Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.12.2002. Die FAZ beobachtet den erfreulichen Niedergang des Islamismus im Iran. Die NZZ widmet sich dem Aufstieg und Fall Japans. Die FR will das Theater am Turm retten. Für die taz porträtiert Gabriele Goettle den Informatiker Joseph Weizenbaum. Die SZ wundert sich nicht, dass die Amerikaner über den Film "Max" nicht debattieren.

NZZ, 30.12.2002

Urs Schoettli widmet sich ausführlich dem Auftstieg und Fall Japans. Er wirft einen kurzen Blick auf den bösen Absturz des Landes und tadelt die überzogene neoliberale Kritik des Westens an dem Land, das keine Streiks kennt und eines der besten Bildungssystem besitzt. Doch in allem Ende ist auch ein Anfang konstatiert Schoettli. Der wirtschaftliche Fall Japans beschleunige die Suche nach einer eigenen kulturellen Identität - nicht nur in Japan, sondern in Ostasien überhaupt: "In ganz anderem Sinne, aber nicht weniger machtvoll wird Ostasien in den kommenden Jahrzehnten die Grenzen der westlich geprägten Globalisierung aufzeigen. Anders als die islamische Welt ist man hier nicht auf den Terrorismus als die Waffe des Ohnmächtigen angewiesen, sondern man wird und kann sich der Wirtschaft und der traditionellen Instrumente einer an nationalen Zielen orientierten Machtpolitik bedienen."

Hubertus Adam stellt das avantgardistische niederländische MVRDV vor, das in Düsseldorf seine Visionen über die Zukunft des Ruhrgebiets vorstellt: "In großflächigen Projektionen werden auf Basis eines Helikopterflugs über die Region vier 'Extremszenarien' simuliert. 'Park City' setzt auf Entvölkerung und grossflächige Renaturierung. 'Archipel City' postuliert gegenüber der herrschenden Städtekonkurrenz die Ausbildung und Stärkung von spezifischen Funktionen an einzelnen Standorten: Essen als Mega-Business- Center in der Art der Pariser Defense, Oberhausen als Mega-Shopping-Center, Bochum als Mega-Universität, Düsseldorf als Mega-Airport. 'Campus City' visualisiert die Verwandlung des Ruhrgebiets in eine gigantische Forschungsstadt. 'Netzwerk City' schliesslich zeigt eine durch Kapazitätssteigerung und Ausbau der Infrastrukturachsen bedingte Verdichtung und Vernetzung."

Weitere Artikel: Uwe Justus Wenzel betrachtet Clonaid, den biotechnologisch bewaffenteten Arm der Realianer-Sekte (mehr hier) und konstatiert: "An die Stelle der Wissenschaft tritt eine Wissenschaftsgläubigkeit; sie richtet sich an einem kruden Reduktionismus auf: Der Mensch ist sein genetisches 'Programm'". Andreas Maurer schreibt einen Nachruf auf den Filmregiesseur George Roy Hill. Christoph Egger stellt den britischen Land-Art-Künstler Andy Goldsworthy vor (mehr hier) und bespricht nebenbei den Film "Rivers and Tides" von Thomas Riedelsheimer über Andy Goldsworthy (mehr zum Film hier und hier).

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Mensch und Tier - eine paradoxe Beziehung" im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden, eine Ausstellung in Paris über den Berner Pop-Maler Peter Stämpfli, eine Ausstellung der beiden Architekten Anne Lacaton und Jean Philippe Vassal.

FR, 30.12.2002

Für Florian Malzacher liest sich die Geschichte des jetzt geschlossenen Frankfurter Theaters am Turm (TAT) wie eine Kette von Missverständnissen: "Das TAT war nie nur ein Haus. Es war die Idee eines suchenden Theaters, das ästhetisch und inhaltlich pointiert und zugleich aber wandelbar war. Ein Theater, in dem in den Sechzigern Handkes 'Publikumsbeschimpfung' uraufgeführt, in den Siebzigern mit Fassbinder und Selbstbestimmung experimentiert wurde und wo seit Ende der Achtziger die internationale Neoavantgarde ihren wichtigsten Aufführungsort in Deutschland hatte. Als Kühnel und Schuster kamen, war das Haus der geplanten Schließung entgangen und als Sparte in die Städtischen Bühnen eingegliedert. Nicht an Wilson, Fabre, Wooster Group und Goebbels wollten sie anschließen, sondern an den Ensemble-Gedanken der 70er Jahre. Auch ihr Theater sollte eine Forschungseinrichtung sein, Grundlagen untersuchen und schaffen. Für ihre Zeit und diesen Ort waren das nicht die richtigen. Aber zu glauben, Experimente dürften nicht scheitern, ist ein weiteres Missverständnis. Und wegen eines Missverständnisses zu glauben, das Theater und die Stadt bräuchten den Möglichkeitsraum TAT nicht mehr - das ist das größte Missverständnis."

Weitere Artikel: In Times mager hat "H. J. K" den besten Auto-Lobbyisten entdeckt: Bahn-Chef Mehdorn. Daniel Kothenschulte schreibt einen Nachruf auf den Filmregisseur George Roy Hill, dem wir unter anderem den "Clou" verdanken. Gemeldet wird, dass der Deutsche Kulturrat dem Nullsummenspiel der Kulturpolitik mit gemischten Gefühlen gegenübersteht und dass Sebastian Haffner in England bespitzelt wurde.

Auf der Medienseite porträtiert Martin Winter Bodo Hombach, den künftigen Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe. Außerdem wird gemeldet, dass CDU-Politiker Heinrich-Wilhelm Ronsöhr gefordert hat, den Silvester-Kult-Sketch "Dinner for One" nur noch mit deutschen Untertiteln zu senden, "damit auch die Zuschauer lachen können, die kein Englisch verstehen".

Besprochen wird Shakespeares "Sturm" in Frankfurt, in einer Mensch-und-Puppen-Inszenierung von Christian Tschirner und Christian Weise.

TAZ, 30.12.2002

Gabriele Goettle war zu Gast beim Informatiker Joseph Weizenbaum, dem Vater des Spracherkennungsprogramm Eliza, und der hat ihr - in einem herrlich beschriebenen Gespräch - erklärt, was ein Computer, aber vor allem, was Verantwortung, und was menschenfeindliche Wissenschaft ist: "Eines aber weiß ich, dass diese riesigen Berge von Katastrophen, die uns bedrohen, und der Massenmord, der jeden Tag stattfindet, nicht deshalb existieren, weil da etwas ist, was wir nicht wissen. Das ist wichtig, wichtig zu erkennen. Wir wissen alle, was notwendig ist zu tun. Es liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen. Die Ohnmacht des Einzelnen, von der immer die Rede ist, ist eine Illusion; die gefährlichste, die wir überhaupt haben können. Der Einzelne kann sich und muss sich als Einzelner entscheiden, seine Entscheidung hat Bedeutung! Die Lösung der Probleme besteht zum Beispiel im Verwerfen von Spielregeln, die das ganze Dilemma hervorgebracht haben, beispielsweise müssen wir endlich einsehen, dass es Berechenbarkeit nicht gibt."

Weihnachten, Chanukka oder Kwanza - Sabine Berking hat sich mit den Festen vertraut gemacht, die die verschiedenen Glaubensgemeinschaften gegen Jahresende feiern. Bei soviel kultureller Vielfalt bleibe eigentlich nur noch die Flucht in die political correctness - mit der Grußkarte: "Seasons Greetings".

Und schließlich TOM.

FAZ, 30.12.2002

Christiane Hoffmann kommt aus dem Iran zurück, wo sie einen deutlichen Stimmungswandel festgestellt hat. "Das Volk hat die Angst verloren. Vor drei Jahren noch begann man ein politisches Gespräch zurückhaltend, den Gesprächspartner abschätzend, vorsichtig beurteilend, Kritik am herrschenden System blieb maßvoll. Heute endet jedes Gespräch, jede noch so zufällige Begegnung mit dem ungefragten Bekenntnis: Sie müssen weg. Die Ärztin im Krankenhaus wendet unvermittelt den Blick vom Ultraschallgerät ab und fragt: 'Und wann geht es hier los? In Afghanistan haben sie die Taliban verjagt, wann passiert das hier?' ... Ein Spruch macht die Runde: 'Im nächsten Jahr: Schnee ohne Mullahs.' Ein Kind soll das zuerst gesagt haben."

Die große FAZ-Feuilleton-Debatte über die Grünen und das Dosenpfand geht weiter. Wir erinnern uns: Frank Schirrmacher warf den Grünen vor, ihre welthistorische Mission verraten zu haben, weil sie Arnulf Barings Appell an das revolutionäre Potenzial der FAZ-Leserschaft nicht ernst nehmen wollten. Jürgen Trittin antwortete mit der Enthüllung, die FAZ sei eine konservative Zeitung. Heute schreibt schon der zweite Grüne, Reinhard Loske, der Joschka Fischer auffordert, gegen Klonbabies einzuschreiten, der aber auch das Dosenpfand verteidigt und die alten Zeiten vermisst: "Wo früher Herbert Gruhl Verzicht und Maßhalten empfahl, ruft heute Claudia Roth zum freudigen vorweihnachtlichen Konsum auf. Wo Carl Amery ehedem die politischen Klasse ob ihrer Wachstumsfrömmigkeit mit beißender Ironie überzog, sehnt Fritz Kuhn in diesen Zeiten das nächste Konjunkturhoch herbei." Und wir dachten, die Achtziger sind vorbei!

Weitere Artikel: Frank Schirrmacher kommentiert im Leitartikel auf Seite 1 der Zeitung die von der Rael-Sekte verbreitete Meldung von der angeblichen Geburt des ersten Klonbabies ("Sollte sich die Weihnachtsbotschaft der Sekte jetzt als unwahr erweisen, so ändert das nichts daran, dass sie schon morgen wahr sein könnte.") Niklas Maak erzählt in der Leitglosse noch mal die Geschichte der Raelianer. Andreas Rosenfelder hat mit dem Sprecher der 33 deutschen Rael-Anhänger (mehr hier) gesprochen. Andreas Kilb schreibt zum Tod des Filmregisseurs George Roy Hill. Joseph Croitoru liest deutsche und polnische Zeitschriften, die sich mit dem Verhältnis der beiden Länder befassen.

Im vorigen Jahr ist die Fotografien Inge Morath gestorben, Eva Menasse hatte sie noch auf einer Reise in die heimatliche Steiermark begleitet, wo Regina Strassegger einen Film über sie drehte. Dieter Bartetzko porträtiert die Figur "Gollum" aus dem "Herrn der Ringe". Oliver Tolmein berichtet über einen Vorstoß zur Reform des Transplantationsgesetzes von 1997. Auf der Medienseite bespricht Michaelö Hanfeld eine Dokumnetation über Henning Makell, die heute im ZDF läuft. Stefanie Peter stellt eine in der ARD laufende Dokumentation zum deutsch-polnischen Verhältnis vor. Sandra Kegel berichtet, dass in Ebay erstmals eine ganze Kleinstadt versteigert wurde.

Besprochen werden eine Ausstellung mit den "Freud Drawings" von Robert Longo in Krefeld (Bild) , eine Jonathan-Meese-Ausstellung in der Kestner-Gesellschaft in Hannover, eine "Bayadere"-Choreografie der Tanzgruppe Introdans in Arnhem, eine Ausstellung über Schwarze im NS-Staat in Köln, eine Inszenierung der "Sommergäste" in Mülheim und eine "Carmen" in Madrid.

SZ, 30.12.2002

Andrian Kreye berichtet über die Versuche der amerikanischen Presse, eine Debatte loszutreten über "Max", einen Film, der die "fiktive Geschichte der Freundschaft zwischen dem jungen Adolf Hitler und dem jüdischen Kunsthändler Max Rothman" erzählt. Doch das sei gar nicht so einfach, denn sowohl Publikum als auch Kritik begegnen dem Film "wohlwollend desinteressiert". Also greife man in Presseartikeln schon mal zu Zitaten von der Internetseite der als terroristisch eingestuften Jewish Defense League (JDL). "Aber was soll man tun, wenn selbst Abe Foxman von der Anti-Defamation League, einräumt: 'Der Film glorifiziert Hitler in keiner Weise, sondern porträtiert ihn akkurat und realistisch.'"

Weitere Artikel: Johannes Willms beklagt die Entpolitisierung der bundesdeutschen Politik, in der die Interessenverbände eine immer größere und daher lähmende Rolle spielen. Fritz Göttler schreibt zum Tode des "wohltemperierten Regisseurs" George Roy Hill und berichtet außerdem, dass die amerikanische Verfilmung der mexikanischen Revolutionslegende Pancho Villa die Hauptrolle mit Antonio Banderas - einem Spanier! - besetzt hat, was in Mexiko auf große Empörung stieß. Alexander Kissler berichtet über die ethische Debatte um das menschliche Klonen und beleuchtet die deutsche Verhandlungsstrategie auf internationaler Ebene kritisch. Michael Diers stellt das Bundestags-Projekt des Fotografen Andreas Gursky vor. Julia Encke vergleicht die Schwierigkeiten von Wettervorhersage und Terrorismus-Prävention.

Auf der Medienseite erscheint die vierte Folge der SZ-Serie um große deutsche Journalisten - heute: Sebastian Haffner. Außerdem spricht Hans-Jürgen Jakobs mit ARD-Chef Jobst Plog und erfährt über interne Disziplinprobleme und externe Flirtversuche in Richtung SAT1-Entertainer Harald Schmidt.

Besprochen werden der dritte Tag von Wagners Nibelungen in Nürnberg - die "Götterdämmerung", in der Inszenierung von Stephen Lawless und Philippe Auguin, Feridun Zaimoglus Roman "German Amok", Laurent Graffs Roman "Feierabend", Andres Veiels "Black Box BRD", und Sachbücher.