Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.04.2005. Die SZ wundert sich über die erstaunliche Dummheit der Franzosen, die gegen die europäische Verfassung stimmen. Die FAZ liest die neuen Romane von Ian McEwan und Kazuo Ishiguro. Die NZZ ruft: "Egkarteräso bioton!" Die FR hat herausgefunden: "Germanness sells".

SZ, 01.04.2005

Wie es aussieht, wird es beim anstehenden Referendum in Frankreich keine Mehrheit für die europäische Verfassung geben, Johannes Willms quittiert dies mit verwundertem Kopfschütteln: "Die geplante Europäische Verfassung gilt vielen als wahrer Gottseibeiuns, als Ausgeburt der Globalisierung, als schmutzige Nachgeburt des Neo-Liberalismus... Stünde mit dieser Abstimmung nicht so viel auf dem Spiel, müsste man über die erstaunliche Dummheit eines Volkes, das man bislang als besonders intelligent schätzte, herzhaft lachen, das in einen Verfassungstext Gespenster hineinliest. Dessen ungeachtet ist die 'Grande peur', die große Angst, ein aus der französischen Geschichte vertrautes Phänomen. Jetzt rächt sich, dass zuvor aus Hochmut oder Gleichgültigkeit versäumt wurde, den Menschen mit Geduld und pädagogischer Demut das Verfassungsvorhaben zu erläutern, ihnen vor allem durch Aufklärung die Furcht zu nehmen vor dem Schlagwort 'Liberalisierung', in dem viele und nicht in jedem Fall zu Unrecht das Menetekel ihrer eigenen Existenz erkennen, das aber von Anfang an das Wesen der europäischen Einigung beherrschte."

Nach dem Tod der Koma-Patientin Terri Schiavo erklärt Andrian Kreye die Auseinandersetzung um ihr Leben zur "heftigsten und wahrscheinlich auch wichtigsten Schlacht" um die Seele Amerikas: "Prinzipiell ging es den Konservativen darum, mit dem Rechtsstreit um den Tod Schiavos zu zeigen, dass die Gerichtsbarkeiten mit einer mechanischen Grausamkeit Gesetze und Paragraphen durchsetzten, die dem gesunden Menschenverstand und dem Prinzip der christlichen Barmherzigkeit Hohn sprechen." Alexander Kissler kommentiert das öffentliche Sterben in Florida und anderswo mit dem Hinweis, dass zur Menschenwürde auch das Recht auf Abgeschiedenheit gehört.

Weiteres: Zu lesen ist außerdem ein kurzes, aber interessantes Gespräch mit dem israelischen Historiker Tom Segev über die britische Mandatszeit in Palästina und die Entstehung des Staates Israels, so Segev, dank der Briten - und nicht im Kampf gegen sie.Christoph Kappes macht beim Thema Unterschichten ein Paradox aus: Selbständige im gehobenen Kulturbereich verarmen, werden mithin soziale Unterschicht, während die sozialen Mittel- und Oberschichten Unterschichtenkultur zu produzieren. In einer Artikelreihe zum Krisengebiet Geschlechterverhältnis beschreibt Steffen Kraft die seltsame Entwicklung nach der heute, da das Abtreibungsrecht liberalisiert ist, dies kein politisches Thema mehr darstellt. Jens Bisky informiert über eine Berliner Tagung zur NPD, die eine demonstrative Parteinahme gegen Rechtsradikalismus zur problematischen Journalisten-Routine erklärte. Und Henning Klüver erzählt, warum Silvio Berlusconi in Mailand ein halbfertiges Messezentrum eröffnete.

Besprochen werden eine Werkschau von Georg Herold in der Kunsthalle Baden-Baden, die Doppelschau zu Klosterkunst "Krone und Schleier" in Essen und Bonn, Mira Nairs Thackeray-Verfilmung "Vanity Fair" und Bücher, darunter Hans Pleschinskis Roman "Leichtes Licht" und Kinderbücher (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 01.04.2005

Gina Thomas stellt die neuen Romane von Ian McEwan und Kazuo Ishiguro vor, die in Großbritannien großes Aufsehen erregen. Besonders "Saturday" (Auszug) von McEwan hat sie berührt. In der Person eines Neurochirurgen schildert McEwan dort seinen eigenen Zwiespalt gegenüber dem Irak-Krieg. Auf den Antikriegsdemonstrationen fühlt sich sein Held Perowne jedenfalls recht fremd: "Wiederholt wundert sich Perowne, und mit ihm McEwan, über die Fröhlichkeit, die sich unter den Demonstranten breitmacht, als erzeuge die Zurschaustellung des linksliberalen Gewissens nicht nur Genugtuung, sondern auch ein besonderes Glücksgefühl. Einmal spricht er sogar von der 'süßlichen Selbstachtung'."

Weitere Artikel: Patrick Bahners interveniert im Streit um die Nachrufe auf ehemalige Nazis, die im Dienst des Auswärtigen Amtes ehrenvoll ergrauten, und ist sich sicher: "Es ist möglich, dass eine Korporation einem Mitglied ein ehrendes Andenken widmet und dabei die sachliche Lebensleistung würdigt, ohne die persönliche Belastung zu unterschlagen." Jacqueline Henard, eine deutsche Journalistin in Paris, versichert in der FAZ-Familienserie, dass sie ihre Kinder trotz Anwendung französischer Rabenmuttertechniken wie Kinderkrippe und Kinderfräulein zu respektablen Persönlichkeiten hochbrachte. In der Leitglosse berichtet Andreas Platthaus über einen Streit um die Brüsseler Ausstellung "Made in Belgium" - die Fondation Herge wollte die Ausstellung von "Tim und Struppi"-Memorabilien verhindern. Wilfried Wiegand schreibt zum Tod des Fotohistorikers L. Fritz Gruber. Eduard Beaucamp untersucht in seiner Kolumne "Kunststücke" den Begriff der "Leipziger Schule" mit ihren mittlerweile drei Malergenerationen. Karin Leydecker stellt einige Eigenheime der Kaiserslauterer Architekten Dirk Bayer und Andrea Uhrig (mehr hier) vor. Der Strafrechtsprofessor Detlev Sternberg-Lieben beharrt: "Der Patientenwille gilt, auch wenn er nicht vernünftig sein mag." Harald Hartung schreibt zum Tod des amerikanischen Dichters Robert Creeley.

Auf der Medienseite porträtiert Michael Hanfeld den Springer-Chefredakteur Jan-Eric Peters der die Welt, die Welt kompakt und die Morgenpost zu einer Zeitung in drei Verkleidungen machte.

Auf der letzten Seite schreibt der iranische Autor Amir Hassan Cheheltan eine atmosphärische Reportage über den Iran vor den nächsten Präsidentenwahlen, bei denen der einschlägig bekannte Geistliche Haschemi Rafsandschani wieder aus der Versenkung aufsteigen will. Catrin Lorch sieht sich eine Installation des Künstlers Sol Lewitt in der Synagoge in Stommeln bei Köln an. Und Hannes Hintermeier stellt den Verleger Ulrich Genzler vor, der im Auftrag von Random House die Leitung im Blessing Verlag übernimmt.

Besprochen wird Andres Woods Film "Machuca, mein Freund".

TAZ, 01.04.2005

Besprochen werden das Album "Absencen" des Karlsruher Kammerflimmer Kollektiefs, die Ausstellung "Das neue Europa" in der Wiener Generali Foundation, Soul-CDs.

Und Tom.

NZZ, 01.04.2005

In der Reihe Europäischer Kulturhorizont schreibt Iso Camartin über Euripides' Tragödie "Herakles". Der Held, der im Wahn seine Frau und seine Kinder abgeschlachtet hat, erkennt am Ende, dass die Götter nicht existieren. Und deshalb: "'Egkarteräso bioton - Ich werde das Leben wagen!' - Das Wort 'egkartereo' bedeutet so viel wie: standhaft bleiben, nicht wanken, beherrscht entgegennehmen! Wer dies sagt, will trotz allen Risiken und Schmerzen, trotz Schuld und Leid, die das Leben unweigerlich mit sich bringt, dieses doch selber gestalten. Die Folgen für eigenes Tun sind auf keine Götter und keine anderen Wesen abzuschieben. Es ist diese Einsicht des Euripides ein gewaltiges frühes Aufleuchten dessen, was erst viel später einmal menschliche Freiheit und Verantwortung des Einzelnen heißen wird. Sie trifft wie nichts anderes das Abenteuer des Menschseins in seinem innersten Kern."

Weitere Artikel: Alfred Schlienger stellt die neue Mannschaft am Theater Basel vor. Ursula Pia Jauch schreibt zum 275. Geburtstag des Dichters Salomon Gessner. Jürgen Güntner notiert verschlafene Reaktionen deutscher Verlage auf die Aufhebung der Buchpreisbindung in der Schweiz. Besprochen wird eine Berliner Schau über neue Architektur in Südafrika (Galerie Aedes).

Ausschließlich Besprechungen auf der Filmseite. Es geht um "Le chiavi di casa" von Gianni Amelio, Thomas Islers Dokumentarfilm "Wanakam", Bertrand Taverniers Film aus Kambodscha "Holy Lola", Til Schweigers Romanze "Barfuss", "Be cool" von F. Gary Gray und Michael Beltramis Roadmovie "Promised Land".

Für die Medienseite hat "H. Sf." die Friede-Springer-Biografie von Inge Kloepfer gelesen, die sich teilweise wie eine Bunte-Homestory ausnehme, aber auch echte Informationen biete: "Wer sich nicht daran stört, dass Inge Kloepfer auch noch Friede Springers Flüstern am Totenbett ihres Mannes und andere Schlüssellochgeschichten mitteilen muss, wird dieses Buch mit Interesse und Vergnügen lesen."

FR, 01.04.2005

Elke Buhr bemerkt in der Kunst und Popmusik einen Trend, der ihr einiges Unbehagen bereitet: Germanness sells. Aufgefallen ist ihr das bei Künstlern der Leipziger Schule und jetzt bei der Ausstellung von Florian Süssmayr im Münchner Haus der Kunst. Da stand sie vor einem "Bierdeckel in Öl auf Papier, auf einen Quadratmeter aufgeblasen, dazu zehn Striche für zehn verzehrte Biere, die klassische Toiletten-Skizze eines Pimmels, eine SS-Rune und ein Hakenkreuz". Für Buhr transportiert diese Kunst jedoch weniger 'Deutschtum' im traditionellen Sinne als eine instrumentell geläuterte 'Germanness': präzise eingesetztes Alleinstellungsmerkmal auf einem umkämpften internationalen Markt. Gerade wegen der internationalen Verfügbarkeit aller Stile und Richtungen hungern die Käufer nach Differenz, nach Exotik. Für den kalifornischen Sammler hat dunkel dräuendes Germanentum in Öl auf Leinwand offensichtlich noch beachtliches Fremdheitspotential." Doch wenn die Bedeutung der Zeichen ignoriert wird, dann werden irgendwann die "wirklich rechten Bands und Organisationen" sie politisch wiederbeleben, warnt Buhr.

Die Philosophin und Biologin Nicole C. Karafyllis plädiert dafür, die pflanzliche Metaphorik in das Verständnis von Wachkoma-Patienten einzubeziehen: "Pflanzen thematisieren durch ihre Mittlerstellung in der hierarchisch organisierten Natur den entscheidenden Schritt von toter Materie zu lebendigem Wesen, ein Übergangsstadium zwischen den Steinen und den Tieren." In Times Mager berichtet Eva Schweitzer über die Güteraufteilung bei der Scheidung Disney/Miramax.