9punkt - Die Debattenrundschau

Putin hat uns nicht gezwungen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.07.2022. Catherine Belton meint in der Zeit ein leises Knistern im vermeintlich so soliden Machtgebälk im Kreml zu hören. Dmitri Medwedew profiliert sich dabei immer neu als der schärfste Hund von allen, notiert die taz. Die Politik hat Angst vor einem kalten Winter. Verständlich, so die Ruhrbarone. Sie ist aber auch schuld an der Lage. In Italien droht unterdessen eine rechtspopulistische Regierung à la Ungarn oder Polen. In der SZ denkt Micha Brumlik über die Verbindung von Antiamerikanismus und Antisemitismus nach.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.07.2022 finden Sie hier

Europa

"Ich gehe davon aus, dass die Lage sich im Herbst zuspitzen wird", sagt Catherine Belton im epischen ZeitOnline-Gespräch, das Jochen Wegner mit ihr geführt hat. Belton spricht unter anderem über die Slapp-Klagen gegen ihr Buch "Putins Netz", über Oligarchen als "Sklaven des Kremls", Verbindungen westlicher Politiker und Ökonomen zum  russischen System oder Putins Rückhalt in der russischen Gesellschaft. Sie registriert feine Haarrisse im Machtsystem um Putin: "Wir wissen nicht, was sich in Russland bewegt, bis es sich bewegt. Allerdings gibt es schon erste kleine Hinweise. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs treten jedenfalls einige Mitglieder von Putins engstem Zirkel häufiger in der Öffentlichkeit auf als zuvor. Vielleicht wittern sie Schwäche. Dazu gehören neben Nikolai Patruschew und Dmitri Medwedew auch Sergei Kirijenko, der stellvertretende Leiter der russischen Präsidialverwaltung, und Wjatscheslaw Wolodin, der Vorsitzende der Duma. Sie äußern sich jetzt öffentlich zu Themen von globaler Bedeutung, was sie vielleicht schon vorher gern getan hätten, aber wohl nicht konnten. Sie nehmen Rollen in der politischen Arena ein, die bislang ausschließlich Putin vorbehalten waren."

Medwedew allerdings profiliert sich im Moment als der schärfste Hund von allen, notiert Dominic Johnson in der taz: "Er veröffentlichte auf Telegram eine Liste von Dingen, an denen Russland 'nicht schuld'
 sei. Keine Schuld trage Russland demnach dafür, 'dass es den gewöhnlichen Europäern in diesem Winter in ihren Häusern bitterkalt sein wird', 'dass die Amerikaner zu ihrem Präsidenten einen seltsamen Großvater mit Demenz gewählt haben'. Und, was für Aufsehen sorgte: Russland trage keine Schuld daran, 'dass die Ukraine infolge all dessen, was passiert, die Überreste staatlicher Souveränität verlieren und von der Weltkarte verschwinden könnte'."

Liest man Irina Rastorgujewa in der FAZ, ist man sich nicht mehr sicher, ob man die Absurditäten des postsowjetischen Raums schon verstanden hat: "Von Zeit zu Zeit melden ukrainische Telegramkanäle, dass Russen, die auf der Seite der Ukraine kämpfen, Ukrainer gefangen nehmen, die auf Seiten des Aggressors in den Krieg gezogen sind. Solche Verschiebungen sind in diesem Krieg nicht selten. Die Mutter meiner Freundin Katja ist Ukrainerin und lebt in Russlands fernem Osten. Sie unterstützt die Politik der russischen Behörden, im Gegensatz zu Katja, die in Moskau wohnt und ukrainische Verwandte, die vor den Bombardierungen fliehen konnten, bei sich aufgenommen hat."

Der größte blinde Fleck der deutschen Vergangenheitsbewältigung heißt Ukraine, sagte Timothy Snyder im Mai im Zeit-Gespräch. (Unser Resümee) Für die Ukraine habe Deutschland als gewesene Kolonialmacht mehr Verantwortung als jeder andere Staat der westlichen Welt. In der FR möchte Harry Nutt das so nicht stehen lassen: "So einleuchtend das geschichtspolitische Genesungsprogramm erscheint, drückt sich in ihm nicht zuletzt die Kritik an einer fehlgeleiteten deutschen Erinnerungspolitik aus, die lange als beispielhaft zur Aufarbeitung der Geschichte von Gewaltregimen angesehen wurde. Auf beschämende Art und Weise knüpft sich an die Vorstellung einer erfolgreichen deutschen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der Verdacht, in deren Schatten neuerliche Schuld aufgetürmt zu haben. Und war der lange Weg zur Anerkennung des historischen Versagens nicht auch ein Grund für die erstaunliche Entwicklungsgeschichte einer maßvoll-modernen Demokratie? Jede Artikulation eines deutschen Führungsanspruchs jedenfalls wurde umgehend mit Argwohn bedacht - im literarisch-geisteswissenschaftlichen Feld bei den Versuchen, 'eine selbstbewusste Nation' in Szene zu setzen, und ganz praktisch politisch, als Finanzminister Peer Steinbrück im Verlauf der Finanzkrise von 2008 eine tragende deutsche Rolle nicht nur anbot, sondern auf robuste Weise auch ausführte."

"Drei Traumbilder sind es, die platzen müssen: 1. Die westlichen Sanktionen werden Russland zum Einlenken zwingen. 2. Moskau ist in der Welt isoliert. 3. Kiew wird siegen", meint indes Jacques Schuster in der Welt. "Anders als der Bundeskanzler und seine Außenministerin seit Monaten behaupten, steht das Riesenreich keineswegs einsam da. Abgesehen von der Tatsache, dass sich der Kreml auf die kommende Supermacht China verlassen kann, halten die meisten Staaten der Erde den Ukraine-Krieg für eine europäische Angelegenheit: Die afrikanischen Länder geben sich neutral, die Asiaten mit Ausnahme der Japaner halten sich zurück. Und Südamerika? Dort waren die im Mercosur vereinigten Regierungen am Mittwoch nicht einmal bereit, den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski vor ihrem Gremium sprechen zu lassen. Moskau zieht daraus nur einen Schluss: Sein Krieg ist ausschließlich einer gegen den Westen, und der sieht im Verlauf keineswegs so düster aus, wie es im Reich der Illusionen gezeichnet wird."

Draußen waren gerade 36 Grad, da ist die Angst der deutschen Politik vor einem kalten Winter besonders groß. Verständlich, findet Stefan Laurin von den Ruhrbaronen. "Klar muss aber auch sein, dass nicht Putin, sondern wir selbst uns in die Lage gebracht haben, in der wir heute stecken: Putin hat uns nicht gezwungen, aus der Kernkraft auszusteigen. Deutschland hat aus eigenem Willen die alte Regel aus dem Kalten Krieg gebrochen, dass nicht mehr als 20 Prozent des Gases aus der Sowjetunion kommen sollte... Keine äußere Macht zwang Deutschland und die anderen EU-Staaten die Klagemöglichkeiten für Anwohner und Verbände so stark auszuweiten, der Bau von Stromleitungen oder Windrädern auf Jahre verzögert oder gar verhindert werden kann. Und nein, auch das Konzept einer Energiewende, die durch die geplante Steigerung der Stromerzeugung durch Gas die Abhängigkeit von Russland noch erhöht hätte, kam nicht aus dem Kreml. Dort bog man sich aller Wahrscheinlichkeit über so viel Dummheit vor Lachen."

In all der Düsternis zumindest die eine gute Nachricht, dass nach Verhandlungen in der Türkei ein Ende der Getreideblockade durch Russland in Sicht sei, mehr etwa im Liveblog des Guardian.

Nachdem die rechten Partien Italiens Mario Draghi nicht weiter stützen, droht bei Neuwahlen eine offen rechtspopulistische Regierung mit den Postfaschisten Fratelli d'Italia unter Giorgia Meloni und Matteo Salvinis Lega Nord. Die Aussichten für die EU, die von Russland als Kriegspartei betrachtet wird, sind nicht so gut, fürchtet Michael Braun in der taz: "Salvini und Meloni wetteifern in ihrer Fremdenfeindlichkeit genauso wie in ihrem EU-Bashing, sie rühmen sich ihrer Freundschaften mit Viktor Orbán, Marine Le Pen und Jarosław Kaczyński. Und sie schicken sich an, nicht irgendein EU-Land zu übernehmen, sondern die drittgrößte Volkswirtschaft - zugleich aber auch die Volkswirtschaft mit den größten Problemen in der EU und der Eurozone. Italiens Staatsverschuldung liegt bei 150 Prozent, und jetzt - bei wieder anziehenden Zinsen - wird diese Verschuldung erneut Thema auf den 'Märkten', die noch kritischer hinschauen werden, wie das Land seiner Schwierigkeiten Herr werden will." Hier Brauns Bericht zur Krise.
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Geschichte

Olaf Scholz hatte in einem nichtssagenden Tweet zum 20. Juli seine Bewunderung für den Mut des Hitler-Attentäters Stauffenberg bekannt. Seltsamerweise entbrannte darum eine Diskussion - viele heutige "Antifaschisten" mögen Stauffenbergs Mut nicht anerkennen und werfen ihm vor, nicht genau das angestrebt zu haben, was achtzig Jahre nach dem krieg als die richtige Richtung angesehen wird. Erica Zingher möchte das Thema in der taz differenziert behandelt wissen: "Weniger bekannt ist nämlich, dass sich auch Gewerkschafter und Sozialdemokraten gegen Hitler stellten und ihr Leben als Teil der Gruppe riskierten. Aufräumen muss man dennoch mit der heutigen Inszenierung des 20. Juli als heroischer Kampf für die Demokratie. Wie das politische System nach dem Umsturz aussehen sollte, war noch nicht klar. Für die anderen Mitglieder der Gruppe, Konservative, Monarchisten, Militärs, ging es nämlich vordergründig nicht um Demokratie."
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Gesellschaft

In einer Talkshow mit Dunja Hayali, die es versäumte einzuhaken, hat Josef Braml, Autor von "Die transatlantische Illusion - Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können" aus dem Jahr 2016 en passant von einer "jüdischen Lobby" gesprochen. Micha Brumlik nutzt diesen Moment in der SZ für einen Exkurs über die Verbindung von Antiamerikanismus und Antisemitismus. Gestützt wurde diese Verbindung durch das Gerücht, dass die Finanzinsitutionen an der Ostküste der USA jüdisch geprägt seien. "Vor dem Hintergrund, dass die USA den Staat Israel seit seiner Gründung stets politisch unterstützt haben, schießt die Kritik am angeblich so jüdischen Geldwesen mit dem Unbehagen an einer israelfreundlichen Außenpolitik so zusammen, dass Antiamerikanismus und israelbezogener Antisemitismus kaum noch unterscheidbar sind."

"Ich sehe keinen Grund in Endzeitstimmung zu verfallen", sagt der Soziologe Heinz Bude im Welt-Gespräch mit Mara Delius und Marc Reichwein. "Die Inflation trifft alle, aber doch mit sehr unterschiedlicher Durchschlagskraft für die persönliche Lebensführung. Die in jedem Fall verständlichen Beschwerden müssen deshalb eingeordnet werden, sonst zerfällt im Chor der Unzufriedenen die Fähigkeit einer Gesellschaft, mit allgemeinen Belastungslagen zurechtzukommen. Man kann das kollektive Handlungsfähigkeit nennen, die wir jetzt gegenüber Putin beweisen müssen. Ich halte es für nicht unwahrscheinlich, dass das Gas nicht wiederkommen wird in diesem Winter."

Auch die Perspektiven von Kathleen Stock, Alice Schwarzer oder Marie-Luise Vollbrecht müssen toleriert werden, fordert der Sexualwissenschaftler Hannes Ulrich im Gespräch mit Susanne Lenz (Berliner Zeitung) die queere Bewegung auf. Auch unter Therapeuten grassiere die Angst als "transphob" zu gelten: " Eine Therapeut:in kann es sich auch nicht leisten, als transphob abgestempelt zu werden. Es wird dann ein Indikationsschreiben angefertigt, ohne fundierte Kenntnisse und Erfahrungen in dem Indikationsgebiet zu haben, eben um möglichst keinen Anfeindungen ausgesetzt zu sein. Mit so einem Schreiben kann man zu einem Endokrinologen gehen und eine Hormontherapie beginnen. Bei uns hier mehren sich aber die Hilferufe von Menschen, die bereits in Hormontherapie sind, dann aber den emotionalen Belastungen nicht gewachsen sind und keine Hilfe haben. Manche bestellen sich auch die Hormone übers Internet im Ausland, und da ist das Ergebnis oft auch schwierig. Eine Hormontherapie hat irreversible Folgen."

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Medien

Während Jürgen Kaube gestern in der FAZ in seinem kritischen Artikel über Emiy Dische-Becker (unser Resümee) keinerlei Rückzieher über die von der FAZ behauptete Mitarbeit Dische-Beckers an einer libanesischen Zeitschrift machte, hat die Welt Fehler in der Berichterstattung korrigiert, twittert Dische-Becker mit einen Screenshot der Welt-Berichtigung.
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Stichwörter: Dische-Becker, Emily