9punkt - Die Debattenrundschau

Früher undenkbares Desinteresse

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.08.2018. Eine linke Sammlungsbewegung? Wann hat sich denn die Linke je gesammelt, fragt der Freitag. taz und Dlf bringen Rechtfertigungen der Israelboykottbewegung BDS. Die SPD will ihre ehrwürdige "Historische Kommission" abschaffen, ein weiteres Zeichen des Verfalls, schreiben Jürgen Kocka in der FAZ und Thomas Schmid in der Welt. Und Hitler wurde nicht wegen Hitler gewählt, hat eine Studie laut NZZ herausgefunden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.08.2018 finden Sie hier

Europa

Eine linke Sammlungsbewegung wird es schwer haben, schreibt Wolfgang Michal im Freitag: "Nicht einmal Hitlers Machtergreifung und der Terror der Nazis schafften es, die ewig zersplitterte Linke zu einen. 1935/36 versuchten geflüchtete Sozialdemokraten, Kommunisten, Linkssozialisten und Zentrumspolitiker, im Pariser Hotel Lutetia eine antifaschistische 'Volksfront' zustande zu bringen. Der junge Willy Brandt zählte als Vertreter der linken SPD-Abspaltung SAP zu diesem 'Lutetia-Kreis'. Der Schriftsteller Heinrich Mann fungierte als überparteilicher Schirmherr. Und der umtriebige kommunistische Verleger Willi Münzenberg organisierte diskret die Treffen. Nach endlosem Palaver scheiterte der ambitionierte Versuch an unüberwindbaren Differenzen. Die Taktiken der Komintern, die Moskauer Prozesse gegen 'Linksabweichler' und der Hitler-Stalin-Pakt führten zum endgültigen Bruch. Seit mehr als hundert Jahren prägen Misstrauen, Schulmeisterei und Eifersucht das Verhältnis der Linken untereinander." Es könnte aber sein, dass die Linke von Dieter Dehms Hymne "Aufstehen" zusammengeschweißt wird, mehr dazu in Efeu.

Eine bizarre Symmetrie konstruiert Alexei Monroe in einem taz-Artikel über die Frage, warum die Israelboykottbewegung BDS (Boycott, Divestment, Sanctions) in Britannien so populär ist, während sie in Deutschland auf Ablehnung stößt: "Die Unterstützung des BDS wird als Sühne für britische Verbrechen betrachtet, während die Solidarität mit Israel als Sühne für Nazi-Verbrechen gesehen wird. Jeder ist seiner eigenen Geschichte verhaftet und kann nicht darüber hinweg." Kann man sich Solidarität mit Israel tatsächlich nur als "Sühne" denken?

Im Dlf-Kultur-Interview mit Ute Welty warnt Alexandra Senfft, 1988 Nahostreferentin der Grünen im Bundestag und bis 1991 UN-Pressesprecherin im Gazastreifen, indes davor, den BDS "antisemitisch zu dämonisieren", dieser sei letztlich entstanden, weil politische Ansätze zur Lösung des Nahostkonflikts scheiterten: "Was mich besonders irritiert an diesem ganzen Diskurs über die BDS-Bewegung, ist, dass der Eindruck erweckt wird, als hätten wir es mit Antisemiten vor allem am rechten Rand unter Emigranten, Flüchtlingen und vor allem Palästina-Aktivisten zu tun, was aus meiner Sicht davon ablenkt, dass die meisten Antisemiten und Rassisten in der politischen deutschen Gesellschaft in der Mitte zu finden sind und wir darüber gar nicht wirklich reden, woher kommt eigentlich dieser Antisemitismus."

Auch beim  Brexit scheint es russische Einflussnahme gegeben zu haben. Luke Harding, der ein niederschmetterndes Buch über Trump und die Russen geschrieben hat, kommt im Guardian auf den Millionär Arron Banks zu sprechen, der die Brexiteers mit der größten politischen Spende in der britischen Geschichte - 9 Millionen Pund - bedacht hat. Und nun stellt sich heraus, dass ihm parallel dazu von Russland besonders tolle Angebote für "Deals" gemacht wurden: "Obwohl Banks seine Kontakte mit Russen vor und nach dem Referendum herunterspielte, musste er in den vergangenen Wochen einräumen, dass es eine Reihe von Treffen gab, darunter mit Alexander Udod, einem Diplomaten, der später wegen Verdachts auf Spionage ausgewiesen wurde."
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Geschichte

Par ordre de mufti hat Andrea Nahles beschlossen, die einst von Peter Glotz gegründete "Historische Kommission" der SPD abzuschaffen. So traurig das ist - in der Rückbesinnung auf ihre Geschichte sieht Welt-Autor Thomas Schmid keine Antwort auf die Probleme der Partei: "Ihren Abstieg sieht die Partei als große Ungerechtigkeit - und nicht als das, was er ist: Teil einer Krise, die das gesamte Parteiensystem und auch die liberale Ordnung zu erfassen beginnt. Allen demokratischen Parteien hilft es nicht, wenn sie sich erzählen, was sie gut gemacht und auf welche großartige Geschichte sie zurückblicken können. Sie müssen sich vielmehr fragen, was sie übersehen, worauf sie nicht reagiert, was sie falsch gemacht haben."

In der FAZ schreibt der Historiker Jürgen Kocka zum Thema: "Über die Kraft zur Interpretation der eigenen Geschichte verfügen Bewegungen und Institutionen dann, wenn sie die Zukunft auf ihrer Seite wähnen und das Selbstvertrauen besitzen, ihren Ort im historischen Wandel zu bestimmen. Der fortschrittsgläubige Aufschwung der Nationalstaaten ging Hand in Hand mit dem brennenden Interesse an ihrer Geschichte. Die klassischen Arbeiterbewegungen besaßen einen ausgeprägten historischen Sinn, weil sie sich mit der Zukunft im Bunde wähnten." Und doch ist  die beiläufige Abwicklung der ehrwürdigen Institution für Kocke "Zeichen eines früher undenkbaren Desinteresses an historischer Reflexion".

Forscher der Universität Konstanz und der Hertie School of Governance in Berlin haben Wahlstatistiken aus tausend Landkreisen ausgewertet, um zu untersuchen, inwieweit Hitlers Wahlkampfpropaganda zum Aufstieg der NSDAP beitrug, berichtet Claudia Schwartz in der NZZ. Dabei kam die Studie zu erstaunlichen Ergebnissen, so Schwartz: "Der Einfluss von Hitlers insgesamt 455 öffentlichen Auftritten auf den Wahlerfolg sei 'marginal' gewesen. (...) Die Autoren sehen hier andere Studien bestätigt, wonach 'die Bedeutung Hitlers als charismatischer Redner' zurücktritt gegenüber der entscheidenden Rolle von wirtschaftlichen und politischen Zeitumständen, 'also Massenarbeitslosigkeit und wirtschaftliche Not, die mangelnde Unterstützung für die Demokratie, die Entfremdung zwischen etablierten Parteien und Wahlvolk sowie die Schwäche staatlicher Institutionen."
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Medien

Laut der repräsentativen Studie "New Storytelling" der Initiative Nextmedia gibt es Entwarnung für den Print-Journalismus, schreibt Joachim Huber im Tagesspiegel: "Am Fortbestand der gedruckten Tageszeitung äußerten 52 Prozent und insbesondere die über 30-Jährigen keinen Zweifel. Quasi über alle Altersgruppen hinweg werden auch Fachmagazinen gute Chancen im Medienmarkt gegeben. Deutlich düsterer zeigt sich das Meinungsbild bei Nachrichtenmagazinen (nur 29 Prozent der Befragten zeigen sich optimistisch), Boulevardzeitungen/-zeitschriften (26 Prozent), auf den schlechtesten Wert kommen Kundenmagazine mit 18 Prozent."

Trumps Tweets eignen sich in ihrer Schlichtheit bestens, um von Algorithmen "widerspruchsfrei" ausgewertet werden zu können, erklärt Adrian Lobe in der NZZ. Aber: "Der Boston Globe berichtete unter Berufung auf anonyme Quellen im Weißen Haus, dass Trump nicht alle seiner Tweets selbst verfasse und seine engsten Berater absichtlich grammatikalische Fehler in die Tweets einbauten, um so zu klingen wie der echte Donald Trump. Die montierten Aussagen enthielten unter anderem die für Trump typischen Ausrufezeichen, die Großschreibung bestimmter Wörter sowie Fragmente. Bevor ein Tweet in die Welt gesetzt wird, muss er ein internes behördliches Genehmigungsverfahren durchlaufen. Die Kommunikationsstrategen unterbreiten Trump dabei drei oder vier Serviervorschläge, von denen der Präsident dann einen auswählt. Manchmal ändere Trump auch das Wording."
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Politik

In Argentinien ist die Liberalisierung von Abtreibung nach einem Votum des Senats gescheitert. 47.000 Frauen sind nach missglückten Abtreibungen im Jahr 2014 ins Krankenhaus gekommen, berichtet Jürgen Vogt in der taz. Die katholische Kirche hatte das Votum zunächst für eine sichere Sache gehalten. Dann aber folgte die breite Bewegung für eine Liberalisierung, so Vogt im Kommentar zum Thema: "Umso heftiger schlugen die Bischöfe zurück, um verlorenes Terrain zurückzugewinnen und um die Niederlage im Herkunftsland des Papstes abzuwenden, die Wasser auf die Mühlen der reaktionären innerkirchlichen Gegner von Franziskus geleitet hätte. Es sind die bewegten Massen an grünbetuchten jungen Menschen nicht nur in den Straßen der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires, die erkennen lassen, dass es eine Frage der Zeit ist, bis dieses Recht auch in Argentinien durchgesetzt wird."

Präsident Macri, der die Abstimmung zumindest zuließ, steht nun als Befürworter des Schwangerschaftsabbruchs und für seine konservativen Wähler als Verlierer da, schreibt Werner J. Marti in der NZZ: "Ein Senator der Regierungspartei hat das so ausdrückt: 'Das wird sich so lesen, als ob der Papst über mehr Stimmen verfügte als der Präsident.'"
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