Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.11.2003. In der taz macht uns Gabriele Goettle mit einem melancholischen, "relativ frisch verlassenen" Graffiti-Experten bekannt. Die SZ stellt uns einen neuen Kollegen vor: die Larve. Die FR hat sich eine zärtliche Liebeserklärung von Rene Pollesch machen lassen. Die NZZ traut der deutschen Öffentlichkeit in Wissenschaftsfragen nicht viel zu. Im Fall Michael Jackson will die FAZ zwischen Exzentrik und Monstrosität unterschieden wissen. In der Berliner Zeitung bestreitet Götz Aly, dass der Begriff Holocaust auf die Verfolgung der Sinti und Roma zutrifft.

Berliner Zeitung, 24.11.2003

Der Historiker Götz Aly (mehr hier und hier) greift in den Streit um die Beschriftung des Berliner Mahnmals für die von den Nazis verfolgten Sinti und Roma ein. Der Begriff des Holocaust sei für diese Verfolgung nicht zutreffend, so Aly, denn die Sinti und Roma seien nicht so systematisch ermordet worden wie die Juden, und auch die Zahl der Toten müsse erheblich nach unten revidiert werden, von etwa einer halben Million auf unter 220.000: "Mancher mag den Sinn einer solchen Leichenarithmetik bezweifeln. Aber Geschichtsschreibung ist der Aufklärung verpflichtet. Sie hat zu ordnen und klarzustellen, nicht zu mythologisieren. Ihre Aufgabe besteht nicht in der moralischen Erschütterung.

So mussten Historiker vor 14 Jahren die Zahl der in Auschwitz Ermordeten von vier auf gut eine Million reduzieren; sie mussten feststellen, dass die Zahl der sowjetischen Kriegstoten, die Stalin einst mit acht Millionen angab, die von Chruschtschow festgesetzte Zahl von 20 Millionen noch deutlich übersteigt und etwa bei 27 Millionen liegt. Noch bis vor kurzem behauptete die Sudetendeutsche Landsmannschaft, bei der Vertreibung der Deutschen aus Böhmen und Mähren seien rund 400 000 Menschen zu Tode gekommen. Die tschechische Seite sprach von 'Massenselbstmorden deutscher Faschisten'. Nun hat die deutsch-tschechische Historikerkommission sehr überzeugend ermittelt, dass mindestens 15 000, höchstens 30 000 Deutsche ermordet wurden oder unter den Haft- und Transportbedingungen starben."

TAZ, 24.11.2003

Gabriele Goettle steigt über die "bequeme, leichte Mittelrinne" eines ausgetretenen Wiener Treppenhauses zu einem "stark melancholischen, relativ frisch verlassenen" Graffiti-Experten (sein Institut) empor: zu Norbert Siegl. Der redet über sein Fachgebiet, die rein importierte Ghettokultur. Und die angekündigte Melancholie ist irgendwie zu spüren in der folgenden 893-Zeilen-Reportage. "Und wir hatten eine Menge interessanter Vorträge und Gäste, unter anderem auch eine frühere Sprayerin, Bady Minck, sie war wahrscheinlich die erste weibliche Sprayerin Wiens. Sie sagte, wenn sie sich jetzt zurückerinnert, dann fällt ihr auf, dass die Tatorte fast immer solche Orte waren, an denen sich die städtebaulichen Schwächen am meisten manifestiert haben, sie nannte das 'die Wunden der Stadt', die sie mit ihren Spraydosen vielleicht gar nicht so sehr verschönert, sondern eher gekennzeichnet hat. Abgestorbene Stadtlandschaft, Parkgaragen, tote Giebel, wuchtige Brückenpfeiler, abweisende Mauerstreifen, Fußgängerunterführungen, elende, lange, stupide Fassaden, das ganze hässliche, menschenunwürdige, lieblose Ambiente hat sie niedergesprüht." Hier die Langversion ihres Vortrags.

Tobias Rapp beerdigt schon mal Michael Jackson, der als King of Pop in der Welt der Justiz nur untergehen kann. Steffen Grimberg wettert gegen die tariflichen Sparüberlegungen der Verleger, die unermüdlich die journalistische Qualität ihrer Zeitungen zu Grunde richten.

Auf der Medienseite springt ihm sein Kollege Thilo Knott bei, der die vom "Horrorszenario" entsetzten Gewerkschaften zu Wort kommen lässt. Und Christoph Schultheis fragt sich in seiner Kolumne, ob der Zinnober um Deutschlands größten Deutschen wirklich nötig ist.

SZ, 24.11.2003

Das Feuilleton widmet sich heute der allgegenwärtigen Krise. Julia Encke hat eine Studie gelesen, die einen neuen Typ des Arbeitnehmers ausgemacht hat - die Larve. "Die 'Larven' in den Unternehmen machen Dienst nach Vorschrift. Sie fallen nicht auf, halten den Kopf unten, geben keine Widerworte, stimmen mit der Mehrheit und verrichten ihre Arbeit dem äußeren Anschein nach zufriedenstellend. Sie sind melancholisch und natürlich frustriert." Michael Ott scheint keine Festanstellung zu haben, zumindest berichtet er über seine ersten Erfahrungen als Ich-AG. "Ich würde ab sofort morgens den Wirtschafts- statt den Sportteil lesen." Ansonsten hofft er auf die geplante "Ich-und-Du-AG".

Henning Klüver schildert den Historikerstreit in Italien über Bedeutung und Ausmaß der Racheverbrechen an Faschisten und Kollaborateuren in den ersten Monaten nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Andreas Zielcke sinniert über die Sprache des Terrors, die bestrebt ist, zwei Welten zu trennen, "und damit den ursprünglichen Zweck jeglicher Sprache auf den Kopf stellt". Holger Liebs spricht mit dem Kunsthändler Helge Achenbach kurz über dessen Rheingold-Gruppe, die finanzschwachen Museen Kunstwerke zur Verfügung stellt (etwa dem Museum in Mönchengladbach) und dafür nun Kritik erntet. Fritz Göttler wundert sich über die zahllosen Kritiken zu Mel Gibsons noch gar nicht fertiggestelltem Jesusfilm The Passion.

Till Briegleb erhofft sich von Hamburgs neuem Haus der Fotografie in Zukunft mehr als reine Sammelwut, ansonsten könnte man es auch wieder schließen. Jürgen Berger geht die Kandidaten für die Neubesetzung der Theaterleitung in Stuttgart und Bochum durch. Heiko Krebs resümiert eine Tagung zu "Exil und Emigration" in Prag. Und Ralf Berhorst fasst eine Berliner Diskussion zum Verbot von Maxim Billers "Esra" recht lakonisch zusammen: "Da gelingt dem Maxim Biller mal ein Roman und dann wird der verboten."

Auf der Medienseite führt Michael Jürgs durch die Sex-Skandale im Politikgeschäft. Auch in seiner diesbezüglichen Fernsehdokumentation wird er dann wohl feststellen: "Die Gesellschaft verzeiht normales Fremdgehen, weil ihr das selbst nicht fremd ist." Brillant. Rene Marten dokumentiert die Anfangsprobleme von raze.tv - dem neuen Kanal für Pferdewetten.

Besprochen werden Ronny Yus Horror-Killer-Duell Freddy vs. Jason, die Uraufführung von Moritz Rinkes suboptimaler Globalisierungsfarce "Die Optimisten", Sarah Kanes illusionslos inszenierte "Phaidras Liebe" und Hölderlins von Wanda Golonka klug abgesteckte "Antigone", beides am Schauspiel Frankfurt, und Bücher, darunter "Der König verneigt sich und tötet", ein Band mit den schönen und bedrohlichen Essays von Herta Müller, ein ausnahmsweise mal wirklich aktuelles Sängerlexikon von Manuel Brug sowie "Music and Nazism", ein Sammelband zur Musik im Nationalsozialismus (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 24.11.2003

"24 Stunden sind kein Tag", so schön pathetisch ist die vierteilige Soap betitelt, die Rene Pollesch in loser Anlehnung an sein gleichnamiges Theaterstück für 3sat produziert hat. Auf der Medienseite verteilt Florian Malzacher fast nur Lob dafür. "Die Psychologie, die er seinen Schauspielern auf der Bühne austreibt, beherrscht er, wie man hier sieht, perfekt: Der reinste Beziehungs-Schnitzler und Konstellations-Tschechow. Dass es Polleschs Figuren immer wieder gelingt, die Systeme in denen sie gefangen sind, in Menschlichkeit zu verwandeln, das ist vielleicht der größte Reiz seiner Arbeiten - und aus dem Diskurs wird plötzlich eine zärtliche Liebeserklärung."

Im mageren Feuilleton nutzt Mirja Rosenau die Zeilen von Times mager, um den nichtigen Grund des neuen Trends zur Kunst-Randale auszumachen: "Publicity um jeden Preis". Meldungen beschäftigen sich mit der einstweiligen Verfügung gegen Ivan Nagel, mit den neuen Schwierigkeiten bei der geplanten Fusion von Bundeskulturstiftung und der Kulturstiftung der Länder sowie mit der Auszeichnung Lutz Seilers mit dem 15.500 Euro schweren Bremer Literaturpreis 2004.

Auf der Medienseite wird zudem gemeldet, dass die staatliche italienische Fernsehanstalt RAI eine Satire-Sendung, in der Ministerpräsident Silvio Berlusconi kritisiert wurde, nach einer Folge abgesetzt hat. Die zweite Folge wird jetzt im Kino gezeigt (etwa hier).

Besprochen werden Moritz Rinkes neues Drama "Die Optimisten", von Matthias Hartmann am Schauspielhaus Bochum uraufgeführt, Wanda Golonkas ironielose Inszenierung von Hölderlins "Antigone" am Schauspiel Frankfurt, und Bücher, nämlich Madeleine Albrights stolze Autobiografie, Anne Applebaums umfangreiche Studie zum sowjetischen Gulag sowie Carmen bin Ladins Erinnerungen an ihre Jahre in Saudi Arabien, "Der zerrissene Schleier" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 24.11.2003

"Warum wir?" fragt sich der in Istanbul lebende Günter Seufert nach den Bombenattentaten und vermutet: "Das Terrornetzwerk will die muslimischen Länder als Block gegen den Westen in Stellung bringen. Eine im Westen integrierte Türkei jedoch bildet eine Brücke zwischen den zwei Welten, und ihr Sinnbild ist die alte Sultansstadt Istanbul, in der so viel westliches Leben steckt." Auch der türkische Schriftsteller Nedim Gürsel widmet sich der Frage, "wem die Anschläge von Istanbul gelten": "Stellen Sie sich nun einmal vor, dass ein zugleich islamisches und laizistisches, obendrein noch demokratisches Land den Eintritt in die Europäische Union schafft - und damit beweist, dass die Werte des Islam nicht unvereinbar mit denen der westlichen Demokratien sind. Das wäre ganz offensichtlich ein furchtbarer Dorn im Auge jener fundamentalistischen Kräfte, die eine solche Vereinigung als 'widernatürlich' betrachten und sie um jeden Preis zu verhindern suchen."

Weitere Artikel: Joachim Güntner kommentiert den "Fall" Gerhard Besier. Da der Direktor des Hannah-Arendt-Instituts sein Forschungsprojekt über Scientology infolge des über FAZ, SZ und Spiegel ausgeübten Drucks zurückzog, konstatiert er: "Die Wissenschaft kneift, der Alarmismus hat triumphiert. Mit dem Zutrauen in die Diskursfähigkeit der deutschen Öffentlichkeit ist es bei derartigen Fragen nicht weit her." In einem ganzseitigen Artikel resümiert Bahman Nirumand "alte und neue Zielsetzungen der islamischen Reformbewegung" leider nur in der Printausgabe. Marc-Christoph Wagner berichtet von kritischen Stimmen zur Kopenhagener Buchmesse, die sich zu einem wahren Publikumsmagneten entwickelt hat. Besprochen werden Moritz Rinkes Schauspiel "Die Optimisten" am Bochumer Schauspielhaus und das Gastspiel des Schwedischen Radio-Sinfonieorchesters in Zürich.

FAZ, 24.11.2003

Edo Reents erinnert im Fall Michael Jackson an die Unschuldsvermutung und verteidigt den Sänger gegen den Populismus der Medien: "Das Robuste, Maskuline ging Jackson immer ab, und bereits dieser Mangel wurde ihm als Schrulligkeit angekreidet. Die künstlichen Rüstungen, in die er sich zwängte, konnten ihn nicht schützen. Als wäre Exzentrik ein Straftatbestand, hält ihm die auf Monstrositäten versessene Öffentlichkeit, die früher seine Platten kaufte, kosmetische Eingriffe vor, als hätte nicht auch er das Recht auszusehen, wie er will..."

Weiterer Artikel: Stefan Klöckner, Professor für Liturgik (hier kann man ihn singen hären), macht sich im Aufmacher Sorgen um die Lage der katholischen Kirchenmusik. Jürg Altwegg schildert die schweizerische Empörung anlässlich eines Buchs von Stuart Eizenstat - Eizenstat hat vor einigen Jahren die Prozesse um die "nachrichtenlosen" jüdischen Vermögen aufgebracht. Das Cover seines Buchs ziert ein zum Hakenkreuz mutiertes Schweizerkreuz aus Gold. Christian Geyer mokiert sich in der Leitglosse über eine Äußerung der Landwirtschaftministerin Künast, die gefordert hat, man möge doch Produkte der Saison essen und das am besten en famille. Joseph Croitoru erzählt anlässlich der Istanbuler Anschläge eine kleine Geschichte des Selbstmordattentats. Gerhard Stadelmaier bedauert in einer bösen Kritik von Moritz Rinkes Stück "Optimisten" in Bochum, den Dramatiker einst als "kleinen Prinzen unter den deutschen Dramenschreibern" bezeichnet zu haben ("Seine frühen Stücke litten reizend darunter, dass sie nie richtig aufhören konnten. Rinkes neuestes Stück aber, 'Die Optimisten', leidet reizlos darunter, dass es überhaupt nicht anfängt.") Joseph Hanimann resümiert ein deutsch-französisches Treffen von Kulturpolitikern, die sich schworen, an der "diversite culturelle" festzuhalten. Ludger Fittkau klagt, dass im Elsass seit Jahrzehnten die Synagogen verfallen. Heinrich Wefing stellt das neue, von Renzo Piano entworfene Nasher Sculpture Center in Dallas vor.

Auf der Medienseite schildert Erna Lackner Auseinandersetzungen zwischen ORF und RTL um die neue Blödmanns-Show "Bachelor". Souad Mekhennnet resümiert arabische Pressreaktionen auf die Istanbuler Anschläge. Und Heike Hupertz porträtiert die amerikanische Fernsehjournalistin Diane Dimond, die ihre vornehmste Mission darin erblickt, Michal Jackson ins Gefängnis zu bringen.

Auf der letzten Seite freut sich Frank Pergande, dass eine monumentale barocke Passionsdarstellung im brandenburgischen Kloster Neuzelle nun restauriert wurde. Und Andreas Rossmann stellt die Missfits vor, ein nordrhein-westfälisches Komikerinnenpaar.

Besprochen werden eine Ausstellung über den mittelalterlichen Maler Duccio und Zeitgenossen in Siena, ein Konzert des Gitarristen John McLaughlin und seiner indischen Gruppe Shakti, Johan Maria Rotmans Kafka-Oper "Die sechste Stunde" in Meiningen und einige Sachbücher, darunter ein Bildband über Chinesische Propagandaplakate, ein weiterer Bildband über Jazz und Robert Jüttes Geschichte der Empfängnisverhütung.