Efeu - Die Kulturrundschau

Wiese links oder Wiese rechts

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27.07.2020. Die NYRB staunt, wie geschmeidig sich New Yorks glitzernde Kunstwelt den kommunistischen Muralismo  einverleibt. Die Welt trotzt in Bayreuth Corona-Ängsten mit Wagner-Wahn. In der Berliner Zeitung erzählt Clemens Meyer, wie das Massaker von Novi Sad Eingang in seinen neuen Romans fand. Die Zeit beklagt unsere verzerrte Wahrnehmung nahöstlicher Musik. Außerdem verabschieden die Feuilletons verabschieden Olivia de Havilland, die sich in Hollywood das Recht erkämpft hatte, nicht nur naive Mädchen spielen zu müssen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.07.2020 finden Sie hier

Kunst

Alfredo Ramos Martínez: Calla Lily Vendor, 1929

Dass ausgerechnet das Whitney Museum mit der Schau "Vida Americana" im glitzernd aufgepeppten Meatpacking District die mexikanischen Muralisten feiert, erscheint Anna Shapiro im Blog der New York Review of Books schon ein bisschen schräg. Aber immerhin werden jetzt Diego Rivera, David Alfaro Siqueiros und José Clemente Orozco in den Kanon der New Yorker Kunstwelt eingeschrieben, meint sie: "Viele Ausstellungen haben in den vergangenen Jahren eine Neubewertung unternommen und Künstler wiederentdeckt und von alten Stigmata befreit: Frauen, Amerikaner nichteuropäischer Herkunft oder einfach Künstler, die nicht in die engen Grenzen des formalistischen Modernismus passten. Die Künstler in dieser Schau waren jedenfalls wahre Avatgardisten in ihren gesellschaftlichen Werten, sie setzten auf die Underdogs der Geschichte, als es überhaupt nicht angesagt war, das zu tun. Ihre Politik und ihr Stil wurden in den vierziger Jahren verfemt und beinahe wären sie aus den Annalen gestrichen worden. Sie waren Kommunisten, und eigentlich hätte die Ausstellung 'Amerikanische Kommunisten' genannt werden können: Denn gezeigt wird hier nicht 'amerikanisches Leben', sondern um eine Idee, wie es hätte sein sollen oder eben nicht."
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Bühne

Welt-Kritiker Peter Huth kann einfach nicht ohne Bayreuth, und ausgerechnet im Corona-Sommer erlebte er dank eines Open-Air-Konzerts "einen der schönsten Festspiel-Sommer seines Lebens" als Hardcore-Wagnerianer: "Heute sitzen wir draußen. Die Eintrittskarten vermerken 'Wiese links' oder 'Wiese rechts', eine Anspielung auf die Platzierungen in den Rängen des Festspielhauses. Das 'Wahnfried Open Air' vor des Meisters Villa ist Eröffnung und Abschluss gleichermaßen, natürlich kein Ersatz für die Saison, aber eine trotzige Faust in Richtung Virus: Ja, du hältst uns klein, aber du besiegst uns nicht. Christian Thielemann, musikalischer Direktor der Festspiele, dirigiert im Wohnzimmer des Meisters ein auf 14 Musiker reduziertes Orchester. Camilla Nylund und Klaus Florian Vogt, seit einigen Jahren Publikumslieblinge am Hügel, singen. Der BR überträgt, auch in den Garten, wo wir nun statt auf hartem Festspielhausholzgestühl auf nicht weniger hartem Plastik sitzen, mit Einmeterfünfzigabstand zum Nachbarn. Und ja, es funktioniert, ganz wunderbar sogar." Im FR-Interview mit Judith von Sternburg spricht der Regisseur Valentin Schwarz über Oper als erlerntes Vergnügen und seine eigene, auf das Jahr 2022 verschobene "Ring"-Inszenierung.

Als Heidenspaß feiert SZ-Kritikerin Christine Dössel George Taboris "Goldberg-Variationen", die Christian Stückl am Münchner Volkstheater als krachende Kombination von Genesis und Theaterprobe in Szene setzt: "Was folgt ist eine Serie von Probenpech und Pannen, flankiert von jeder Menge Kalauern, Pointen, Juden-, Gottes- und Bibelwitzen, wie sie im deutschsprachigen Theater so unverfroren, frivol und sarkastisch nur ein George Tabori zu einer göttlichen Komödie kumulieren konnte." In der taz ergänzt Sabine Leucht: "Es ist nicht ganz leicht, richtig schlechte Schmierenkomödianten zu spielen, ohne selbst mit Schmierenkomödianten verwechselt zu werden. Doch nachdem sie sich warmgespielt haben, flutscht die Charge wie geschmiert.""

Weiteres: Auch in Tanz und Choreografie fordern schwarze Tänzerinnen und Tänzer mehr Teilhabe ein, berichtet Dorion Weickmann in der SZ. In der FR erinnert Sylvia Staude an Pina Bausch, die heute achtzig Jahre alt geworden wäre.
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Film



Die Feuilletons trauern um die Schauspielerin Olivia de Havilland, die im gesegneten Alter von 104 Jahren gestorben ist. Als sie zum Film ging, kämpften die männlichen Hollywoodstars (wie Errol Flynn, mit dem sie viele Filme drehte) vor der Kamera noch in seltsamer Kleidung mit dem Degen, erinnert David Steinitz in der SZ. Bekannt wurde sie mit der Rolle der Melanie in "Vom Winde verweht", vor allem aber muss man sie als Kämpferin für die Belange von Schauspielerinnen in Erinnerung behalten, schreibt Steinitz: Gegen die seinerzeit noch üblichen Knebelverträge, die Frauen auf Jahre zur Rolle des seichten Love Interests verdammten, begehrte sie auf und "wagte etwas, das in Hollywood als Karriereselbstmord galt: Sie legte sich gerichtlich mit dem Filmstudio an, dass sie von einer naiven Mädchenrolle zur anderen schubste - denn so hatte sie sich ihren Beruf als Schauspielerin nicht vorgestellt." Mit dem Gerichtsurteil, das als "The de-Havilland-Decision" in die Filmgeschichte einging, "wurde die Macht der Studiobosse eingeschränkt, die Freiheit der Schauspieler gestärkt. Nach diesem Befreiungsschlag drehte sie 1946 gleich vier Filme, von denen ihr das Drama 'Mutterherz' den ersten Oscar einbrachte. Die Auszeichnung war für de Havilland nicht nur beruflich, sondern auch privat eine große Genugtuung."

Marli Feldvoss staunt in der NZZ über diesen "Ausnahmestar aus dem Golden Age der Studioära, deren Karriere sich wie von selbst entwickelte und ganz ohne Skandale auskam." Gerhard Midding führt in der Welt durch ihre großen Hollywood-Filme, an die sie nach dem Niedergang der Studio-Ära nicht mehr recht anschließen konnte.

Besprochen werden Keith Thomas' Horrorfilm "The Vigil" (Tagesspiegel), Uisenma Borchus "Schwarze Milch" (SZ, Perlentaucher, mehr dazu hier), Levan Akins "Als wir tanzten" (Jungle World), zwei Biopics über die Zeitgenossen und Konkurrenten Thomas Edison, gespielt von Benedict Cumberbatch, und Nicola Tesla, gespielt von Ethan Hawke (ZeitOnline), Gero von Boehms Kinoporträt "Helmut Newton - The Bad And The Beautiful" (Freitag, Presse) und die DVD-Box der Serie "The Outsider" nach einem Roman von Stephen King (SZ).
Archiv: Film

Literatur

Sein neuer Roman, aus dem es vorab eine ausgekoppelte Erzählung geben wird, handelt von dem Weltkriegsschauplatz Novi Sad, erzählt Clemens Meyer der Berliner Zeitung. Ein Stipendium in der Region hat die Wahl des Ortes begünstigt: "Ich begann zu forschen und stieß auf das Massaker vom Januar 1942. Dessen Besonderheit war, dass die Ungarn, die damals die Stadt besetzt hielten, ihre Opfer - Juden und Serben - unter das Eis der Donau steckten. Dafür wurden eigens in diesen Strom, der sonst nie zufriert, Löcher gesprengt. Es herrschten minus zwanzig Grad. Die Donau musste die Leichen alle aufnehmen. Dieses Bild hat mich sehr beschäftigt." Im Buch gibt es den "Mann im Wolfsmantel. Mehrere Figuren dieses Romanprojekts, das sich über Jahrzehnte erstreckt, haben immer wieder Berührungen zu einer Person. Bei mir heißt sie nur Dr. May, das ist Karl May, den ich zu einer literarischen Figur mache.".

Weitere Artikel: Junge Schriftstellerinnen wie Nora Gantenbrink, Ilona Hartmann und Janna Steenfatt begeben sich in ihren Romanen auf Vatersuche, ist Gerrit Bartels vom Tagesspiegel aufgefallen. Gaby Hartel stellt in der taz das WDR-Projekt "Walden" vor, bei dem 500 Menschen aus Thoreaus gleichnamigem Buch lesen. Im Tagesspiegel blickt Gerrit Bartels gespannt auf den September, in dem der Steidl Verlag eine edel gestaltete Werksausgabe Günter Grass veröffentlichen will.

Besprochen werden Nicolas Mathieus "Rose Royal" (NZZ, Freitag), Eva Sichelschmidts "Bis wieder einer weint" (Berliner Zeitung), Gerald Murnanes "Landschaft mit Landschaft" (Dlf Kultur), Joe Saccos neue Comicreportage "Wir gehören dem Land" über den Niedergang eines indigenen Volkes in Kanada (Berliner Zeitung), Iris Hanikas "Echos Kammern" (Tagesspiegel), Thomas Steinfelds "Italien" (ZeitOnline), Lily Bretts Kolumnenband "Alt sind nur die anderen" (Tagesspiegel), Andreas Schäfers "Das Gartenzimmer" (Tagesspiegel), Meena Kandasamys "Schläge" (Berliner Zeitung), Hanns Cibulkas "Sanddornzeit" (Freitag), Jessie Greengrass' Debütroman "Was wir voneinander wissen" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Nils Mohls Lyrikband "König der Kinder" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Michael Krüger über Zbigniew Herberts "An Yehuda Amichaj":

"Denn Du bist der König und ich nur der Herzog
ohne Land mit einem Volk..."
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Musik

Wie im Westen nahöstliche Musik vermarktet wird, bereitet dem Musikwissenschaftler Tayfun Guttstadt Magenschmerzen, wie er in der Zeit schreibt: Bemüht würden vor allem Klischees aus dem Fundus des Orientalismus. Neben dem Eurozentrismus haben diese Entwicklung aber auch nationalistische Kräfte in der Region durchaus begünstigt, als sie ihre klassische und ihre folkloristische Kultur forciert vermengten: So entstand eine verzerrte "Wahrnehmung eines gewaltigen Kulturerbes. Der Unterschied zwischen osmanischer Hofmusik und anatolischen Volksgesängen ist essenziell. Aufführungspraxis, soziale Stellung, der Anspruch an Musiker und Hörer sind grundverschieden. Eine Musik wie die klassische osmanische, die mit einem streng definierten System arbeitet, vornehmlich mit roher Emotion und Wüste zu assoziieren spricht jedenfalls nicht für einen vorurteilsfreien Blick auf die Welt. Andersherum drängt sich die Frage auf, ob es einer Musikkultur, die Beethovens Klaviersonaten hervorgebracht hat, tatsächlich an Emotionalität mangeln kann."

Weitere Artikel: Florian Bissig berichtet in der NZZ vom Festival da Jazz in St. Moritz. Die FAZ hat den Geburtstagsgruß der Sängerin Cecilia Bartoli an den Kritiker Jürgen Kesting online nachgereicht. Steffen Greiner spricht für die taz mit der Musikerin Inga über deren neues Album "Tears and Teeth". Für den Standard porträtiert Stefan Ender den Komponisten Walter Arlen. Für Pitchfork holt Nabil Ayers "I Against I", das dritte Album der Hardcorepunk-Pioniere Bad Brains aus dem Jahr 1986 wieder aus dem Plattenschrank. Andreas Busche (Tagesspiegel), Daland Segler (FR) und Thomas Steinfeld (SZ) schreiben Nachrufe auf den Fleetwood-Mac-Gitarristen Peter Green.

Besprochen werden Taylor Swifts neues Album "Folklore" (ZeitOnline, Standard, Pitchfork, mehr dazu bereits hier), Jarvis Cockers Comeback-Album "Beyond the Pale" (Jungle World, Presse), Arcas neues Album "KiCk i" (taz), Moshe Zuckermanns Buch "Wagner - ein ewig deutsches Ärgernis" (FR), Reiner E. Moritz' Kinodokumentarfilm über den Komponisten Anton Bruckner (FAZ) sowie ein Auftritt von Christian Naujoks und Robert Lippok (Berliner Zeitung).
Archiv: Musik