9punkt - Die Debattenrundschau

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Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.04.2020. Erste Lockerungen. Die Berliner drängeln sich in Parks. Endlich wieder Wegbier trinken! Unterdessen geht die Krise weiter. Die taz erzählt vom Sterben in Zeiten von Corona in Ecuador bei 34 Grad im Schatten. Le Monde recherchiert, wie Frankreich bei der Bewältigung der Krise wieder über seinen Zentralismus stolperte. Die FAZ vergleicht Sterblichkeitsstatistiken, an denen Deutschland nicht teilnimmt. Und in der NZZ attackiert Giorgio Agamben den Papst. Außerdem: Achille Mbembe ist nur Symptom für ein antirassistisches Denken, das sich keinen Begriff vom Antisemitismus machen will, schreiben Meron Mendel und Saba-Nur Cheema vom Frankfurter Anne-Frank-Zentrum in der taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.04.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Wenn die Berliner gestern etwas ernst genommen haben, dann waren es die Lockerungsmaßnahmen:


Wir gewinnen durch die Coronakrise ein neues Bild vom Staat, sagt der Soziologe Armin Nassehi im Gespräch mit Michael Hesse von der FR: "Vielleicht lernen wir derzeit sehr deutlich, wie leistungsfähig einerseits ein Marktmechanismus ist, der durchaus kreative technische, auch medizinische Möglichkeiten hervorbringt, dass aber für die Daseinsvorsorge, für die Prävention, für das Vorhalten etwa von Intensivbetten oder Beatmungsmöglichkeiten durchaus staatliche, also nicht marktförmige Garantien nötig sind."
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Wissenschaft

Der Virologe Christian Drosten polemisiert in der SZ doch nochmal gegen die "Heinsberg-Studie" seines Kollegen Hendrik Streeck, die bekanntlich von Kai Diekmanns PR-Firma "Story Machine" medienwirksam inszeniert wurde - und dem Kanzlerkandidaten Armin Laschet Gelegenheit zur Profilierung qua Plädoyer für Lockerung bot. Drosten kritisiert im Gespräch mit Kathrin Zinkant, "dass diese PR-Firma Geld bei Industriepartnern eingesammelt hat, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen". Und weiter: "Da geht es auch um ein internes Dokument, demzufolge Tweets und Aussagen des Studienleiters Hendrik Streeck in Talkshows schon wörtlich vorgefasst waren. Da weiß ich einfach nicht mehr, was ich noch denken soll. Das hat mit guter wissenschaftlicher Praxis nichts mehr zu tun." Drosten bezieht sich auf einen Artikel in Capital, der die Geschichte ausführlich erzählt.

Ausgerechnet Deutschland mit seiner relativ mäßigen Corona-Sterberate beteiligt sich nicht an Euromomo, dem "European Mortality Monitoring Project", das es erlaubt, Sterblichkeitstatistiken über Jahre zu vergleichen und das für Europa einen extrem hohen Ausschlag für die letzten Wochen zeigt. Sibylle Anderl berichtet in der FAZ: "So wurden allein in der 13. Kalenderwoche in den teilnehmenden Ländern insgesamt mehr als 18.000 Verstorbene zusätzlich gezählt als in Zeiten ohne besondere zusätzlich wirkende Todesursachen. Die Zahlen in den beiden darauf folgenden Wochen scheinen sogar noch höher zu liegen... Die Relevanz dieser Daten erklärt sich insbesondere durch ihre hohe Aussagekraft. Das wird im Vergleich mit den gemeldeten Infizierten-Fallzahlen deutlich: Diese hängen stets stark davon ab, wer und wie viel in einem Land überhaupt getestet wurde."
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Europa

Nach Intervention aus Peking lässt die Europäische Union von Kritik an chinesischer Desinformation ab, berichtet Matt Apuzzo in der New York Times, der interne Dokumente aus der EU gesehen hat. Ursprünglich war in einem Bericht von "globalen Desinformationskampagne" die Rede: "China agierte schnell, um die Freigabe des Dokuments zu blockieren und die Europäische Union lenkte ein. Kurz vor der Publikation des Berichts ordneten hohe Beamten an, die Aussagen abzuschwächen: 'Die Chinesen drohen bereits mit Reaktionen, falls der Bericht veröffentlicht wird', schrieb Lutz Güllner, ein Diplomat der Europäischen Union, am Dienstag in einer E-Mail an seine Kollegen, die der New York Times vorliegt. Der Satz über die 'globale Desinformation' durch die Chinesen wurde gestrichen."

Die Coronakrise lässt mal wieder traurige Einblicke in den französischen Zentralismus zu. Die Krise hat auch deshalb in Frankreich so hart zugeschlagen, weil nicht genug Tests durchgeführt wurden. Gescheitert ist das nicht an fehlenden Kapazitäten, sondern an Kompetenzwirrwarr, der es lange Zeit nicht erlaubte, dass tierärztliche, universitäre oder private Labore hinzugezogen werden, berichten Stéphane Foucart et Stéphane Horel in Le Monde. Heraus kam das durch eine zornige Intervention des Genetikers Philipp Froguel, der die Kapazitäten seines Universitätslabors angeboten hatte und behandelt wurde wie ein unartiges Kind: "Für Froguel erklärt sich die Blockade aus der Tatsache, dass die Einschaltung öffentlicher Laboratorien von den Präfekturen entschieden werden muss, während die Lenkung des Gesundheitssystems den regionalen Gesundheitsbehörden obliegt. 'Aber diese beiden Dienste kennen einander nicht', sagt der Forscher."

Die Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk macht sich im Gespräch mit Michal Nogas in der Literarischen Welt Sorgen um die EU: "Ich habe Angst vor einer politischen Weltlage, in der alles, was wir jahrzehntelang aufgebaut haben, plötzlich in Trümmern liegen wird. Ich bin überzeugt, dass die Europäische Union nach dem Ende der Pandemie den wichtigsten Test ihrer Geschichte bestehen wird. Entweder wird sich die EU weiter einen, oder sie wird aufhören zu existieren."
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Überwachung

Digitale Verbände wenden sich in einem offenen Brief gegen eine zentralisierte Verwaltung der Daten bei einer Corona-Tracing-App - es gibt auch dezentrale Ansätze für solche Apps, die etwa in Österreich und der Schweiz verfolgt und von Google und Apple favorisiert werden. Besonders böse liest sich laut einem Bericht bei Heise.de ein "Beibrief" des Chaos Computer Clubs: "Andere Beispiele von 'sorglos hingeschluderten' Corona-Anwendungen wie die 'Datenspende-App' des Robert-Koch-Instituts hätten gezeigt, 'dass die anfallenden sensiblen Datenhalden nicht angemessen geschützt werden und von Innen- und Außentätern missbraucht werden könnten'. Dass Spahn 'die Peitsche' mit der App-Pflicht hinter dem Rücken versteckt halte, setze der Posse die Krone auf, da Millionen von Bürgern gar kein taugliches Smartphone hätten." Mehr auch bei Netzpolitik.
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Ideen

Achille Mbembe ist nur ein Symptom für jene "postcolonial studies", die die Welt einzig auf das Gut-Böse-Schema des Antirassismus reduzieren und den Antisemiismus überhaupt nicht denken können. Allenfalls reihen sie ihn als Unterform in ihre Theorie des Rassismus ein, schreiben Meron Mendel und Saba-Nur Cheema vom Frankfurter Anne-Frank-Zentrum in der taz. Die Verabsolutierung der Opferperspektive aber führt diese "intersektionale" Linke selbst in die Nähe des Antisemitismus, so die Autoren, denn "der Antisemit sieht sich gerade selbst als Opfer, nämlich einer Unterdrückung durch Juden... In einem Milieu, in dem es gute Sitte geworden ist, zunächst einmal Betroffenen Glauben zu schenken, alle Vorwürfe von Diskriminierung zunächst einmal ernst zu nehmen, wird oft mit aberwitziger Schnelle der 'Antisemitismusvorwurf' als 'Vorwand' beiseitegewischt."

Ok, Donald Trump empfiehlt die Injektion von Desinfektionsmitteln gegen Covid-19. Aber jeder hat so seine eigene Art, in der Krise intellektuell durchzudrehen. Für Giorgio Agamben, der heute mal wieder in der NZZ (leider nicht online) schreibt, ist Corona dagegen trotz der Zehntausenden Toten in Italien nach wie vor ein "nicht näher zu bestimmendes Risiko", das nur als Vorwand für die strengen Maßnahmen gilt. Und dann attackiert der linke Denker die katholische Kirche: "Die Kirche unter einem Papst, der sich Franziskus nennt, hat vergessen, dass Franziskus die Leprakranken umarmte. Sie hat vergessen, dass eines der Werke der Barmherzigkeit darin besteht, die Kranken zu besuchen. Sie hat vergessen, dass die Martyrien die Bereitschaft lehren, eher das Leben als den Glauben zu opfern, und dass auf den eigenen Nächsten zu verzichten bedeutet, auf den Glauben zu verzichten."
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Politik

Eindrucksvoll erzählt Gelitza Robles in der taz, wie sich die Coronakrise in Guayaquil anfühlt, der größten Stadt Ecuadors, wo die Leute bei 34 Grad sterben, "was auch zeigt, dass dem Coronavirus Hitze nichts auszumachen scheint", wo die Leichenhäuser überfüllt sind und wo die offiziellen Zahlen nur einem Bruchteil der realen Todesfälle entsprechen. "Allein am 30. und 31. März zählte das Melderegister 722 Sterbefälle in der Provinz Guayas, normalerweise gibt es hier im Durchschnitt nicht mehr als 50 am Tag. In der ersten Aprilhälfte gab es 6.703 Sterbefälle. Normalerweise sind es in diesem Zeitraum 1.000. Was die Todesursache ist, ist schwer zu sagen, denn laut dem Generaldirektor des Gerichtsmedizinischen Dienstes des Landes können die allermeisten Toten nicht obduziert werden, man schafft es einfach nicht. Auch Coronatests werden an den Verstorbenen nicht durchgeführt. Wer jetzt mehr zu tun hat als sonst, sind die Bestattungsunternehmen, die deutlich mehr Särge verkaufen."
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Stichwörter: Coronakrise, Ecuador, Coronavirus