinde Küste" und Robert Schopflochers Erinnerungen "Weit von wo" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Im Feuilleton schreibt Martin Meyer über virtuelle und reale Existenz. eine Inszenierung von Charles Lecocqs "La Fille de Madame Angot" an der Opera de Lausanne, der Auftakt von Martin Suters neuer Krimireihe "Allmen und die Libellen". Außerdem stellt die Redaktion ihre kulturellen Highlights des Jahres vor.

TAZ, 31.12.2010

Unter dem Motto "Schön, hier zu sein" sind heute zwanzig Erzählungen von SchriftstellerInnen zu lesen. Ulf Erdmann Ziegler etwa erzählt von einem Austauschschüler in Detroit, Qi Ge erzählt vom chinesischen Wanderarbeiter Li Da, der einmal einen Regenwurm vor seiner Hütte fand und danach mit dem Tod auf dem iPad spielte, Cees Nooteboom schreibt einen Brief an Poseidon. Die in Kanada lebende Vietnamesin Kim Thuy widmet sich den Unterschieden der Sprachen der Liebe. "Ich kenne all diese Liebesworte im Vietnamesischen, doch ich wüsste nicht, wie ich sie in einem Satz verwenden sollte, vor einem Menschen, unter seinem Blick. Ich bin in einer Kultur erzogen worden, in der die feinen Nuancen dieser Worte keine Grundlage haben. Sie gelten als lächerlich, ja sogar nutzlos, angesichts der fleischlichen Begierde, der körperlichen Liebe oder der sexuellen Leidenschaft. All die Nuancen des Vietnamesischen sind verschwunden, sobald ich es wagte, ohne meine Augen mit den Händen zu bedecken, mit dem Blick den Kurven eines Liebhabers zu folgen, wie er dort ausgesetzt ist, nackt, ohne Laken oder Decke, in einem schwebenden, endlosen Moment."

Weiteres von Henning Ahrens, Parsua Bashi, Carlos Busqued, Ann Cotten, Alem Grabovac, Tom Hodgkinson, Walter Kempowski, Dirk Laucke, Giwi Margwelaschwili, Sofi Oksanen, Edo Popovic, Jochen Schmidt, Benjamin Stein, Tina Uebel, David Wagner und Detlef Kuhlbrodt legt Kalenderblätter vor, hier der Januar.

Und Tom.

Welt, 31.12.2010

Auch das Abonnementpublikum hat seinen Spaß! In einem zweiseitigen Interview mit dem gelernten Musikwissenschaftler Mathias Döpfner spricht Dirigent Christian Thielemann über Trance, Rausch und Drogen: "'Tristan' ist die Droge an sich. Eine gefährliche Droge, weil sie in uns Gefühle weckt, die wir nicht mehr abschalten können und die keine Grenze kennen. Das macht Angst. Das ist so, als wenn man dasitzt und denkt, das hier ist der Planet und dahinter ist das Weltall und was kommt dann? Das ist der 'Tristan'."

Weiteres: Torsten Thissen gratuliert der Tagesschau zur heutigen 20.000sten Sendung, ist sich aber sicher, dass die party nicht sonderlich wild aufallen wird. Welt-Neuzugang Henryk M. Broder weiß von Intellektuellen zu berichten, die sich nach erfolgreicher Therapie nicht mehr Claus Peymann, sondern RTL ansehen. Manuel Brug bereitet uns auf die silvesterliche Konzertkonkurrenz vor. Berthold Seewald berichtet von einem steinzeitlichen Massaker, dessen Täter nun ermittelt gemacht wurden.

In der Literarischen Welt erzählt Martin Mosebach die Geschichte eines Silversterabends in gehobenen-prekären Kreisen. Besprochen werden unter anderem Karen Duves Brevier "Anständig essen" und E.L. Doctorows Roman "Homer und Langley".

FR, 31.12.2010

Hannes Gamillscheg erzählt, was Tallin und das gegenüber liegende finnische Turku Turku als Europas Kulturhauptstädte für 2011 planen: "Schon in der Silvesternacht steigt [in Tallin] die große Eröffnungsfete, gefeiert wird aus zweifachem Anlass. Am 1. Januar wird Estland auch Euro-Land, und das wird mit Feuerwerk und Volksfest auf dem Theaterplatz begangen, zu dem Hellrand 'eine Überraschung von weit her' ankündigt. Turku beginnt zwei Wochen später mit einer Eröffnungsshow vor dem Forum Marinum, dann gibt es Parties mit berühmten DJs und heißen Rhythmen bis tief in die Nacht. Turku gilt in Finnland als härter, schräger, lauter als Helsinki, das spiegelt sich im Programm wider."

Weiteres: H.L. schreibt zum Tod des Jazzpianisten Billy Taylor. Besprochen werden Alexander Franks Inszenierung von Enda Walshs "Small Things" am Schauspiel Frankfurt und Bücher, darunter Leo Tolstois Lebensbuch "Für alle Tage" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 31.12.2010

Im Aufmacher von Bilder und Zeiten berichtet Andreas Platthaus über ein gewaltiges Projekt in Paris - ein Kinomuseum der einst wie jetzt mächtigen Film-Firma Pathe: "An der Avenue des Gobelins, nahe der Place d'Italie im 13. Arrondissement, wird derzeit das ehemalige Großkino 'Le Gaumont-Gobelins Rodin' umgebaut - von keinem Geringeren als Renzo Piano. Der italienische Stararchitekt wird hinter der Fassade einen langgestreckten, sich zum Schluss leicht krümmenden Bau ins Innere des Häuserblocks setzen; das gewölbte getönte Glasdach erinnert an einen riesigen Insektenpanzer. Hier wird eine Institution ihren Sitz nehmen, die sich ... der Geschichte des Kinos widmet: die Fondation Jerome Seydoux-Pathe." (mehr hier)

Außerdem erzählt Hubert Spiegel eine Familiengeschichte von Hasen und Hunden. Sarah Elsing stellt Jochen Gerz' "2-3 Straßen"-Projekt im Ruhrgebiet vor. Andreas Platthaus unterhält sich mit dem Comic-Künstler Volker Reiche ("Strizz").

Das FAZ-Feuilleton beschließt das vergehende Jahr auf der Aufmacherseite vorwiegend donaldistisch. D.O.N.A.L.D.-Ehrenpräsidente (1) Andreas Platthaus erzählt etwas von Neujahrsvorsätzen in Entenhausen. Und Ehrenpräsidente (2) Patrick Bahners unternimmt die heldenanalytische und fernsehhistorische Exegese einer Duck-Geschichte, die im Januar 1956 in Deutschland erstveröffentlicht wurde. In der Glosse assoziiert Lorenz Jäger frei über Wolfgang Schnur und Franz-Josef Degenhardts "Horsti". Jürgen Dollase setzt seinen Rückblick auf das kulinarische 2010 mit einem Ausblick aufs kommende Jahr fort. Auf der letzten Seite erzählt Marcus Jauer die Geschichte eines Manns namens Simon Brenner, eines mutmaßlichen Polizeispitzels, der eines Dezemberabends in Heidelberg einfach verschwand.

Besprochen werden die Produktion "Into the Dark" der Zeitgenössischen Oper Berlin, Frederick Wisemans Dokumentation "La Danse", neue CDs, nämlich Folge 21 der Veröffentlichungen des Husumer Festivals "Raritäten der Klaviermusik", Bedeutendes aus dem Jimi-Hendrix-Archiv und das neue Album "Rhapsody" der Band Omega, sowie Bücher, darunter die deutsche Erstübersetzung von Richard Dawkins' evolutionsbiologischem Klassiker "Der erweiterte Phänotyp" und die erste vollständige Übersetzung der Tagebücher von Samuel Pepys ins Deutsche (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie nähert sich Eva Demski Johannes Bobrowskis Gedicht "Roter Mohn":

"Leuchtender! Die wilden Winde
übersteht dein Leuchten nicht,
aber leih' mir, daß ich's binde,
dein Erglühen zum Gedicht.
..."

SZ, 31.12.2010

Mit dem französischen Comic-Künstler Stephane Heuet, der seit Jahren Marcel Prousts Klassiker "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ins Grafische bringt, unterhält sich Fritz Göttler. Heuet erklärt ihm seinen Proust so: "Jean Cocteau traf mal den Präsidenten des Goethe-Instituts, der sagte: Goethe ist ein großer unbekannter Autor in Deutschland. Die Leute sehen ihn als einen Gott, also lesen sie ihn nicht. So ist es mit Proust in Frankreich. Alle verehren ihn, keiner liest ihn. Ein heiliger Schrein, wie die Kaaba in Mekka. Viele Leute halten ihn für intellektuell, für kompliziert. Bei mir sehen sie, wie einfach er ist, wie komisch. Ich öffne der Welt Proust, aber ich öffne auch Proust die Welt."

Im Feuilleton-Aufmacher halten SZ-AutorInnen fest, was vom Jahr 2010 bleiben sollte oder besser auch nicht, von Angela Merkels informierter Sarrazin-Nicht-Lektüre über fortgesetzte Roman-Adaptions-Wut auf deutschen Bühnen bis zur Geißlerschen Schlichtung im Geiste des Hornberger Schießens. Ebenso kleinteilig stimmt die Literaturseite auf das Jahr der Chemie 2011 ein. Aus einem Italien, in dem sich zum 150. Nationalgeburtstag im Norden wie Süden wenig Gründe zum Feiern finden, berichtet Henning Klüver. Eva Karcher war dabei, als im Pinchuk Art Center in Kiew der Future Generation Art Prize verliehen wurde und stellt durchaus erfreut fest, dass mit der Brasilianerin Cinthia Marcelle und dem Nicolae Mircea zwei bislang recht Unbekannte ausgezeichnet wurden. Alex Rühle folgt den Bildern der Menschheit von 1977 durchs All. Manfred Schwarz gratuliert dem Künstler Imi Knoebel zum Siebzigsten. Einen kurzen Nachruf auf den Arts & Letters Daily-Gründer Denis Dutton hat Fritz Göttler verfasst. Besprochen wird Massy Tadjedins Film "Last Night" (mehr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende denkt Benjamin Henrichs über den Schlussapplaus im Theater nach. Arne Petras berichtet von schlaflosen Nächten im immer lauten Kampala. Auf der Historienseite blickt der Familienrechtler Dieter Schwab voraus auf die Abschaffung der Ehe im Jahr 2014. Im Interview mit Kerstin Holzer spricht Karl Lagerfeld über Nicolas Berggruen, seine Abneigung gegen Neumodisches wie das Internet und auch über "Visionen".